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Im Bahnverkehr gibt es viele mehr oder weniger fixe Kosten für die Unternehmen: Energie, Schienenmaut oder Rollmaterial (also Lokomotiven, Triebwagen, Wagen, usw.) kosten für alle etwa gleich viel. Eine der wenigen flexiblen Stellgrößen sind die Personalkosten, was traurige Effekte nach sich ziehen kann. Häufig zahlen bei wettbewerblichen Ausschreibungen daher die Belegschaft und die Qualität der Dienstleistung drauf. Verliert ein bisheriger Betreiber (z.B. ÖBB) eine große Ausschreibung, so stehen hunderte Eisenbahner:innen ohne Job da. Das ist eine soziale, aber auch volkswirtschaftliche Tragödie.
Direktvergaben schaffen hingegen Resilienz in Krisen, in dem etwa rasch und unbürokratisch auf sich änderende Fahrgastströme reagiert werden kann. Das hat sich der Pandemie gezeigt, in der trotz Passagierschwund auf der (eigenwirtschaftlichen) Westbahnstrecke das Bahnangebot aufrechterhalten werden konnte. Auch Zusatzzüge für Flüchtlinge aus der Ukraine konnten so rasch organisiert werden. Schließlich ist die längst fällige Mobilitätswende durch die Direktvergabe unkomplizierter zu planen und rascher umzusetzen.
2016 unternahm die Europäische Kommission einen ersten Versuch die Direktvergabe umfassend einzuschränken und so die Tür für Deregulierung und Wettbewerb zu öffnen. Doch nach einer breiten öffentlichen Debatte beschloss das Europäische Parlament einen Abänderungsantrag, der die Möglichkeit zur Direktvergabe zwar an Kriterien knüpft, aber sicherstellt, dass der Wettbewerb gegenüber Direktvergabe keinen Vorrang genießt:
- aufgrund der jeweiligen […] Merkmale des Marktes und des betreffenden Netzes […] gerechtfertigt ist und
- ein derartiger Auftrag zu einer Verbesserung der Qualität der Dienste oder der Kosteneffizienz […] führen würde.
Gerade Akteure, die an einer weiteren Liberalisierung und Privatisierung des Bahnverkehrs interessiert sind, versuchen den oben zitierten Wortlaut der Verordnung nun so auszulegen, dass eine Direktvergabe praktisch unmöglich ist. Um diese Erzählung zu durchbrechen und Klarheit zu schaffen, erstellten die beiden Vergabeexperten Josef Aicher und Rudolf Lessiak in Auftrag der AK Wien ein Rechtgutachten. Das zentrale Ergebnis:
„Eine Vorrangigkeit der wettbewerblichen Vergabe oder Nachrangigkeit der Direktvergabe ist aus der PSO nicht ableitbar. Sind alle Elemente des Tatbestandes der zulässigen Direktvergabe erfüllt, dann bedarf es keiner zusätzlichen Begründung, weshalb direkt und nicht im wettbewerblichen Verfahren vergeben werden soll.“
Europäische Kommission prescht mit Leitlinien vor
Die EU-Kommission hat im Dezember 2021 einen Entwurf von „Guidelines“ – also Leitlinien – dazu verfasst, wie die novellierte PSO-VO zu interpretieren ist. Sie will damit die Anwendung der Direktvergabe entgegen dem Wortlaut der Verordnung nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Während die gesamte Kommission mit dem Green Deal und etwa der Mindestlohnrichtlinie in den letzten Jahren versucht ökologische und auch soziale Aspekte verstärkt in ihrer Politik zu berücksichtigen, stammen die Leitlinien aus der immer noch stark neoliberal geprägten Generaldirektion Mobilität und Verkehr.
Wieder erstellten die Vergaberechtler Aicher und Lessiak im Auftrag der AK Wien ein Gegengutachten und zerpflückten die Argumentation der Kommission. Das Empörende an der ganzen Vorgangsweise: Die Kommission versucht mit ihren Leilinien den Willen des europäischen Gesetzgebers zu unterlaufen. Durch die exekutive Hintertür will sie doch noch jene Vorstellungen durchsetzen, mit denen sie 2016 in der demokratischen Auseinandersetzung gescheitert ist. Dementsprechend scharfe Kritik kam daher auch aus dem Europäischen Parlament.
