12-Stunden-Tag: In der Hitze juristischer Debatten

14. August 2018

Der 12-Stunden-Tag wurde in aller Eile beschlossen. Der Zeitmangel schadete auch der juristischen Debatte zum Thema. Selbst versierte ArbeitsrechtlerInnen interpretieren wichtige Teile des Gesetzes falsch oder verkennen dessen Auswirkungen in der Praxis. AK-Direktor Christoph Klein arbeitet die Debatte auf.

Nachdem nun die Novelle des Arbeitszeitrechts vom Parlament beschlossen wurde, mit der insbesondere die regulär zulässige Gesamtarbeitszeit auf zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich ausgedehnt wird, erscheint ein Blick zurück auf die geführte öffentliche Debatte lohnend: In der Hitze des verbalen Schlagabtausches um den 12-Stunden-Tag haben auch namhafte ArbeitsrechtlerInnen manche juristische Äußerung abgegeben, die mehr zur Verfinsterung als zur Erhellung der Angelegenheit beigetragen hat. Qui tacet consentire videtur – wer schweigt, scheint zuzustimmen, wussten schon die Juristen im alten Rom. Daher setzt sich dieser Blogbeitrag kritisch mit einigen dieser – freilich nicht in Fach-, sondern Massenmedien veröffentlichten – Kommentaren auseinander.

1. Keine Schlichtungsstelle schützt vor ungewollten 12-Stunden-Tagen

Die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen vertauscht Christoph Wolf, Anwalt in der Kanzlei CMS (Der Standard, 25.6.18): Er meint, dass die Mitbestimmung der Betriebsräte zum 12-Stunden-Tag erhalten bleibe, lediglich mit dem Unterschied, „dass die Betriebsvereinbarung derzeit den Zwölfstundentag zulassen muss, während sie ihn zukünftig einschränken kann“. Bei Nichteinigung über eine Betriebsvereinbarung würde die Schlichtungsstelle entscheiden. Irrtum.

Was der Betriebsrat bei der Schlichtungsstelle durchsetzen kann, ist ein völlig anderer Typ von Arbeitszeit-Betriebsvereinbarung, nämlich jener nach § 97 (1) Z 2 Arbeitsverfassungsgesetz, mit dem die Lage der Normalarbeitszeit (z. B. 8.00 bis 16.30 Uhr, Pause von 12.00 bis 12.30 Uhr) festgelegt wird. Dagegen hat der Gesetzgeber die bisher bestehende Möglichkeit der Betriebsräte, Betriebsvereinbarungen gemäß § 7 (4) Arbeitszeitgesetz darüber abzuschließen, ob und unter welchen Bedingungen Überstunden in Form einer elften und zwölften Stunde täglich und einer 51. bis 60. Stunde wöchentlich geleistet werden dürfen oder eben auch nicht, ersatzlos gestrichen. Die Nationalrats-Mehrheit hat damit die ArbeitnehmerInnen des Schutzes vor ungewollten 12-Stunden-Tagen und 60-Stunden-Wochen durch den „Nein“ sagenden oder bestimmte Auflagen verlangenden Betriebsrat beraubt.

2. Geplante 12-Stunden-Tage sind nicht dasselbe wie spontan – oder sogar illegal – angeordnete

Ein schwer verdauliches Gemisch völlig unterschiedlicher Kategorien von 12-Stunden-Tagen serviert Rechtsanwältin Katharina Körber-Risak. Mit dem Hinweis auf den schon bisher üblichen „Zwölf-Stunden-Schichtbetrieb“ in Verkehrsbetrieben, Spitälern, Gastronomie usw stellt sie den mit der Novelle eingeführten 12-Stunden-Tag als keiner Aufregung wert dar (trend, 22.6.2018). So wie von Wolf werden auch von Körber-Risak zunächst Normalarbeitszeit und Überstundenarbeit in einen Topf geworfen. Bei Beschäftigten in Krankenanstalten oder etwa in Eisenbahnunternehmen kann die Normalarbeitszeit legal in Form von 12-Stunden-Diensten geleistet werden.

