Decarbonise This! Ein EU-Industriegesetz für den Umbau zur Klimaneutralität

05. Juli 2023

Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Nicht nur um einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, sondern auch um Technologieführerin in der grünen Produktion zu werden, mit dem Ziel, langfristig Wertschöpfung, Beschäftigung und Wohlstand in Europa zu sichern. Darüber hinaus sollen die derzeit bestehenden strategischen Abhängigkeiten von Drittstaaten bei Rohstoffen und Komponenten reduziert werden, um Europa unabhängiger zu machen und damit auch die Versorgungssicherheit der europäischen Bevölkerung zu stärken. Doch wie plant die Europäische Kommission diese Ziele zu erreichen?

Made in Europe – 2030

Mit der Vorlage des Europäischen Grünen Industrieplans (GIDP) und dem Net-Zero Industry Act (NZIA), einer EU-Verordnung, will die Europäische Kommission die Weichenstellungen in Richtung einer grünen und klimaneutralen Zukunft der europäischen Industrie stellen. Der spezifische Fokus auf den produzierenden industriellen Bereich ist von besonderer Bedeutung für die Erreichung der Klimaziele, da ein wesentlicher Teil der Treibhausgasemissionen in Zusammenhang mit Produktionsprozessen entsteht. Der NZIA verfolgt dazu mehrere Stoßrichtungen gleichzeitig (einen Überblick gibt die Abbildung). Erstens sollen die Produktionskapazitäten für wichtige Technologien und strategisch wichtige Projekte in Europa deutlich ausgebaut werden. Zweitens soll die wirtschaftliche Koordination in Europa gestärkt und Innovation und Genehmigungsverfahren sollen beschleunigt werden. Drittens sollen über koordinierte Qualifizierungs- und Ausbildungsmaßnahmen die für den Umbau der Industrie benötigten Fachkräfte bereitgestellt werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Die Kommission will über den Umbau der Industrie mit der NZIA die industrielle Herstellung von Schüsseltechnologien in der Europäischen Union unterstützen. Dies betrifft insbesondere die „Netto-Null-Technologien“ Batterien, Windräder, Wärmepumpen, Solaranlagen, Elektrolyse, Netzinfrastrukturen sowie Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Die Fertigungskapazitäten in diesen Technologien sollen in den nächsten Jahren in Europa massiv ausgebaut und damit Europa unabhängiger von globalen Lieferketten werden. Im Jahr 2030 soll die Fertigungskapazität in diesen Märkten bei 40 Prozent des europäischen Bedarfs an grünen Technologien liegen.

Wie dies genau passieren soll, dazu hält sich die Kommission jedoch eher bedeckt. Eine explizite Verpflichtung zur Produktion in der Europäischen Union bzw. zum Kauf europäischer Produkte ist nicht vorgesehen. Auch ist keine Verpflichtung zur regionalen Produktion im Gegenzug zur Vergabe von Förderungen vorgesehen. Lediglich Anreize werden dafür geschaffen, etwa durch bessere Bedingungen für Investitionen, flexiblere Regeln für staatliche Beihilfen und die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Ob ein solcher, doch recht zurückhaltender, überwiegend angebotspolitischer Mechanismus ausreicht, um die angepeilten Produktionskapazitäten in Europa tatsächlich zu erreichen, ist fraglich. Vielmehr braucht es wohl ebenso eine gezielte Nachfragepolitik und, um eine solch ambitionierte Zielsetzung auch glaubwürdig erscheinen zu lassen, konkrete Pfade zum Auf- und Ausbau von Kapazitäten mit einem ordnungspolitischen Verpflichtungscharakter, festgelegten Zwischenzielen und einer Zielerreichungskontrolle.

Ohne Mitbestimmung funktioniert es nicht!