Das hindert die Kommission aber nicht daran, unbeirrt fortzufahren. Eine Veröffentlichung der endgültigen Richtlinien wird für Ende des Jahre 2022 erwartet. Wie ernst es der zuständigen Kommissarin, der liberal-konservativen Adina Valean, zu sein scheint, wurde diesen Sommer deutlich: In einem Brief an die niederländische Regierung drohte die Kommissarin rechtliche Schritte an, falls diese mit der Direktvergabe fortfährt.
Welchen Charakter haben Leitlinien der Kommission?
Um nachvollziehbar zu machen, wie undemokratisch dieses Vorgehen ist, gilt es kurz zu verdeutlichen, was Leitlinien der Kommission überhaupt sind. Bei Leitlinien der Kommission handelt es sich im Gegensatz zu Verordnungen und Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rats (Europäischer Gesetzgeber) nicht um allgemein verbindliches EU-Sekundärrecht. Vielmehr erlässt die Kommission Leitlinien in Form von Mitteilungen, die darlegen wie die Behörde gedenkt einen verbindlichen Rechtsakt des europäischen Gesetzgebers konkret anzuwenden.
Wenn überhaupt sind Leitlinien daher als Empfehlungen oder Stellungnahmen zu qualifizieren. Für diese ordnen die Europäischen Verträge aber unmissverständlich an, dass diese „nicht verbindlich“ sind (Art 288 AEUV). Andernfalls könnte eine demokratisch nicht gewählte Behörde mit Leitlinien den Willen des Gesetzgebers durchkreuzen. Die „Befugnis zum Erlass von Leitlinien enthält nicht die Ermächtigung zur Änderung bestehenden Rechts“, wie es Stefan Thomas in einem einschlägigen europarechtlichen Beitrag kommentiert. Diese Ansicht ist sowohl in den Rechtswissenschaften als auch in der Rechtsprechung des EuGH völlig unumstritten.
Stoppen des undemokratischen Vorgehens der Kommission, schützen wir die Bahn gegen Deregulierung
Noch vor der Veröffentlichung der Leitlinien ist es daher wichtig das Wissen zu verbreitern, dass weder der Bund noch die Länder an die Leitlinien der Kommission gebunden sind. Vielmehr sind sie sogar dazu verpflichtet, die Leitlinien nicht zu berücksichtigen, wenn sie gegen Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers verstoßen. Das den Entscheidern unmissverständlich klarzumachen, wird die Aufgabe jener sein, die an nachhaltiger und qualitativ hochwertiger Mobilität und der dafür notwendigen guten Arbeitsbedingungen ein Interesse haben.
Trotzdem haben Leitlinien eine einschüchternde Wirkung. Wenn sich die Kommission daher nicht von ihren Plänen abbringen lässt, sollte die Republik und das Europäische Parlament prüfen, nach der Veröffentlichung der Leitlinien innerhalb der dafür vorgesehen Frist von zwei Monaten eine Nichtigkeitsklage beim EuGH zu erheben.
Dabei geht es auch darum, die europäische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor der Machtanmaßung der Kommission zu schützen. Denn nicht zum ersten Mal versucht die Behörde, nachdem sie sich mit einem Vorschlag gegen den Europäischen Gesetzgeber nicht durchsetzen konnte, ein solch undemokratisches Manöver. Nachdem ihr Richtlinienvorschlag zu einem „Binnenmarkt für Pensionsfonds“ vom Rat abgelehnt wurde, versuchte sie diesen mit einer deckungsgleichen Mitteilung durchzuboxen. Nicht zuletzt wegen dem falschen Anschein, dass es sich hier um Recht handle, ließ der EuGH eine Nichtigkeitsklage zu und gab dieser recht.
Mit anderen Worten: Die Auseinandersetzung für ein demokratisches Europa und ein Bahnsystem von hoher Qualität, das für soziale und ökologische Nachhaltigkeit steht, darf mit Beschlussfassung der Leitlinien nicht zu Ende sein. Vielmehr geht es darum sicherzustellen, dass sie politisch und allenfalls rechtlich in die nächste Etappe geht.