Kehrtwende der EU-Kommission: Politische Prioritäten sehen nun einen Vorrang für KMU vor

19. Dezember 2023

Mit ihren jüngsten Statements, unter anderem in der Rede zur Lage der Union, sorgt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für Befremden bei Arbeitnehmer:innen- und Nichtregierungsorganisationen. Während zu Beginn der EU-Legislaturperiode gesellschaftspolitische Themen wesentlich stärker berücksichtigt wurden als von den Kommissionspräsidenten in den 15 Jahren davor, vollführt Ursula von der Leyen nun eine 180-Grad-Kehrtwende. 2024 gilt wie schon einmal zehn Jahre zuvor: „Vorfahrt für Klein- und Mittelunternehmen“.

Vom Paulus zum Saulus

Zu Beginn der Amtsperiode von Ursula von der Leyen standen mit den Gesetzen zum Grünen Deal, digitalen Dienstleistungen, zur Plattformarbeit und dem NextGenerationEU-Konjunkturpaket noch beschäftigungs-, verbraucher:innen- und gesellschaftspolitisch wichtige Themen im Zentrum der Bemühungen. Die jahrelange Narrenfreiheit für einige Unternehmen in vielen Politikbereichen konnte mit den neuen EU-Gesetzesinitiativen zumindest etwas reduziert werden.

Als Teil ihrer Prioritäten hob von der Leyen aber schon als nominierte Kommissionschefin Ende 2019 hervor, dass es eines ihrer Ziele ist, „gesetzliche Belastungen“ für Unternehmen und Menschen zu reduzieren. Es folgte die Vorstellung des „One in, one out“-Prinzips (OIOO), wonach für jedes neue EU-Gesetz ein bestehendes gestrichen werden soll. Eine Studie, die von der Arbeiterkammer Wien in Auftrag gegeben wurde, zeigt hingegen deutlich, dass ein an der Anzahl von Gesetzen ausgerichtetes Ziel deutlich negative Effekte hätte, weil der Nutzen von Rechtsnormen für die Gesellschaft kaum berücksichtigt wird.

Initiativen zur Beschäftigungs- und Umweltpolitik zu Verwaltungslasten erklärt

Welchen Weg der OIOO-Grundsatz nun nimmt, zeigt sich im Rahmen der Umsetzung dieses Prinzips: Im sogenannten Annual Burden Survey 2022 geht die EU-Kommission darauf ein. Erstmals wurde das Prinzip 2022 auf alle neuen EU-Rechtsvorschläge angewandt. Nach der von Arbeitnehmer:innen- und Zivilgesellschaftsorganisationen schon 2019 und 2020 laut gewordenen Kritik bemüht sich die Europäische Kommission mittlerweile, Formulierungen zu verwenden, die auch die Gesellschaft miteinschließen. So geht es nun offiziell nicht mehr nur um Belastungen für kleine und mittlere Unternehmen, die berücksichtigt werden sollen, sondern auch um jene der Zivilgesellschaft. Zudem wird erwähnt, dass der Nutzen von Gesetzen mitberücksichtigt wird.

Die Kommissionsanalyse zu den einzelnen Politikbereichen, die unter dem OIOO-Prinzip vorgenommen wurde, lässt jedoch zum Teil erhebliche Zweifel darüber aufkommen, ob der Nutzen auch wirklich entsprechend hoch gewichtet wird. Auffallend ist, dass alle Aufwendungen direkt als Verwaltungskosten subsumiert werden, egal ob es sich um Umweltinvestitionen oder beispielsweise Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmer:innen handelt.

Die höchsten „Verwaltungskosten“ zeigen sich laut EU-Kommission bei neuen EU-Gesetzen zum Grünen Deal. Zwar wurde hier ein Nutzen von geschätzten 387 Mio. Euro jährlich ermittelt. Dem stehen laut Kommission jedoch Kosten von 2,35 Mrd. Euro gegenüber. Daraus ergibt sich für die Kommission eine „Verwaltungslast“ durch den Grünen Deal von 1,96 Mrd. Euro. Im Bereich des Arbeitnehmer:innenschutzes führt die Kommission bei einem neuen Gesetz, das vor gesundheitlichen Belastungen durch Asbest schützen soll, Netto-Verwaltungskosten von 33 Mio. Euro jährlich an. Inwiefern hingegen der Nutzen dieser Regelung einkalkuliert wurde, ist nicht ersichtlich: Dieser müsste etwa gesundes, arbeitsfähiges Personal, ein damit verbundenes Steuer- und Pensionsbeitragsaufkommen und geringere Ausgaben im Gesundheitsbereich umfassen.

Positiv äußert sich die Kommission bei der Digitalisierung: Hier ergeben sich Nettoeinsparungen in Höhe von 4,19 Mrd. Euro. Aufgrund einer Gesetzesinitiative zur „Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter“ seien weitere Einsparungen in Höhe von 4,7 Mrd. Euro möglich.

Allerdings: Ein System, das sich vor allem danach orientiert, Kosten, die einen Nutzen für die Gesellschaft haben, als Verwaltungskosten zu bezeichnen, ist höchst problematisch. Das sollte der Europäischen Kommission allerspätestens beim Punkt „Kampf gegen sexuellen Missbrauch bei Kindern“ bewusst werden: Den hat die Behörde jedoch bloß lapidar mit 82,5 Mio. Euro an Verwaltungskosten beziffert.