Damit ein rascher Umbau der Industrie funktionieren kann, müssen alle relevanten Stakeholder an einem Strang ziehen. Das verlangt nach einer aktiven Einbindung, insbesondere der Interessen der vom Umbau direkt betroffenen Beschäftigten, ihrer Vertretungen und der Zivilgesellschaft – seien es Aktivist:innen oder Anrainer:innen. Dies ist dringend notwendig, um die mit großen Veränderungen verbundenen Unsicherheiten und Ängste der Bevölkerung zu reduzieren und so weit wie möglich aufzufangen bzw. aufzulösen. Nur gemeinsam wird es möglich sein, die notwendigen Übergangspfade zu entwickeln und anschließend auch Realität werden zu lassen. Der Net-Zero Industry Act in seiner Entwurfsfassung verfehlt hier seinen Anspruch der Gestaltung des Umbaus, da die Einbindung der EU-Sozialpartner nur an wenigen Stellen Berücksichtigung findet. In wesentlichen neu einzurichtenden Steuerungs- und Koordinierungsgremien, wie zum Beispiel die „Net-Zero Industry Plattform“, ist der Einbezug der EU-Sozialpartner nur auf Einladung und nicht in einer gleichberechtigen Rolle mit Kommission und Industrie vorgesehen.

It’s (social) innovation, stupid!

Forschung, Innovation und Technologieentwicklung kommen im Aufbau, der Marktfähigkeit und der Marktdurchdringung von grünen Technologien eine bedeutende Rolle zu. Dabei spielen nicht nur technische und Produkt-Innovation, sondern ebenso Prozess-Innovation und nicht zuletzt soziale Innovation eine wichtige Rolle. Der öffentliche Sektor muss dahingehend aktiv gestalten. Gerade in gesellschaftlichen Umbauprozessen ist der Fokus auf die betroffenen Menschen besonders bedeutend, denn sie sind es, die ihr Know-how, ihre Fähigkeiten und ihre Arbeitsleistung in den Prozess einbringen. Der Aufbau einer umfassenden klimaneutralen Industrie braucht dahingehend eine den Prozess unterstützende missionsorientierte und zielgerichtete FTI-Politik. Dazu bedarf es einer verstärkten Kooperation und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten.

Der Net-Zero Industry Act sieht vor, den dafür zuständigen Behörden die Einrichtung von sogenannten „regulatorischen Sandkästen“ zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um begrenzte Räume, in denen neue Technologien realitätsnah getestet werden können und dafür bestimmte regulatorische Freiräume gewährt werden. Aus einer innovationspolitischen Sicht macht das Zulassen solcher Experimente Sinn und kann durchaus dazu beitragen Innovation stärker voranzutreiben. Der NZIA bleibt jedoch sehr vage bei den Kriterien, die ein Projekt als „regulatorischen Sandkasten“ qualifizieren. Eine solche Unbestimmtheit ist mit nicht zu vernachlässigenden Gefahren verbunden. Neben einer wettbewerbsverzerrenden Wirkung birgt sie auch die Gefahr, regulatorische Arbitrage zu erhöhen. Darüber hinaus können sie, wenn sie schlecht konzipiert sind, wesentliche regulatorische Qualitäts- oder Schutzstandards, etwa hinsichtlich des Arbeits- oder Umweltrechts, konterkarieren. Aus diesem Grund braucht es bei der Einführung von „regulatorischen Sandkästen“ eine umfassende und unabhängige Begleitevaluierung. Außerdem darf die in den „regulatorischen Sandkästen“ gewonnen Erkenntnisse und Innovationen nicht durch geistige Eigentumsrechte weiteren technologischen und gesellschaftlichen Anwendungen entzogen werden.

„Give me your money!“ – Förderungen ohne Konditionen?

