Wahljahr in zahlreichen EU-Staaten – EU-Skepsis und Neonationalismus statt Vertiefung der Union?

10. November 2017

In mehreren EU-Mitgliedsländern wie beispielsweise Deutschland, Frankreich oder Tschechien fanden dieses Jahr Wahlen auf nationaler Ebene statt. Neue Regierungskonstellationen haben sich dadurch etabliert beziehungsweise sind gerade im Entstehen. Eine erste Analyse zeigt: EU-skeptische Parteien sind in immer mehr Regierungen der EU-Mitgliedstaaten vertreten. Wie werden sich die Veränderungen auf die Europäische Union auswirken?

Brexit, Frexit, Nexit …

In acht EU-Mitgliedsländern wurde 2017 gewählt, darunter auch in den drei bevölkerungsreichsten EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Vor den Wahlen wurde in mehreren EU-Ländern die Befürchtung geäußert, dass sich Parteien durchsetzen könnten, die einen Austritt aus der EU anstreben. Nach dem Brexit spekulierten Medien unter anderem mit einem möglichen Frexit (EU-Austritt Frankreichs) oder einem Nexit (EU-Austritt der Niederlande).

Tatsächlich schnitten gerade jene rechtspopulistischen Kräfte bei den Wahlen überraschend schlecht ab, die einen Austritt aus der Europäischen Union offensiv bewarben. In Frankreich kam Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National bei den Präsidentschaftswahlen zwar in die Stichwahl gegen den Konkurrenten Emmanuel Macron. Den zweiten Wahlgang verlor sie jedoch deutlich – Macron kam mit 20,7 Mio. Stimmen auf fast auf doppelt so viele Stimmen wie Le Pen. Bei den kurz darauffolgenden Parlamentswahlen schnitt der Front National sogar schlechter ab als 2012: Mit 13,2 % erhielt er um 0,4 Prozentpunkte weniger Stimmen.

In den Niederlanden konnte die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid bei der Wahl im März entgegen den Erwartungen nur knapp drei Prozentpunkte hinzugewinnen und kommt auf rund 13 %. Damit hat Wilders sein Ziel, die stärkste Kraft in den Niederlanden zu stellen, weit verfehlt.

Die deklarierten EU-Austrittsparteien in Frankreich und den Niederlanden haben damit ihr Ziel, den Regierungschef zu stellen, klar verfehlt. Eine schwerwiegende Niederlage musste auch die populistische UKIP-Partei in Großbritannien hinnehmen, die eine der Hauptverfechterinnen des Brexit war. Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus stürzte die UKIP von 12,6 % auf 1,8 % ab. Ursache dafür könnte sein, dass die negativen Folgewirkungen des Brexit für Großbritannien sehr rasch deutlich geworden sind.

Populismus auf dem Vormarsch

Was bei den Wahlkämpfen deutlich zu bemerken war: Der Populismus nimmt stark zu und das über die Parteigrenzen hinweg. In Deutschland gewann die Alternative für Deutschland (AfD) mit Parolen, die strikt gegen AusländerInnen, Flüchtlinge und den Islam gerichtet waren. Sie konnten ihr Ergebnis gegenüber den letzten Wahlen um 7,9 Prozentpunkte auf 12,6 % steigern. Mit dieser Ausrichtung haben jedoch nicht nur die klassischen rechtspopulistischen Parteien gearbeitet: Beispielsweise gewann in Tschechien Andrej Babiš die Wahlen mit seiner Partei ANO, die eigentlich bei den Liberalen beheimatet ist. Stimmung machte er dabei – ähnlich wie die AfD – mit einer Anti-Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik. In Österreich war der Themenkomplex illegale Migration, politischer Islam und Sozialleistungen für ZuwanderInnen ein zentraler Bestandteil des Wahlkampfs von ÖVP und FPÖ. Eine vergleichbare Strategie verfolgte der slowakische Premierminister Robert Fico von der SMER (SozialdemokratInnen) bereits 2016. Er machte die Flüchtlingskrise zum beherrschenden Thema im Wahlkampf.

Wie hat sich die Politiklandschaft Europas verändert?

Da es auch innerhalb der einzelnen europäischen Parteifamilien unterschiedliche politische Strömungen gibt, ist es nicht leicht, auf Anhieb Veränderungen festzumachen. Um eine Feststellung dazu treffen zu können, ist ein Vergleich notwendig, der darstellt, welche politischen Gruppierungen nun Teil der Regierung sind und welche Veränderungen sich diesbezüglich gegenüber früheren Jahren ergeben haben. Als Vergleichsjahre sollen die Jahre 2007, 2012 und 2017 (Stichtag jeweils 1.1.) nach den Wahlen dienen. Die Analyse geht davon aus, dass in Deutschland eine Jamaika-Koalition, in Österreich eine Koalition aus ÖVP und FPÖ sowie in Tschechien eine Minderheitsregierung der ANO (Liberale) zustande kommen wird.

