30 Jahre EU-Binnenmarkt – Zeit für einen Paradigmenwechsel

14. März 2023

Jubelstimmung bei Wirtschaftsverbänden, Konzernen und EU-Institutionen: Vor 30 Jahren wurde der EU-Binnenmarkt ins Leben gerufen. Freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr haben aus Sicht von Unternehmensvertreter:innen viele Barrieren im Wirtschaftsleben zwischen den EU-Mitgliedsländern beseitigt und Wohlstand gebracht. Ein näherer Blick zeigt jedoch, dass das Konzept des EU-Binnenmarkts seit vielen Jahren von Krisen geprägt ist. Damit verbunden Rezessionen, Arbeitslosigkeit, Armut und Leid. Höchste Zeit also, das Jubiläum für eine grundlegende Neuausrichtung des Binnenmarkts zu nutzen.

Wer hat etwas vom gemeinsamen EU-Markt

Der EU-Binnenmarkt hat für die EU-Bevölkerung in Teilbereichen durchaus Vorteile gebracht: Das Angebot an Waren ist größer geworden, zum Teil auch günstiger. Das Verreisen innerhalb der Europäischen Union ist nun einfacher als vor 30 Jahren, in vielen Mitgliedsländern ist der Euro Zahlungsmittel, was Kosten für das Wechseln von Fremdwährungen obsolet macht, Regelungen zum Roaming sorgen zudem beim Telefonieren und der Internetnutzung im EU-Ausland für niedrigere Kosten. Haushalte, die ein zu geringes Einkommen haben, um sich einen Urlaub leisten zu können, und das trifft auf rund ein Viertel der Österreicher:innen zu, haben von vielen dieser Vorteile aber nichts.

Im Alltag zeigt sich aber, dass vor allem Konzerne und Großunternehmen von der neoliberalen Ausrichtung des EU-Binnenmarktes profitieren und das oft auf Kosten der Beschäftigten und Konsument:innen.

Lohn- und Sozialdumping im EU-Binnenmarkt

Bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmen ist regelmäßig ein Kampf um die niedrigsten Löhne und Sozialleistungen zu beobachten. Zwar gibt es mit der Entsende-Richtlinie Regelungen auf EU-Ebene, die für die Einhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards für die grenzüberschreitend tätigen Beschäftigten sorgen sollen. Diese Vorschriften sind jedoch so lückenhaft formuliert, dass es häufig zu missbräuchlichen Praktiken kommt. Die Nichtbeachtung dieser Regeln hat für die entsandten Beschäftigten niedrigere Löhne und Pensionsansprüche zur Folge. Für konkurrierende Unternehmen, die sich an die Richtlinie halten, bedeutet das wiederum einen Wettbewerbsnachteil.

Einschlägige EuGH-Urteile, wie etwa zu Viking und Laval, verschärfen die Situation für Beschäftigte noch weiter. Teilweise werden darin die Marktfreiheiten über geltendes Arbeits- und Sozialrecht gehoben und sorgen damit für eine Benachteiligung von Beschäftigten.

Mehr Privat, weniger Staat

Ein zentrales Kennzeichen neoliberaler angebotsorientierter Binnenmarktpolitik ist das beständige Bemühen, öffentliches Eigentum in private Hand überzuführen. Spätestens mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher feierte der Neoliberalismus in den 1980er Jahren mit dem Denken, dass die Privatwirtschaft forciert und der öffentliche Sektor möglichst klein gehalten werden soll, seinen Durchbruch. Unterstützt wurden diese Überlegungen durch Verluste öffentlicher Unternehmen, die unter anderem durch Erdöl- und Stahlkrise sowie wenig kompetentes Management in staatlichen Betrieben entstanden waren.

Ab den 1990er Jahren wurden auf EU-Ebene die Weichen gestellt, um Wirtschaftssektoren, in denen der öffentliche Sektor eine zentrale Rolle spielte, zu liberalisieren und oft auch gleich zu privatisieren. Zu erwähnen ist insbesondere der Energiesektor, der Schienenverkehr, der Postmarkt und die Telekommunikation. Für Konzerne und Investor:innen waren die Privatisierungen eine wahre Goldgrube, für Konsument:innen in manchen Bereichen, wie der Telekommunikation, ein Vorteil durch eine größere Auswahl bei den Anbieter:innen und teilweise niedrigere Preise. Beispielsweise im Schienenverkehr hat die Liberalisierung und der künstlich geschaffene Wettbewerb aber zu einer Ausdünnung des Angebots auf der Schiene für Passagiere und den Frachtverkehr geführt.

Negativ hat sich die Liberalisierung aber insbesondere für die Beschäftigten ausgewirkt. Druck auf die Löhne, schlechtere Arbeitsbedingungen beispielsweise durch Arbeitsverdichtung oder weniger Ruhezeiten sind regelmäßig in diesen Sektoren zu finden.