Der Umbau der Industrie in Richtung Klimaneutralität geht mit einem hohen Bedarf an Fördersummen aufgrund der Pfadunsicherheiten und den hohen anfänglichen Investitionen einher. Dabei geht es bei der Dekarbonisierung der Produktionsprozesse und der Geschäftsmodelle nicht nur um eine rein umweltpolitisch gesehene Reduktion der Emissionen und des Ressourcenverbrauchs. Ebenso geht es um die Veränderung der Arbeits- und Betriebsorganisation. Daher ist bei der Vergabe von großen öffentlichen Fördergeldern und anderen Maßnahmen zur Erleichterung bzw. Beschleunigung von Genehmigungsprozessen nicht nur auf die betrieblichen Einzelinteressen zu achten. Die Interessen der Beschäftigten sowie die Steuergemeinschaft müssen über klare und strikte Kriterien zur Fördervergabe einbezogen werden. Solche Kriterien umfassen unter anderem Standort- und Beschäftigungsgarantien, betriebliche Transformationspläne, Qualifizierung und Weiterbildung etc.

Der Staat schafft an

Der Staat ist im Zusammenhang mit der Erreichung der Klimaziele nicht nur bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen (z. B. Subventionen und Steuern, Umweltstandards, Ge- und Verbote) ein bedeutender Akteur. In Zusammenhang mit seinen vielfältigen Aufgaben (u. a. Daseinsvorsorge, Gesundheits- und Bildungsbereich, Öffentliche Verwaltung, Sicherheit) vergibt er Aufträge und führt eine Reihe von wirtschaftlichen Tätigkeiten aus. Dadurch werden enorme Mengen an Treibhausgasemissionen verursacht. Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) im Auftrag der Arbeiterkammern Niederösterreich und Wien belegt diesen Zusammenhang deutlich.

Die öffentliche Beschaffung hat neben den weltweiten Treibhausgasemissionen auch eine Wirkung auf Wertschöpfung und Beschäftigung entlang der nationalen und internationalen Lieferketten. Daher gilt es auf jeder Ebene der Wertschöpfungsketten ökologische und soziale Kriterien zu berücksichtigen. Es braucht gerade für die Transformation der Wirtschaft EU-weit verbindliche Standards für eine öffentliche Beschaffung, die soziale, ökologische und regionalökonomische Kriterien ins Zentrum stellt.

Um dies zu erreichen, müssen die EU-Vergaberichtlinien dringend reformiert werden. Für die Transformation ist es erforderlich, eine sozial-ökologische öffentliche Beschaffung sicherzustellen und auf hohem Niveau rechtssicher zu harmonisieren. Es ist längst fällig, dass die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Kriterien bei der Eignungsprüfung (Energie- und Materialeffizienz, Abfall- und Emissionsvermeidung etc.) sowie beim Zuschlag (z. B. Bodenschutz, Tierschutz, Beschäftigung benachteiligter Personengruppen, Lehrlingsausbildung, nachhaltige Beschäftigungsdauer im Betrieb etc.) verpflichtend sind und nicht zuletzt, dass die Vergabe rein nach dem Billigstbieterprinzip verworfen wird. Eine effektive Auftraggeberhaftung sollte dringend eingeführt werden. Und: Sofern ein Unternehmen einen Nachhaltigkeitsbericht gemäß den neuen Anforderungen der EU-Richtlinie „Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) erstellen muss, ist dieser Bericht dem Angebot beizuschließen bzw. der Ort der Veröffentlichung anzugeben.

Re-Everything!

Dekarbonisierung und eine Steigerung der strategischen Autonomie Europas wird nur möglich sein, wenn massive Anstrengungen unternommen werden, um eine europäische Kreislaufwirtschaft aufzubauen. Dies wird unmittelbar einsichtig, wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Anteil – die Kommission beziffert ihn mit 50 Prozent – etwa die Gewinnung und Verarbeitung von Ressourcen an den gesamten Treibhausgasemissionen aufweist. Klimaneutralität und Ressourceneffizienz hängen somit unmittelbar zusammen. Es muss gelingen, den Einsatz von Ressourcen in unserer Wirtschaft erheblich zu reduzieren. Die Anstrengungen der Kommission und insbesondere der einzelnen Mitgliedstaaten gehen hierzu sicherlich noch nicht weit genug. Dazu braucht es nicht nur Anreizsysteme, sondern eine bessere Regulierung, welche auch hält, was sie verspricht. Es gilt der Leitsatz: Refuse, Reduce, Repair, Re-use, Re-furbish, Re-purpose und Recycle!