Das heißt erstens: Vorhersehbarkeit der 12-Stunden-Tage in den Dienstplänen, deren Erstellung noch dazu dem Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte unterliegt. Und das heißt zweitens: Mit nur drei Arbeitstagen (3 x 12 = 36) ist eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden schon fast zur Gänze erfüllt, was dazu führt, dass in jede Woche drei bis vier arbeitsfreie Tage fallen! Das kann in keiner Weise mit den zukünftig nach § 7 (1) Arbeitszeitgesetz jederzeit möglichen 12-Stunden-Tagen verglichen werden. Diese werden nun ohne Vorhersehbarkeit und Planbarkeit, durch angeordnete oder aus der großen Arbeitsmenge resultierende Überstundenarbeit zusätzlich zur – meist in 5-Tage-Wochen – absolvierten Normalarbeitszeit entstehen.

Vollends verblüfft Körber-Risaks Vergleich mit der Gastronomie: Dass dort in bestimmten Betrieben immer wieder 12-Stunden-Tage aufgrund hoher – und oft nicht einmal korrekt bezahlter – Überstundenmengen vorkommen, ist zwar richtig, aber schlicht und einfach illegal und einer der maßgeblichen Gründe, warum es gerade junge Menschen so wenig in diese Branche zieht. Wenn sich in einem Bereich illegale überlange Arbeitszeiten häufen, würde man von einer Juristin eher die Schlussfolgerung erwarten, dass dort die Einhaltung der gesetzlichen Schutznormen mehr zu kontrollieren und zu sanktionieren sei. Stattdessen legitimiert sie die Einführung von Überstundenarbeit durch den Gesetzgeber bis zu zwölf Stunden täglich in allen Branchen mit dem Hinweis auf illegale Praktiken bei den schwarzen Schafen einer Branche!

3. Die meisten Arbeitsverträge verpflichten zu angeordneten Überstunden

Mehrfach erstaunt die Praxisferne namhafter Juristen. Theodor Tomandl, Professor emeritus an der Universität Wien, schreibt, in der Öffentlichkeit sei „der falsche Eindruck entstanden, dass der Arbeitgeber in Hinkunft so lange Arbeitszeiten einfach anordnen kann“ (Die Presse, 7.7.2018).

Warum dieser Eindruck laut Tomandl falsch ist? Weil der Arbeitnehmer der Anordnung nur folgen muss, wenn er sich zur Leistung von Überstunden im Bedarfsfall verpflichtet hat. Was Tomandl nicht zu wissen scheint, ist, dass Arbeitsverträge nur für Spitzenpositionen tatsächlich Punkt für Punkt ausverhandelt werden. In den allermeisten anderen Fällen legt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein von Anwalt, Steuerberater oder Wirtschaftskammer zu seinen Gunsten gestaltetes Arbeitsvertragsformular vor, das der Arbeitnehmer, weil er den Arbeitsplatz will oder braucht, unverändert unterschreibt.

Wer mit der Praxis der Arbeitswelt vertraut ist, weiß daher, dass die meisten Arbeitsverträge eine Klausel enthalten, nach der der Arbeitnehmer im Bedarfsfall zu Überstundenarbeit verpflichtet ist. Ab 1. September 2018 werden die Beschäftigten also sehr wohl damit rechnen müssen, dass Überstunden bis zu einer Gesamtarbeitszeit von zwölf Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche „einfach angeordnet“ werden.

4. In der Praxis kostet Gleitzeit die Beschäftigten oft ihre Überstundenzuschläge

Neben der Ausweitung zulässiger Überstundenarbeit bringt die Novelle eine zweite Möglichkeit, 12-Stunden-Tage zu arbeiten: Bei Gleitzeit können auch in Form von Normalarbeitszeit zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich gearbeitet werden. Nun stellt sich für die elfte und zwölfte Stunde (wie auch schon bisher für die neunte und zehnte Stunde) die Frage, ob der Arbeitnehmer in Ausübung seiner Gleitbefugnis aus eigenem Antrieb länger gearbeitet hat. Dann kann er diese Stunden später als Gleitzeitguthaben „abfeiern“, aber freilich nur im Verhältnis eins zu eins, da die Plusstunden Normalarbeitszeit sind; oder ob die betreffenden Stunden wegen einer ausdrücklichen Anordnung oder der aufgetragenen Arbeitsmenge notwendig waren, dann liegt zuschlagspflichtige Überstundenarbeit vor.

