Systembruch bei der Sonntags- und Feiertagsruhe

03. Januar 2019

Im Zuge der im Sommer 2018 viel diskutierten und umstrittenen Novelle des Arbeitszeitrechts ging in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe unter, dass auch das Arbeitsruhegesetz zugunsten der ArbeitgeberInnen „gelockert“ und „liberalisiert“ wurde. Bisher mussten gesetzlich determinierte Erforderlichkeiten vorliegen, um Wochenenddienste oder ausnahmsweise Arbeit an Feiertagen anordnen zu können. Seit 1.9.2018 können ArbeitgeberInnen aller Branchen ohne diese Determinanten (unvermeidbare Tätigkeiten im Gesundheitsbereich, Verkehr, Infrastrukturdienste u.ä.) auf eine „Vereinbarung“ mit dem Betriebsrat oder sogar mit der/dem einzelnen ArbeitnehmerIn drängen.

Weg frei für Druck in Richtung „freiwilliger“ Sonntags- und Feiertagsarbeit

 

“Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es

die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.”

(Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social [1762])

 

Die im Juli 2018 beschlossene Änderung des Arbeitszeitrechts, mit der unter anderem die Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich erhöht wurde (12-Stunden-Tag-Gesetz), umfasste auch eine Änderung des Arbeitsruhegesetzes (§ 12b ARG). Letztere wurde in der öffentlichen Diskussion nur wenig zum Thema gemacht, bedeutet aber nichts weniger als einen Systembruch bei der Sonntags- und Feiertagsruhe.

An bis zu vier Sonntagen oder Feiertagen pro ArbeitnehmerIn und Jahr kann nun, seit dem 1.9.2018, ohne sachliche Beschränkung, ohne jeden Nachweis von unverschiebbarer Erforderlichkeit Arbeit angeordnet werden. Bisher musste eine der in Gesetz oder Verordnung festgelegten Ausnahmen von der allgemeinen Sonn- und Feiertagsruhe vorliegen, nun genügt eine Betriebsvereinbarung – bei der die „freie“ Unterschrift der unter Druck stehenden Betriebsratsvorsitzenden in Zeiten erhöhter Arbeitsplatzgefährdung mitunter hinterfragt werden kann – oder aber bloß die Unterschrift der einzelnen Arbeitnehmerin bzw. des einzelnen Arbeitnehmers. Wenn man weiß, dass in kleineren Betrieben nur sehr selten ein Betriebsrat besteht (oftmals deshalb, weil der Belegschaft seitens des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin oder Managements davon „abgeraten“ wird), dann lässt sich jetzt schon absehen: In vielen betriebsratslosen Unternehmen, deren ArbeitnehmerInnen bisher uneingeschränkte synchrone Freizeit mit FreundInnen und Familie genießen konnten, wird künftig „freiwillig“ Sonntagsarbeit und Arbeit an Feiertagen zu leisten sein. Ausgenommen sind derzeit (noch?) Verkaufstätigkeiten nach dem Öffnungszeitengesetz (§ 12b Abs. 2 ARG).

Sonntags und feiertags durcharbeiten: mit einigen Arbeitsteams geht das nun

Weil nur an höchstens drei aufeinanderfolgenden Sonntagen, zusätzlich aber auch an einem damit in Verbindung stehenden Feiertag (z.B. Ostermontag, Pfingstmontag) Arbeit angewiesen und „vereinbart“ werden darf, kann jede/r UnternehmerIn nun folgendermaßen vorgehen: Indem er/sie die Belegschaft in 13 bis 15 Teams einteilt, kann er/sie erreichen, dass in den Betrieben durchgängig auch an Sonn- und Feiertagen die Maschinen oder Dienstleistungen am Laufen bleiben. 13 mal vier zulässige Sonntagsarbeiten ergibt 52 Kalenderwochen, und mit zwei zusätzlichen „Feiertagsteams“ können zudem die ca. zehn Feiertage pro Jahr, die nicht auf einen Sonntag fallen, abgedeckt werden. Ein Wunsch der Industriellenvereinigung, aber auch einiger Fachorganisationen innerhalb der Wirtschaftskammer (dem Vernehmen nach z.B. Informationstechnologie und ähnliche Branchen) ist in Erfüllung gegangen.

Das in Abs. 3 des neuen Paragrafen verankerte Benachteiligungsverbot und „Freiwilligkeitsprinzip“ ist auch hier äußerst kritisch zu hinterfragen. Im Gegensatz zu jüngst bekannt gewordenen Verstößen im Rahmen der neuen 12-Stunden- bzw. 60-Wochen-Arbeitszeitgrenzen sind bei der Wochenarbeitsruhe nicht so viele „Zwangsvergatterungen“ im großen Stil bekannt geworden – noch nicht! Denn wer wagt es schon, im aufrechten Arbeitsverhältnis davon zu berichten, sich bei Gewerkschaft und AK darüber zu beklagen?