Die Gegenüberstellung orientiert sich zudem daran, in welchen Fraktionen die Parteien im Europäischen Parlament organisiert sind. Demnach dominieren die bürgerlich-liberalen Kräfte deutlich: Die Europäische Volkspartei (EVP) ist derzeit 16-mal in den Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten, die Liberalen 11-mal. 2012 war die EVP sogar in 23 Regierungen präsent. Zu berücksichtigen ist zudem die Europäische Konservative (EKR), die sich (im EU-Parlament) vor einigen Jahren von der EVP abgespalten hat und durch ihre EU-Skepsis bzw. nationale Orientierung auszeichnet. Mitglieder sind beispielsweise die britischen Tories und die polnische PiS. Während die EVP zwischen 2012 und 2017 in sieben Ländern ihren Einfluss in der Regierung verlor, hat die EU-skeptische EKR wesentlich an Stärke gewonnen und ist nun in sechs Regierungskoalitionen vertreten. Zusammen wirken die beiden konservativen Parteien (EVP, EKR) in den allermeisten EU-Ländern bei den Regierungsgeschäften mit.

Traditionell rechtspopulistische Gruppierungen waren zwischen 2007 und 2017 nur in sehr wenigen Regierungen vertreten. Aktuell arbeiten sie in zwei Regierungen mit.

Nach den Wahlen 2017: in sieben von acht EU-Staaten SozialdemokratInnen in Opposition

Beim „linken Flügel“ gibt es vor allem eine Überraschung: Die Regierungsbeteiligung grüner Parteien hat sich im 10-Jahres-Vergleich stark erhöht und liegt nun bei fünf Ländern. Bei den SozialdemokratInnen (SPE) gibt es gegenüber 2007 und 2012 kaum Änderungen: Sie sind nach den Wahlen 2017 in insgesamt zehn Regierungen vertreten. Wirft man allerdings einen Blick auf die acht Mitgliedstaaten, in denen dieses Jahr gewählt wurde, zeichnet sich eine dramatische Entwicklung bei der SPE ab: Waren die SozialdemokratInnen vor den Wahlen noch in sechs der acht EU-Staaten, in denen 2017 gewählt wurde, an den Regierungsgeschäften beteiligt, so sind sie es nun nur noch im kleinsten EU-Land Malta. In mehreren Ländern stürzten die SozialdemokratInnen bei den Parlamentswahlen dramatisch ab: In Frankreich verlor die PS (im zweiten Wahlgang) 35,2 Prozentpunkte und hält bei 5,7 % bzw. hat statt 280 Sitzen nur noch 30 im französischen Parlament. Ähnliche Ergebnisse gab es für die SozialdemokratInnen in den Niederlanden (PvDA: 5,7 % Stimmenanteil bzw. ein Verlust von 19,1 Prozentpunkten) und in Tschechien (CSSD: 7,3 % bzw. ein Minus von 13,2 Prozentpunkten). Mit Verlusten von 5,2 Prozentpunkten musste auch die SPD deutliche Einbußen hinnehmen, wobei sie nun bei 20,5 % steht. Zwar gibt es auch positive Wahlergebnisse für die SozialdemokratInnen, so ein Plus von 9,5 Prozentpunkten auf 40 % für die Labour Party in Großbritannien, ein Plus von 11,8 Prozentpunkten auf 27,2 % für die BSP in Bulgarien; die SPÖ in Österreich konnte ihr Ergebnis von rund 26,9 % halten. Das ändert aber nichts daran, dass nur die maltesischen SozialdemokratInnen ihre Regierungssitze aufgrund einer absoluten Mehrheit von mehr als 55 % verteidigen konnten.

Europäische Union nun wesentlich EU-skeptischer und populistischer

Aus dem Wahljahr 2017 in vielen EU-Mitgliedsländern lässt sich folgender Schluss ziehen: Zwar stellen sich die WählerInnen gegen einen Austritt ihrer Länder aus der EU. Die Skepsis gegenüber der EU steigt jedoch stark an – ebenso wie die Verwendung (rechts-)populistischer Botschaften. In Summe dürften zumindest in elf Ländern Parteien in Regierungen vertreten sein, die EU-skeptische Positionen vertreten und/oder mit populistischen Parolen Politik machen.

Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass eine fortschrittliche Politik im Sinne der Beschäftigten betrieben wird. Zu befürchten ist stattdessen, dass die Europäische Union in den nächsten Jahren eine Phase des Neonationalismus durchlaufen wird. Die EU-Agenda der nächsten Jahre könnte vermehrt auf Grundlage einzelstaatlicher Überlegungen getroffen und gemeinschaftliche Lösungen zurückgedrängt werden.

Auswirken werden sich die Ergebnisse jedenfalls auch auf die institutionelle EU-Ebene: Die Besetzung der Räte der FachministerInnen wird sich entsprechend verändern. Auch bei der Bestellung der nächsten EU-Kommission 2019 ist durchaus mit KommissarInnen zu rechnen, die (rechts-)populistische Positionen vertreten könnten. Im Europäischen Parlament war bereits bei den letzten Wahlen im Jahr 2014 ein höherer Stimmenanteil an Gruppierungen mit nationaler Ausrichtung zu beobachten. Ob dieser Trend bei den Wahlen 2019 anhält oder es zu einem Umschwung kommt, bleibt abzuwarten.