Rechtsanwalt Roland Gerlach (Kleine Zeitung, 19.6.2018) tut unter Berufung auf diese Unterscheidung zwischen „freiwillig oder angeordnet“ die Kritik an künftig zuschlagsfreien elfte und zwölfte Stunden bei Gleitzeit als „Sturm im Wasserglas“ ab. Ihm ist die Praxis entgegenzuhalten: Da die ArbeitnehmerInnen häufig den Überstundencharakter solcher Stunden beim Arbeitgeber nicht geltend machen (aus mangelnder Rechtskenntnis, aus Scheu, den Zuschlag zu beanspruchen usw.), werden diese Zeiten regelmäßig als schlichte Plusstunden verbucht, die ArbeitnehmerInnen also um den Überstundenzuschlag gebracht.

5. Plusstunden sind zu reduzieren, bevor sie ausbezahlt werden müssten

Daraufhin versucht Anwalt Stefan Köck auf Twitter zu beruhigen (Twitter, 21.6.2018): Werden diese zunächst zuschlagsfreien Plusstunden nicht rechtzeitig konsumiert, verwandeln sie sich mit Ende der Gleitzeitperiode ohnehin in zuschlagspflichtige Überstunden, da sie ja die durchschnittliche wöchentliche Normalarbeitszeit über die Periode hinweg überschreiten. Auf meinen Einwand, dass die Beschäftigten die Plusstunden-Guthaben aber vor Ende der Periode zu verbrauchen haben, meint Köck, er „habe noch nie gesehen, dass jemand zum ‚Abgleiten‘ eines Guthabens gezwungen wurde“. Merkwürdig.

In der realen Arbeitswelt, wie sie die Arbeiterkammer aus unzähligen Beratungen und Rechtsschutzfällen kennt, legen die Arbeitgeber sehr wohl größten Wert darauf, dass ihre ArbeitnehmerInnen überzählige Plusstunden konsumieren, bevor sie zu teuren Überstunden werden. Sie sichern dieses Anliegen auch in den üblichen Gleitzeitvereinbarungen ab, z. B. mit der ausdrücklichen Verpflichtung des Arbeitnehmers, über die Gleitzeitperiode hinweg nach Möglichkeit mit der Normalarbeitszeit auszukommen. Häufig sehen sich ArbeitnehmerInnen sogar mit der illegalen Sanktion konfrontiert, dass ihnen überzählige Plusstunden einfach gestrichen werden – auch wenn ein Abbau aufgrund der großen Arbeitsmenge nicht möglich war.

6. 12-Stunden-Tage sind nun generell statt ausnahmsweise erlaubt

Werfen wir zum Schluss noch einen kurzen Blick auf die letztlich terminologische Frage, ob das Gesetz den „generellen 12-Stunden-Tag“ gebracht hat oder nicht. Wolfgang Mazal, Professor an der Universität Wien, verneint das mit der Begründung, dass nach der EU-Arbeitszeitrichtlinie innerhalb von 17 Wochen nur eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden zulässig sei (Wiener Zeitung 21.6.2018).

Richtig, der niedrigste europarechtlich erlaubte Level, auf den Österreich nun seinen Schutz vor überlangen Arbeitszeiten abgesenkt hat, verhindert tatsächlich, dass dauerhaft jeden Arbeitstag, fünfmal in der Woche, zwölf Stunden gearbeitet wird. Fakt ist jedoch, dass – solange dieser unterste Level eingehalten wird – die ArbeitnehmerInnen in Österreich künftig jederzeit damit rechnen müssen, dass der jeweilige Arbeitstag wegen des Arbeitsanfalls zwölf Stunden dauern wird. Die nicht nur wie bisher ausnahmsweise, sondern generell erlaubte Gesamtarbeitszeit steigt ab 1. September 2018 auf zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich an (§ 9 Arbeitszeitgesetz). Auch wenn also künftig nicht jeder einzelne Arbeitstag ein 12-Stunden-Tag sein darf, müssen ArbeitnehmerInnen doch jeden Tag damit rechnen.