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Stufe eins, die Eventualfallplanung, dient der Errichtung geeigneter Strukturen für ein Frühwarnsystem. So sollen Krisenprotokolle erstellt werden und mit Schulungen und Simulationen die Reaktionen in Krisenfällen erprobt werden. Werden reale Probleme am Binnenmarkt festgestellt, wird Stufe zwei – die sogenannte Binnenmarktüberwachung – ausgelöst. Lieferketten von strategisch wichtigen Waren und Dienstleistungen werden dann verstärkt überwacht und Reserven aufgebaut. Bei einer akuten Krise kommt die dritte Stufe – der Binnenmarktnotfall – zur Anwendung. Bei Waren und Dienstleistungen, die nicht oder nur schwer beschafft werden können, erhalten Mitgliedstaaten Empfehlungen hinsichtlich der Beschaffung betroffener Waren und Dienstleistungen. Von Unternehmen können konkrete Informationen bezüglich kritischer Güter eingefordert werden. Eingriffe des Staats sind in dieser Situation möglich, die unter anderem bis hin zur Umwidmung von Produktionsanlagen und der Aufforderung an Betriebe zur Durchführung von vorrangigen Bestellungen gehen.
Eine Beratungsgruppe, bestehend aus Vertreter:innen der Kommission und der Mitgliedstaaten, berät die EU-Kommission in den jeweiligen Stufen. Beobachter:innen wie die Sozialpartner, aber auch Wirtschaftsteilnehmer und Vertreter:innen des EU-Parlaments können dieser beratenden Gruppe hinzugezogen werden.
Hauptakteurin beim Dreistufenplan soll jedoch die EU-Kommission selbst sein: Im vorgelegten Vorschlag gibt sich die EU-Kommission weitreichende Befugnisse zum Erlass von delegierten und Durchführungsrechtsakten zur Aktivierung der Stufen und dem Setzen einzelner Maßnahmen. Aus demokratiepolitischen Überlegungen heraus ist dieses Vorgehen als höchst bedenklich einzustufen.
Arbeitnehmer:inneninteressen nicht der Rede wert?
Bereits bisher war im Bereich der EU-Binnenmarktpolitik festzustellen, dass Arbeitnehmer:innen- und Gemeinwohlinteressen gegenüber den Marktfreiheiten nachrangig behandelt werden. Besonders die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu Viking und Laval machten das deutlich.
Das neue Gesetzespaket zu SMEI ist aus Sicht von Gewerkschaften und der Arbeiterkammer jedoch als brandgefährliches trojanisches Pferd zu bewerten, das eine unmittelbare Gefährdung von Grund- und Arbeitsrechten darstellt: Denn die geplanten Regelungen drohen das Streikrecht sowie arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen infrage zu stellen: So wird durch den neuen Rechtsvorschlag die sogenannte „Erdbeer-Verordnung“ ersatzlos gestrichen. Diese regelte bislang das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr und enthielt in Artikel 2 eine explizite Bestimmung zum Schutz von in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechten, wie insbesondere dem Recht auf Streik.
Außerdem sieht der Vorschlag vor, dass im Krisenmodus strenge Anforderungen an neue Beschränkungen am Binnenmarkt gestellt werden. Problematisch ist hierbei, dass in der EuGH-Judikatur der Begriff der Beschränkungen sehr weit ausgelegt wird: Demnach wäre fast das gesamte Arbeits- und Sozialrecht potenziell als eine solche Beschränkung erfasst.
Auch die derzeit viel zu weit gefasste Definition des Begriffs Krise als „außergewöhnliches unerwartetes und plötzliches natürliches oder vom Menschen verursachtes Ereignis von außerordentlicher Tragweite“ könnte von manchen geradezu als Aufforderung zu Einschränkungen des Streikrechts (miss)verstanden werden. Hier ist klar festzuhalten: Ein unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisierter Streik darf niemals unter die Definition von Krise fallen.
Aus all diesen Gründen kritisieren Arbeitnehmer:innenorganisationen wie der Europäische Gewerkschaftsbund den Kommissionsvorschlag heftig.
Zudem ist die Zusammensetzung der Beratungsgruppe mit Skepsis zu sehen. Die Entscheidungen werden von Vertreter:innen der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission getroffen. Die Sozialpartner und andere haben nur einen Status als Beobachter:innen. Gerade die Mitglieder der Sozialpartner stehen in der Frage des Binnenmarkts aber in der Mitte des Geschehens und müssen daher aus Sicht der Gewerkschaften und Arbeiterkammer mit Stimmrecht voll eingebunden werden.
Grund- und Arbeitsrechte in Krisenzeiten stärken!
Der Vorschlag zum Notfallinstrument im Binnenmarkt zeigt eines ganz deutlich: Erneut wird das neoliberale Modell des freien Binnenmarkts ins Zentrum gerückt und alles im Umfeld davon angepasst. Die soziale Dimension in Krisenzeiten wird völlig außer Acht gelassen: Der Entwurf geht mit keinem Wort darauf ein, dass gerade in Krisen der Druck auf sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen ansteigt und damit ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht, sichere und gute Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer:innen aufrechtzuerhalten. Die Absicherung des Streikrechts spielt dabei eine zentrale Rolle, ermöglicht es Arbeitnehmer:innen doch erst, nachdrücklich für Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen einzutreten.
Was es braucht, ist eine grundlegende Neuausrichtung der EU-Binnenmarktpolitik, die ihre einseitige Schieflage zugunsten von Wirtschaftsinteressen aufgibt und sich am Wohlergehen aller orientiert. Und gerade in Krisenzeiten gilt es, arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen zu stärken und nicht auszuhöhlen. Solange diese Forderungen nicht berücksichtigt werden, wird auch die ablehnende Haltung der Arbeitnehmer:innenorganisationen zum neuen Kriseninstrumentarium der EU-Kommission – völlig berechtigt – bestehen bleiben.
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