Zwischen Geld- und Fiskalpolitik: die Rolle der EZB und ihre Unabhängigkeit

14. Januar 2022

Die Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) ist in erster Linie die Wahrung der Preisstabilität durch Geldpolitik in der Eurozone und damit auch die Sicherung des Euros. Im Euroraum bilden fiskalpolitisch unabhängige Nationalstaaten einen gemeinsamen Währungsverbund. Wirtschaftspolitisch führte diese Ausgestaltung dazu, dass wesentliche Bereiche in den Händen der Mitgliedsstaaten bleiben, während die Hoheit über geldpolitische Entscheidungen bei der EZB liegt. Jedoch können geldpolitische Entscheidungen nicht losgelöst von fiskalpolitischen Entwicklungen betrachtet werden.

Geldpolitik im Wandel der Zeit: Zentralbanken zwischen operativer und politischer Unabhängigkeit

In der Nachkriegszeit, bis in die späten 1970er, haben Zentralbanken durchaus auch offen Staatsfinanzierung betrieben und hielten in großem Ausmaß Staatsanleihen in ihrer Bilanz. Das war die Folge enger Koordination von Geld- und Fiskalpolitik, als Zentralbanken aktiv und explizit staatlich gelenkte Industrie- und Beschäftigungspolitik stützten.          
Mit der ideellen Durchsetzung des Monetarismus in den 1980ern wurden Stimmen lauter, die eine (vermeintliche) Unabhängigkeit der Zentralbanken forderten und Preisstabilität zum vorrangingen Ziel (z. B. gegenüber Vollbeschäftigung) erklärten. Dieser paradigmatische, aber auch strukturelle Wandel sollte verhindern, dass Staatshaushalte sich günstig verschulden bzw. „billiges Geld drucken“ konnten, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Praktisch hatte das zur Folge, dass Finanzmärkte wesentlich stärker über die Liquiditätsbedingungen auf Staatsanleihenmärkten und damit Refinanzierungskonditionen für ganze Volkswirtschaften bestimmten. Außerdem wurden auf Basis dieser Theorie und mit dem Ziel der „schwarzen Null“ destabilisierende Austeritätsmaßnahmen gerechtfertigt und umgesetzt.

Unter diesem Leitspruch und dem Mandat der Unabhängigkeit wurde im Jahr 1999 auch die EZB gegründet. Die formelle Unabhängigkeit der Zentralbank brachte mit sich, dass sie primär auf dem Interbankenmarkt agierte und somit für die Sicherung der Liquidität des privaten Finanzsektors zuständig war, während dieser wiederum durch die Kreditvergabe Unternehmen und (Staats-)Haushalte mit liquiden Mitteln ausstatten sollte. Der geldpolitische Wirkungskanal, der auch auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum abzielt, um Preisstabilität zu gewährleisten, lag und liegt somit operativ großteils in der Hand des privaten Finanzsektors.   

Dieser institutionelle Rahmen war aber nicht hinreichend, um die Stabilität der Staatsfinanzen und Finanzmärkte zu gewährleisten. Mit dem Beginn der Eurokrise kam es durch die wachsende Unsicherheit zu einem massiven Vertrauensverlust privater Finanzmarktakteur*innen und Investor*innen in die Güte gehandelter Anleihen. Die Nachfrage nach sicheren Finanzinstrumenten, also Staatsanleihen mit ihren impliziten staatlichen Garantien, stieg rasant an. Doch als wirklich „sicher“ gelten nur jene Staatsanleihen, die von der EZB kontrazyklisch gestützt werden – eine Tatsache, der sich auch die EZB nicht immer bewusst war und die fast zum Auseinanderbrechen der Eurozone geführt hätte, wie im Folgenden ersichtlich wird.

Anfänge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008: Zentralbankpolitik unter Präsident Trichet

Die Kunst des Zentralbankwesens wurde von der EZB nicht immer so gut beherrscht. Während der Krise, als alle auf der Suche nach Sicherheit waren, wurden nur die Anleihen reicherer Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschlands, als sicher angesehen, was niedrige Zinsen und liquide Märkte für diese bedeutete. Diese Länder konnten sich auch weiterhin günstig verschulden, die Nachfrage nach deutschen Staatsanleihen war groß. Gleichzeitig wurden die Anleihen von Peripherieländern zunehmend zu weit höheren Zinsen gehandelt, also als riskanter eingestuft, was höhere Verschuldungskosten und Volatilität – zusätzlich zu den realwirtschaftlichen Krisenkosten – zur Folge hatte. Die EZB, damals unter Präsident Jean-Claude Trichet, war befangen durch ihren Anspruch, unabhängig zu sein, und befeuerte dieses Marktversagen (und damit die mangelnde Liquidität der meisten Staatsanleihenmärkte in der Eurozone). Sie übernahm die Fehlbepreisungen des privaten Finanzmarkts für ihren eigenen Sicherheitenrahmen, was die Märkte prozyklisch destabilisierte und sichere Anleihen zur Mangelware erklärte. Die Eurozone schlitterte in Folge im Jahr 2010 von der Wirtschafts- und Finanzkrise in die Eurokrise.