Krisenherd Binnenmarktpolitik

Die Schwächen des Binnenmarktes zeigen sich am deutlichsten in Krisensituationen. In den vergangenen 15 Jahren ist es am EU-Binnenmarkt immer häufiger zu teils schweren Krisen mit erheblichen Auswirkungen auf die EU-Bevölkerung und viele EU-Mitgliedsländer gekommen.

So hat die Finanzkrise ab 2008 zu einer Rezession geführt, die sich durch politische Fehlentscheidungen nur noch verschärfte. Im Unterschied zu anderen Weltregionen landete die Eurozone durch eine rigorose Sparpolitik auf EU-Ebene nach 2008 ab 2011 erneut in einer Rezession, von der sich die Europäische Union nur sehr langsam erholte.

Reallöhne und Mindestlöhne wurden damals in vielen EU-Ländern teils drastisch gesenkt, Kollektivverträge außer Kraft gesetzt, öffentlich Bedienstete massenweise entlassen, das Rentenalter erhöht und Sozialsysteme ausgehöhlt. Noch 2016 war die Lage der europäischen Volkswirtschaften sehr bescheiden: Rund 120 Millionen Menschen, das ist rund ein Viertel der EU-Bevölkerung, galten damals als armutsgefährdet. EU-weit waren 22,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, rund 5,8 Millionen Menschen mehr als vor der Finanzkrise. 5 der 19 Eurozonen-Länder lagen laut den Informationen seitens der EU-Kommission beim Bruttoinlandsprodukt per 2015 noch immer unter dem Niveau von 2008. Sogar der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach damals in seiner Rede zur Lage der Union davon, dass sich die EU in keinem guten Zustand befinde.

Notfallinstrument für den Binnenmarkt?

Die Klimakrise und die Energiekrise sind aktuelle Beispiele dafür, wie schwer es der Europäischen Union fällt, unter dem aktuellen neoliberalen Binnenmarktparadigma rasch geeignete Maßnahmen gegen Krisen zu setzen. Im Falle des Klimawandels macht es die jahrzehntelang verfolgte EU-Verkehrspolitik, die vor allem auf Straße und Luftfahrt gesetzt hat, nun schwer, auf den klimaschonenden Schienenverkehr umzusteigen. Es zeigt sich zudem gerade im Verkehrssektor, dass die Notwendigkeit einer Änderung des Binnenmarktparadigmas in Teilen der Kommission noch immer nicht angekommen ist. Im Fall der Energiekrise wiederum hat die Liberalisierung und (Teil-) Privatisierung vieler Energieunternehmen eine rasche Reaktion auf die steigenden Energiepreise verhindert.

Mit einem eigenen Rechtsvorschlag will die Europäische Kommission nun für rasche Gegenmaßnahmen im Fall von Krisen sorgen. Das Notfallinstrument für den Binnenmarkt soll eingreifen, sobald sich Knappheiten bei der Versorgung von Waren und Dienstleistungen abzeichnen. Grundsätzlich ist es positiv, dass die Europäische Kommission erkannt hat, dass die Versorgungssicherheit Priorität in der Europäischen Union genießen sollte. Leider enthält auch dieser Vorschlag wieder einmal eine strukturelle Schlechterstellung der Beschäftigten, die es in sich hat: Eine zentrale Regelung, die das Streikrecht und arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen absichert, soll laut dem Vorschlag der Kommission gestrichen werden. Erneut sollen Krisensituationen dazu genutzt werden, Rechte der Beschäftigten zu beschneiden. Aus diesem Grund lehnen Arbeitnehmer:innenvertretungen eine derartige Vorgehensweise massiv ab.

Es braucht eine Neuausrichtung des Binnenmarkts

Immer neue Flickwerke in Krisensituationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Europäische Union eine grundlegende Neuausrichtung für ihre Volkswirtschaften braucht. Die Union muss sich an ihrer Bevölkerung orientieren statt am Lobbying einzelner Konzerne und Unternehmensverbände. Viele Beschäftigte wie auch Konsument:innen haben durch die Krisen der letzten 15 Jahre deutliche Wohlstandsverluste hinnehmen müssen, was in der politischen Praxis auf EU-Ebene leider allzu oft ausgeblendet wurde.

Wie bereits seit vielen Jahren im Artikel 3 des EU-Vertrags festgehalten ist, muss es das vorrangige Ziel sein, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Die Union ist laut diesem Artikel gefordert, für ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Preisstabilität und eine soziale Marktwirtschaft zu sorgen, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt aufbaut und sich in einem hohen Maß an Umweltschutz und der Verbesserung der Umweltqualität orientiert. Diese Ziele sind bereits seit mehr als 13 Jahren in den Verträgen ausdrücklich festgehalten, sie müssen nur endlich umgesetzt werden!

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