In Summe kommt die Kommission jedoch auf Nettoeinsparungen durch OIOO in Höhe von 7,3 Mrd. Euro – geschuldet vor allem den Digitalisierungsinitiativen.

„Verwaltungskosten“ und Einsparungen durch das „One in, one out“-Prinzip in 2022 (in Mio. €)

PolitikbereichAnzahl der neuen EU-GesetzeKostenErsparnisseDifferenz
Europäischer Grüner Deal152.352,3-387,41.964,9
Digitales Zeitalter131.899,8-6.090,1-4.190,2
Wirtschaft für die Menschen985,9-4.862,3-4.776,4
Stärkeres Europa in der Welt0000
Förderung der europäischen Lebensweise9130,9-377,3-246,4
Förderung der europäischen Demokratie60,6-63,9-63,3
Gesamt524.469,4-11.780,9-7.311,5

Quelle: Europäische Kommission, Annual Burden Survey 2022

Ein neues Entlastungspaket für KMU

Ähnlich besorgniserregend wie das OIOO-Prinzip ist eine neue Kommissionsmitteilung mit dem Titel „Entlastungspaket für KMU“. In dem neuen Dokument betont die Kommission, dass sie sich für ein unternehmensfreundliches Regelungsumfeld einsetzt. Im Text stellt die Kommission unumwunden fest, dass sie „bestimmte Arten von KMU-freundlichen Bestimmungen systematisch berücksichtigen wird“.

Die Unterstützung für KMU hört an dieser Stelle jedoch noch lange nicht auf. Die Arbeiterkammer hat bereits über das Gremium „Ausschuss für Regulierungskontrolle“ (RSB) berichtet: Dieses hat die Möglichkeit, einen neuen Gesetzesvorschlag der Europäischen Kommission zu bewerten, noch bevor er den eigentlichen Gesetzgebern, dem Europäischen Parlament und dem Rat, vorgelegt wird. Das RSB kann einen Vorschlag sogar an die Kommission zurückverweisen und so die Gesetzgebungsarbeit wesentlich verzögern und Anpassungen in ihrem Sinne einfordern. Gesetze könnten in der Folge sogar ad acta gelegt werden. Das RSB betont gerne, dass es seine Aufgaben unabhängig von äußeren Einflüssen ausübt. Die Kommission nimmt es damit jedoch nicht mehr ganz so genau: Die Kommission wird nun einen eigenen KMU-Beauftragten ernennen, der „unbeschadet der Arbeitsweise und Unabhängigkeit des Ausschusses Probleme zur Sprache bringen und den Ausschuss auf erhebliche negative Auswirkungen auf KMU“ aufmerksam machen kann. Das RSB-Gremium wird außerdem künftig dazu verpflichtet, die Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt ihrer Beurteilung bei neuen Gesetzesvorhaben zu stellen.

Das neue Arbeitsprogramm der Kommission als Vorbote für eine neue politische Agenda

Im neuen Arbeitsprogramm für 2024 schlägt die EU-Kommission vor, zahlreiche Berichtspflichten zu streichen. Der Europäische Gewerkschaftsbund warnt hingegen vor unüberlegten Streichungen derartiger Regelungen: Damit könnten zum Teil erhebliche Auswirkungen auf Gewerkschaftsrechte und den Arbeitnehmer:innenschutz verbunden sein. Und er nennt als Beispiel die Umsetzung der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Nach den Vorstellungen der Kommission soll aber genau dieser Rechtsakt vorerst um zwei Jahre nach hinten verschoben werden. Sorgen kommen in diesem Zusammenhang auch bei den Arbeiten zum Lieferkettengesetz auf, das zahlreichen KMU-Vertreter:innen ein Dorn im Auge ist. Gleichzeitig wird die Kommission aber nicht müde zu behaupten, dass Sozial-, Verbraucherschutz-, Sicherheits-, Umwelt- oder wirtschaftliche Standards nicht abgesenkt werden sollen. Mit dem Hinauszögern von gesellschaftspolitisch sensiblen EU-Gesetzen dürften mehrere EU-Entscheidungsträger:innen darauf spekulieren, dass eine Entscheidung darüber erst in der nächsten Legislaturperiode erfolgt. Und wie es Prognosen zur EU-Wahl 2024 prophezeien, könnte es dann eine Mehrheit für jene politischen Kräfte geben, denen diese Standards ein Dorn im Auge sind.

Die Kommission möchte außerdem den Kreis von Unternehmen ausweiten, die als KMU gelten und daher nicht von umfassenderen (Berichts-)Pflichten für große Unternehmen erfasst sind. Derzeit sind ohnehin bereits 99,8 Prozent der Unternehmen nach der gültigen EU-Definition Klein- und Mittelunternehmen. Die Kommission spricht nun u. a von kleinen und großen Mid Caps, die bis zu 499 bzw. bis zu 1.499 Beschäftigte haben. Das lässt erahnen, in welche Richtung die Neudefinition gehen könnte: Letztlich könnten so gut wie keine Großunternehmen mehr übrig bleiben, für die die EU-Gesetze vollumfänglich gelten. Davon wären wohl auch Beschäftigungs-, Sozial-, Verbraucher:innenschutz- und andere Standards negativ betroffen.

Sollte es nicht noch zu einer Überraschung bei den EU-Wahlen 2024 kommen, ist damit zu rechnen, dass viele der gesellschaftspolitischen Fortschritte, die in den letzten Jahren erreicht werden konnten, wieder rückgängig gemacht werden – nicht zuletzt auch zum Nachteil von Beschäftigten und der Gesellschaft.

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