Jörg Flecker hat die Folgen europäischer Liberalisierungspolitik jahrelang analysiert. Einige Erkenntnisse seiner Forschungsarbeit hat er im Buch “Reclaim Public Services” veröffentlicht. Im Interview mit blog.arbeit-wirtschaft.at spricht Jörg Flecker über die negativen Folgen der europäischen Liberalisierungspolitik für die Beschäftigten, die Bürgerinnen und die Gesellschaft. Er argumentiert, warum die negativen Effekte, nur scheinbar unbeabsichtigt sind und welche österreischichen Spezifika die Debatte aufweist.
Sie haben die Folgewirkungen europäischer Liberalisierungspolitik der letzten Jahrzehnte analysiert. Was sind die zentralen Effekte für die Beschäftigten ?
Die wichtigsten Folgen der Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sind der Verlust von Arbeitsplätzen, die gestiegene Unsicherheit der Beschäftigung, Rationalisierung und damit mehr Druck auf die ArbeitnehmerInnen sowie weniger Zeit für die Beschäftigten, auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger einzugehen. Die neue “Kundenorientierung” kann zwar gegenüber der obrigkeitsstaatlichen Bürokratie als Verbesserung der Qualität angesehen werden. Aber mit der Kommerzialisierung der Dienste sind Umsatz und Gewinn und damit das Verkaufen in den Vordergrund gerückt, während die jeweiligen Organisationen und Unternehmen nicht mehr auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Wie wir in unserem Buch “Im Dienste öffentlicher Güter” beschrieben haben, wurden nicht nur die Interessen der Beschäftigten als ArbeitnehmerInnen, also im Hinblick auf Einkommen, Arbeitszeit, Sicherheit und Gesundheit, sondern auch ihre inhaltlichen Ansprüche an die Arbeit und die Versorgung der BürgerInnen beeinträchtigt. Und für die langjährig Beschäftigten, die sich mit ihrer Arbeit stark identifizieren, tut sich eine Falle auf: Sie versuchen die Verschlechterungen für die Patienten, Klienten, Kunden oder BürgerInnen durch mehr persönlichen Einsatz hinanzuhalten – eine gefährliche Strategie, wie die häufige Betroffenheit von Burnout zeigt. Höchst problematisch ist auch die Fragmentierung der Beschäftigung. Damit ist gemeint, dass die Stelle der einheitlichen Arbeitsbeziehungen und Beschäftigungsformen im öffentlichen Dienst eine große Vielfalt von Vertragsformen, Einkommenshöhen und Beschäftigungsbedingungen getreten sind. Neu eingestellte Beschäftigte haben meist schlechtere Bedingungen als altgediente, die Bedingungen bei Subauftragnehmern sind ungünstiger als bei den Großunternehmen, die ehemaligen Monopolunternehmen bieten den langjährig Beschäftigten deutlich bessere Bedingungen als die Unternehmen, die neu auf den Markt kommen. Meist fehlt es an Branchenkollektivverträgen, welche die Konkurrenz zwischen den Unternehmen regeln, wie das in Österreich sonst meist der Fall ist. Damit können sich die Firmen in diesen arbeitsintensiven Branchen durch Absenken der Löhne bei den Preisen unterbieten. Speziell bei den Postdienstleistungen haben wir es vielfach mit höchst prekärer Arbeit zu tun.
Sie argumentieren, dass die negativen Folgewirkungen keine zufälligen Nebeneffekte oder Versäumnisse sind, die aufgrund der Einigungsunfähigkeit der Mitgliedsländer entstehen, sondern im Gegenteil, gezielt angestrebt werden. Woran machen Sie das fest?