Der Net-Zero Industry Act geht im Bereich der Kreislaufwirtschaft eindeutig nicht weit genug und schafft deshalb nicht die notwendigen Anreize und Regulierungen, um den dringend notwendigen und raschen Aufbau der europäischen Kreislaufwirtschaft tatsächlich in Umsetzung zu bringen. Um Kreislaufwirtschaft erst zu ermöglichen, braucht es jedenfalls Transparenzregeln über die materielle Zusammensetzung von Produkten sowie Regelungen, die den Rahmen schaffen, damit Produkte auch wieder in ihre Einzelkomponenten zerlegt und wiederaufbereitet werden können.

Schrödingers Fachkraft

Einen besonderen Schwerpunkt im Net-Zero Industry Act legt die europäische Kommission aufgrund der Dringlichkeit des Umbaus hin zur Klimaneutralität auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Kompetenzen, um die benötigten Fachkräfte bereitzustellen. Dem Net-Zero Industry Act scheint dabei die Erwartungshaltung zugrunde zu liegen, dass ein Beitrag zur Förderung von Aus- und Weiterbildungsangeboten per se zu Gewährleistung hochwertiger Arbeitsplätze führen würde. Ein solcher Zugang blendet die Funktion des Arbeitsrechts, durch Rechte der Beschäftigten zur Stärkung der Position der Arbeitnehmer:innen und damit auch der Qualität von Arbeit (und Leben) beizutragen, aus. In dieser Form würde der Verordnungsentwurf daher zugleich eine essenzielle Möglichkeit der EU-Industriepolitik unangetastet lassen: nämlich industriepolitische Steuerungs- und Anreizinstrumente auch dafür einzusetzen, eine hohe Qualität der Arbeitsplätze in der Industrie zu gewährleisten und Machtungleichgewichte zwischen ökonomischen Akteur:innen abzumildern.

Darüber hinaus ist zu erwarten, dass durch den Strukturwandel bestehende Qualifikationen und Fähigkeiten durch den Umbruch und die Neuorientierung der wirtschaftlichen Schwerpunkte ent- oder abgewertet werden, während andere Qualifikationen und Fähigkeiten am Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen. Demnach ist es unzureichend, dass sich die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen für die notwendige Aus- und Weiterbildung auf bereits Bestehendes beschränken. Im Sinne der arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Gestaltung des Umbaus besteht allein aufgrund des immensen Ausmaßes und der notwendigen umfassenden Bildungs- und Qualifizierungsnotwendigkeiten zusätzlicher Mittelbedarf. Die bestehenden Mittel werden für diese große Aufgabe sicherlich nicht ausreichen. Ob neu einzurichtende „Net-Zero Academies“ ausreichen, um auf der mitgliedsstaatlichen Ebene zu koordinierten Initiativen und einer Aufstockung der Mittel zu führen, darf bezweifelt werden.

Was bleibt vom Weg zur klimaneutralen europäischen Industrie?

Mit dem Net-Zero Industry Act versucht die Kommission die im Green Deal Industrial Plan als notwendig erachteten wirtschafts- und industriepolitischen Maßnahmen in die Umsetzung zu überführen und damit neuartige, grüne bzw. saubere Technologien und Produktionsweisen zu unterstützen. Sie entwickelt dazu ein Spektrum an wirtschaftsfördernden Maßnahmen, schöpft jedoch ordnungs- und nachfragepolitische Möglichkeiten nicht aus. Unberücksichtigt bleibt, dass die Gesellschaft durch die Förderung von Net-Zero Technologien nicht nur mit einem technologischen, sondern auch mit einem sozialen Strukturwandel konfrontiert ist. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen, realistischen, aber auch gerechten Übergang zur klimaneutralen europäischen Industrie sind noch viele weitere Schritte zu gehen.