Eine Vereinbarung auf Betriebs- oder Einzelvertragsebene, was ist daran so schlimm?

Um diese Frage zu beantworten, ist es ratsam, sich das System der österreichischen Arbeitsrechtsordnung im Grundsatz anzusehen. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Arbeitsvertragsrecht (Privatrecht, bürgerliches Recht) und öffentlichem Schutzrecht (Verwaltungsrecht, staatlich-hoheitliche Exekutive). Arbeitszeit- und Arbeitsruheregelungen sind öffentliches Schutzrecht und so gut wie nie der vertraglichen Gestaltung, der sogenannten „Privatautonomie“, zugänglich. Zumindest bis zum 1.9.2018 war das so. In mehr als 30 (!) Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (OGH), wird betont:

„Der Dienstvertrag oder Arbeitsvertrag im Sinne des § 1151 ABGB ist vor allem durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers, also durch dessen Unterworfenheit unter die funktionelle Autorität des Arbeitgebers, gekennzeichnet, welche sich in organisatorischer Gebundenheit, insbesondere an Arbeitszeit, Arbeitsort und Kontrolle äußert. Für den Arbeitsvertrag wesentlich ist daher eine weitgehende Ausschaltung der Bestimmungsfreiheit des Arbeitnehmers, welcher hinsichtlich Arbeitsort, Arbeitszeit und arbeitsbezogenes Verhalten dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterworfen ist, […]“ (Hervorhebungen durch den Autor dieses Blogbeitrags).

Wie soll nun ein/e im laufenden Arbeitsverhältnis tätige/r ArbeitnehmerIn seinen bzw. ihren freien Willen durchsetzen, also „freiwillig“ zustimmen oder ablehnen können? Wie frei ist ein/e ArbeitnehmerIn, der bzw. die familiäre Sorgepflichten und Verantwortungen hat, dem bzw. der aber vom Vorgesetzten gesagt wird, dass „da draußen“ eine Menge Arbeitssuchende auf seinen bzw. ihren Arbeitsplatz geradezu „warten“? Dazu sei nochmals der OGH zitiert:

„[…] hat der erkennende Senat erst jüngst – wenn auch in anderem Zusammenhang – darauf hingewiesen, dass es von der arbeitsrechtlichen Lehre als dem Arbeitsrecht zugrundeliegend und geradezu typisch für die Verhandlungssituation des potenziellen Arbeitnehmers mit seinem Arbeitgeber angesehen wird, dass dem Arbeitnehmer bei der Vertragsgestaltung wenig Einflussmöglichkeiten zukommen und daher das Arbeitsrecht regelmäßig mit zwingenden oder einseitig zwingenden Regelungen [in Gesetzen, Verordnungen und Kollektivverträgen; Anm.] an das tatsächliche Vorliegen dieser Umstände anknüpft“ (OGH 8.8.2002, 8 ObA 277/01w, Hervorhebungen durch den Autor dieses Blogbeitrags).

Nur generell-abstrakte und nicht verhandelbare Rechtsnormen auf Bundes-, Landes- oder Branchenebene können ArbeitnehmerInnen vor Druckausübung durch ihre/n ArbeitgeberIn schützen! So lassen sich diese Sentenzen des OGH über ein wirksames arbeitsrechtliches Schutzsystem zusammenfassen. Dieses System wurde nun durch die AZG- und ARG-Novelle 2018 massiv aus dem Gleichgewicht gebracht, vielleicht sogar zerstört.

Das Regel-Ausnahme-System bisher

Nach den Erhebungen der Statistik Austria müssen bis dato nur 15 % der österreichischen ArbeitnehmerInnen regelmäßig an Sonn- und Feiertagen arbeiten (weitere 8 % fallweise). Diese Quote ist langfristig gleich geblieben, und in den letzten 20 Jahren war praktisch keine Steigerung bemerkbar. Ein wesentlicher Grund dafür ist ein spezifisches System aus Regeln und Ausnahmen:

  • Jede/r ArbeitnehmerIn hat primär Anspruch auf Wochenendruhe: Samstag ab 13 Uhr sowie den gesamten Sonntag und jeden Feiertag umfassend (Grundprinzip gemäß § 3 Abs. 1 ARG).
  • Zwischen Samstag, 13 Uhr, und Montag früh dürfen ArbeitnehmerInnen grundsätzlich nur beschäftigt werden, wenn eine der allgemeinen Ausnahmeregelungen oder eine der Sonderbestimmungen für bestimmte Betriebe oder Tätigkeiten zum Tragen kommt und dabei nur die unumgänglich notwendige Anzahl von ArbeitnehmerInnen beschäftigt wird (§ 2 Abs. 2 ARG).
  • Die §§ 10 – 22f. ARG regeln rund 20 bis 25 Kategorien von Ausnahmen von der Sonntagsruhe und/oder Feiertagsruhe mittels Gesetz, Verordnung oder Bescheid oder zwecks „Standort- und Arbeitsplatzsicherung“ ausnahmsweise auch durch Kollektivvertrag.
  • Bis 2017 wurden bei einer beabsichtigten Erweiterung des Anhangs zur Ausnahme-Verordnung des Sozialministers § 12-VO so gut wie immer die Sozialpartner (Kollektivvertragsparteien) angehört.

Bis zum 31.8.2018 gab es bloß sieben Ausnahmekategorien im Gesetz (der öffentliche Dienst ist hier nicht erfasst), im Wesentlichen in den genau determinierten  Wirtschaftsbereichen Gesundheitswesen und Sanitärdienste, Urproduktion, unverschiebbare Spezialtätigkeiten in Industrie und Handwerk, Fernmeldewesen, Datenverarbeitung, Gastgewerbe, Touristeninformation und Reiseleitung, Vergnügungsunternehmen, Konferenzen und Kongresse, Kunst, Kultur, Wissenschaft und „Störungsdienste“.

Die zulässigen Tätigkeiten, einschließlich unvermeidbarer Annextätigkeiten, waren bisher einzeln anzuführen und das unbedingt notwendige Zeitausmaß war festzulegen.

Mehrfacher Systembruch

Seit 1.9.2018 besteht ein Systembruch in mehrfacher Hinsicht:

  • Zurück zum wirtschaftsliberalen Prinzip der Vertrags“freiheit“ und der Individualisierung
  • In das öffentliche Schutzrecht (öffentlich-rechtlicher Verwendungsschutz) wird das reine Privatrecht hineingetragen.
  • Bisherige Ausnahmen durch generelle Rechtsnormen (Gesetz, Verordnung, Standortsicherung-Kollektivvertrag) werden nun durch konkret-individuelle Normen ersetzt, nämlich Betriebsvereinbarung (betriebliche Individualisierung bedeutet schwache Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen, es wird außerdem keine Entgeltregelung  in der BV ermöglicht) oder sogar Einzelvereinbarung, und das bei starkem Machtungleichgewicht zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen.
  • Die restriktiven Voraussetzungen, auf welche die Gesetzesmaterialien Bezug nehmen (§ 7 Abs. 4 AZG), nämlich „zur Verhinderung eines unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Nachteils“ kombiniert mit „wenn andere Maßnahmen nicht zumutbar sind“ entfallen.
  • Die Anzahl der unbedingt erforderlichen ArbeitnehmerInnen und das festzulegende Zeitausmaß für die „im einzelnen“ umschriebenen Tätigkeiten entfallen. Durch diese „Liberalisierung“ und Individualisierung der Sonntagsarbeit entfallen die Erfordernisse, dass die unbedingt erforderlichen Tätigkeiten, die daraus resultierende unbedingt erforderliche Anzahl an ArbeitnehmerInnen sowie das erforderliche Zeitausmaß und die zeitliche Lage der „Sonntagsunterbrechung“ vorab zu definieren sind.
  • Nach den Erläuterungen des Gesetzesantrags vom Juli 2018 („Gesetzesmaterialien“) bestehe ein „gewisser“ Benachteiligungsschutz, aber auch dieser bloß bei Überstunden (!).

Ausblick

Wie hoch soll die gegenwärtige Quote von 15 % der ArbeitnehmerInnen, die regelmäßig an Sonn- und Feiertagen arbeiten müssen (v.a. im Gesundheits- und Verkehrsbereich sowie in Tourismus und Gastronomie), nach den Vorstellungen der UnternehmensvertreterInnen steigen?
Wann ist der Plafond erreicht, wann werden die Profitgier und ihre Schwester, die Liberalisierung, genug haben?

 

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 13.11.2018 anlässlich der Vollversammlung der ALLIANZ FÜR DEN FREIEN SONNTAG / SONNTAGSALLIANZ, einer Initiative von gewerkschaftlichen und kirchlichen Organisationen, hielt. Der Beitrag erschien in etwas veränderter Form bereits am 20.12.2018 auf dem Blog der KSOE.