Zunächst erscheinen die Nachteile für die Beschäftigten als unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Sie entstanden, weil man Märkte geschaffen hat, ohne auf die Regulierung des jeweiligen Arbeitsmarktes zu achten. In Ländern wie Schweden oder Belgien besteht eine umfassendere Regulierung des Arbeitsmarktes, wodurch sich die Unternehmen in den liberalisierten öffentlichen Dienstleistungen an ähnliche Kollektivvertragslöhne halten mussten, wie die ehemaligen Monopolisten. Die Löhne konnten so aus der Konkurrenz herausgehalten werden. Doch wenn man die Diskussion in der EU über die sogenannten strukturellen Reformen des Arbeitsmarktes verfolgt, die den Mitgliedsstaaten abverlangt werden, so zeigt sich, dass die scheinbar nicht beabsichtigten Folgen der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen genau das sind, was die Kommission und andere Akteure anstreben: schwächere Interessenvertretungen und weniger soziale Rechte der Beschäftigten.
Es gab auch Stimmen, die genau diesen Weg wiesen: Wenn man die Schutzbestimmungen für die ArbeitnehmerInnen abbauen will, sollte man das im öffentlichen Bereich nicht direkt angehen. Man brauche man nur die Dienstleistungsmärkte zu liberalisieren, dann folge das ganz von selbst. Gibt es in den Folgen der Privatisierungspolitik österreichische Spezifika? Nur in Deutschland und in Österreich hat es bei den Postdienstleistungen eine solche Prekarisierung der Arbeit gegeben. Nur hier wurde dieser vormals gut geschützte Bereich teilweise in einen Niedriglohnsektor verwandelt. Das war in Österreich trotz der hohen kollektivvertraglichen Deckungsrate möglich, weil sehr viele Arbeitskräfte als Scheinselbständige arbeiten und damit keinem Kollektivvertrag unterliegen.
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die aktuell vorherrschende Krisenpolitik, die oft Rufe nach strukturellen Reformen der Arbeitsmärkte beinhaltet?
Nachdem die Krise sehr deutlich gezeigt hat, dass die neoliberalen Konzepte gescheitert sind, mehr noch, dass sie die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds geführt haben, wurde nach kurzer Schockstarre munter mit den gleichen Rezepten weitergetan. Nun werden zur Lösung der Krise genau die Rezepte angewandt, welche die Krise verursacht haben. Dieser Triumph gescheiterter Ideen, wie es Paul Krugman genannt hat, ist aus mehreren Gründen schockierend: Diejenigen, die unter der Krise am meisten zu leiden haben, müssen nun auch noch für die Rettung großer Vermögen, die bei den Banken deponiert waren, bezahlen. Die Krise wird zudem als Vorwand benutzt, um die Interessen der reichen Eliten gegenüber den ArbeitnehmerInnen durchzusetzen. Und dabei geht man buchstäblich über Leichen – man denke nur an den Hunger und den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Griechenland oder an die gestiegenen Selbstmordzahlen dort und in Spanien.
Welche Ansatzpunkte sehen Sie, um den Entwicklungen entgegenzuwirken?
Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, die Dinge beim Namen zu nennen und es nicht durchgehen zu lassen, dass Angriffe auf die sozialen Rechte der Mehrheit der Bevölkerung als angeblich notwendige “strukturelle Reformen” bezeichnet werden. Es braucht eine Einheit der europäischen Gewerkschaften und überzeugende Perspektiven für eine anderes, ein soziales Europa. Wenn in einzelnen Mitgliedsstaaten die Kollektivvertragssysteme auf Anordnung der Troika de facto abgeschafft werden, können die Gewerkschaften auf europäischer Ebene dazu doch nicht schweigen. Was muss denn passieren, damit es zu einer europäischen Solidarisierung der nationalen Gewerkschaften kommt? Im Grunde ist die Stimmung vor allem unter den jungen Menschen in Europa gut für alternative Wege, für eine Gegenbewegung zur Sicherung des Lebensstandards, der sozialen Rechte und der Würde der ArbeitnehmerInnen. Nur die offizielle Politik nimmt das noch zu wenig zur Kenntnis.
Das Interview führte Sylvia Kuba.