Eurokrise 2010: Präsident Draghis „Whatever it takes“

Der divergenten Dynamik zwischen den Mitgliedsstaaten durch die Unsicherheit auf den Anleihenmärkten wurde erst Einhalt geboten, als der – nun neu amtierende – Präsident Mario Draghi prominent im Juli 2012 verkündete, „was immer es braucht“ zu tun, um die Eurokrise zu bekämpfen. Dies bedeutete übersetzt, dass die EZB sich bereit erklärte, hinreichende Liquidität für alle Staatsanleihenmärkte zu garantieren, indem sie diese Anleihen gegebenenfalls selbst handelte. Damit waren die Erwartungen der Marktakteur*innen stabilisiert, da sie sich notfalls – wenn sich am Finanzmarkt keine Käufer*in bzw. kein Preis finden ließe – an die EZB wenden konnten. Ohne jemals tatsächlich Anleihen strauchelnder Mitgliedsstaaten kaufen zu müssen, hatte die EZB mit der öffentlichen Verkündung das Risiko aus diesen Märkten genommen, und die Finanzierungskonditionen der Mitgliedsstaaten näherten sich einander wieder an. Sichere Anleihen waren ab sofort keine Mangelware mehr, und die Lage entspannte sich. Die EZB hatte gelernt, dass sie als „market maker“ letzter Instanz über Gedeih und Verderb der Eurozone entschied und dass womöglich die Wahrung ihrer Unabhängigkeit nicht so gut mit makrofinanzieller Stabilität zusammenpasste wie ursprünglich gedacht.

Corona-Krise 2020: Präsidentin Lagarde

Als geldpolitische Antwort auf die Corona-Krise behielt die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde den Kurswechsel ihres Vorgängers nicht nur bei, sondern trieb ihn weiter voran, indem sie bisher ungesehene Maßnahmen umsetzte. Aber nicht so schnell. Zuvor – Mitte März 2020, kurz nach Ausbruch der Krise – kündigte Lagarde noch an, sich nicht in Staatsanleihenmärkte einmischen zu wollen, weil das nicht Aufgabe der EZB sei. Nachdem sich auf den Märkten auf diese Ansage hin die Konditionen für die italienische Staatsverschuldung unmittelbar drastisch verschlechterten, reagierte Lagarde noch am selben Tag und nahm ihre Aussage wieder zurück. Sie hatte erkannt, dass, wenn es zusätzlich zur realwirtschaftlichen auch noch zu einer Staatsschuldenkrise käme, es der Eurozone das Genick brechen würde. Ab diesem Zeitpunkt kaufte die EZB auch Staatsanleihen der Peripherieländer, um die Finanzierung von erhöhten, krisenbedingten Ausgaben günstig zu halten, und sie tat dies, ohne jegliche fiskalpolitische Bedingungen an die Regierungen (z. B. wie in der Vergangenheit in Form von Austeritätsmaßnahmen) zu stellen.

Fazit

Geld(politik) ist keineswegs neutral, denn speziell langfristige Anleihen sind auf liquide Märkte angewiesen. In heutigen (marktbasierten) Finanzsystemen ist die Rolle von Staatsverschuldung nicht mehr lediglich, die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben zu decken. Staatsverschuldung und die damit einhergehende Anleihenausgabe ist hingegen notwendig, um die Nachfrage nach sicheren Anleihen von Finanzmarktakteur*innen während Krisen zu befriedigen. Wenn diese staatlichen Garantien fehlen, der Vertrauensverlust zu groß wird, würden moderne Finanzmärkte substanziell destabilisiert und irgendwann zusammenbrechen. Anleihenausgabe ist daher unumgänglich, nur die Konditionen der Verschuldung sind verhandelbar und abhängig vom institutionellen Rahmen. Dabei ist vor allem die Rolle der Zentralbank wichtig, denn wenn Geldpolitik nicht souverän ist (das heißt: die Zentralbank die Staatsfinanzen in der jeweiligen Regierung in eigener Währung nicht stützt), kommt es zu Volatilität und erhöhten Risikoprämien für Staatshaushalte. Mitgliedsstaaten wären geneigt, die Währungsunion zu verlassen. Geldpolitik entscheidet damit über die Finanzierungskonditionen und hat keine Möglichkeit, glaubhaft „unabhängig“ zu sein, ohne massiv die Finanzmarktstabilität zu gefährden.

Durch die genannten Gründe betreibt die EZB zwar indirekte Staatsfinanzierung – immerhin weist ihre Bilanz großteils Staatsanleihen auf wie zuletzt in den 1970ern –, allerdings diesmal unter einem demokratischen Defizit. Dies bedeutet auch, dass eine verbesserte Koordination zwischen Geld- und Fiskalpolitik unerlässlich ist, wenn in Zukunft längerfristige und auch umfassendere staatliche Investitionsmaßnahmen getätigt werden, um die Klimakatastrophe angemessen zu adressieren.

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