Inflation oder Trittbrettfahrer: Lebensmittelpreissteigerung nur wegen der Energiekrise?

22. Dezember 2022

Die Preissteigerung bei Lebensmitteln wird meistens mit der Energiekrise begründet. Dabei fällt kaum auf, wenn Trittbrettfahrer, wie Finanzinstitutionen und multinationale Agrar- und Lebensmittelkonzerne, dieses Argument ausnützen, um höhere Profite zu erzielen.

Lebensmittelpreise und landwirtschaftliche Einkommen

Die staatlichen Markteingriffe durch Direktunterstützung der Haushalte brachten für die europäischen Bürger:innen eine kurze Atempause. Auch der milde Frühherbst spielte eine positive Rolle. Allerdings nahm die prekäre Situation vieler Bürger:innen in zahlreichen europäischen Staaten zu. Denn die Inflation stieg im Euro-Raum innerhalb eines Jahres von 3,6 Prozent auf fast 11 Prozent. Verbraucher:innen spüren die Auswirkungen vor allem bei den Nahrungsmitteln direkt: Diese sind zwischen September 2021 und September 2022 um 18,7 Prozent teurer geworden, manche sogar um 49 Prozent. In Österreich zeigt sich der Preisdruck insbesondere bei Gemüse (+14,8 Prozent), Brot und Getreideerzeugnissen (+14,4 Prozent), Fleisch (+15,6 Prozent) sowie bei Milch, Käse und Eiern (+19 Prozent). Noch stärker erhöhten sich die Preise für Öle und Fette (+29,8 Prozent) und Butter (+40,2 Prozent). Kein Wunder, dass die Teuerung beim täglichen Einkauf höher war als die Gesamtinflation.

Als Ursache für die Preissteigerung werden u. a. die gestiegenen Energiekosten für Dünge- und Futtermittel auf verschiedenen Ebenen der Verarbeitung und Vermarktung infolge des Ukraine-Krieges genannt. Gewerkschaften hegen jedoch den Verdacht, dass viele Preissteigerungen zwar mit dem Anstieg der Energiekosten begründet werden, diese aber auch als Vorwand dienen, um noch höhere Preise zu lukrieren.

Im Folgenden wollen wir daher den Bereich der Agrar-, Düngemittel- und Lebensmittelbranche näher betrachten. So stiegen beispielsweise die Getreide- und Milchpreise bereits vor dem Krieg stark an, in einer Zeit also, in der sich die Strompreise auf Normalniveau bewegten. Grund dafür waren die hohen Preisnotierungen an den Rohstoffbörsen. Das spiegelt sich im Fall der spezialisierten Getreidebauern mit einem bis zu 40 Prozent gestiegenen Einkommen im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr wider. Insgesamt stiegen die landwirtschaftlichen Einkommen um durchschnittlich 15 Prozent, da die Agrarpreise bereits im zweiten Halbjahr 2021 kräftig anzogen.

Finanzialisierung der Rohstoffbörsen

Um das zu erklären, bedarf es eines Blickes auf die Rohstoffbörsen. Das sind die Orte, an denen über einen standardisierten Prozess der Preis von Rohstoffen verhandelt wird. In sogenannten Terminkontrakten (Futures-Contracts) werden Rohstoffe, noch bevor diese zur Verfügung stehen, also z. B. vor der Ernte, zu einem bestimmten Preis gekauft. Die dahinterstehende Theorie: Der Agrarproduzent kann mit einem fixen Einkommen anlässlich der in der Zukunft liegenden Ernte rechnen, der Käufer erhält eine Lieferzusage zu einem fixen Preis, womit er seine Versorgung mit dem Rohstoff absichert.

Diese Art des Geschäfts wurde informell sogar bereits in der Antike praktiziert. Die erste Warenterminbörse wurde dann 1848 in Chicago gegründet. Beim Handel von Rohstoffen über solche standardisierten Kontrakte nimmt die Börse zusätzlich eine absichernde Rolle ein, indem sie für die Erfüllung des Kontraktes bürgt. Bis zu Beginn der 1970er bestand über die Terminkontrakte noch eine direkte Beziehung zwischen Rohstoffproduzenten (Bauern) und Rohstoffhändlern. Mit der Deregulierung der Rohstoffbörsen in den 1970er Jahren, die sich besonders in den 2000er Jahren verstärkte, fand eine Finanzialisierung des Handels mit Rohstoffen statt.

Was genau bedeutet Finanzialisierung? Finanzmarktakteure beteiligen sich in großem Format als Zwischenhändler am Handel an den Rohstoffbörsen. Sie erwerben dabei einen Terminkontrakt, der sie dazu berechtigt, Rohstoffe zu einem bestimmten Preis geliefert zu bekommen. Anschließend warten sie auf einen Zeitpunkt, an dem der vereinbarte Preis des Terminkontraktes deutlich niedriger ist als auf dem Spotmarkt, wo kurzfristig festgelegte Preise gelten. Je größer die Preismarge ist, desto begehrenswerter ist der Terminkontrakt für andere Spekulanten, und er kann zu hohen Preisen weiterverkauft werden. Rohstoffe werden auf diese Weise viele Male gehandelt, bevor sie zum tatsächlichen Verarbeiter gelangen. Der ursprüngliche Sinn von Rohstoffbörsen, nämlich die Gewährleistung von Preis- und Liefersicherheit für Bauern und Verarbeiter von Rohstoffen wird von anderen Interessen überlagert: Rohstoffbörsen werden von Akteuren gesteuert, die über starke Preisfluktuationen Gewinne generieren. Ihre Entscheidungen sind deshalb nicht von realwirtschaftlichen, sondern von finanzwirtschaftlichen Erwägungen abhängig. Das bedeutet, dass Fundamentaldaten zu Angebot und Nachfrage nicht ausschlaggebend sind, weil die Finanzakteure nicht in den direkten Handel des Rohstoffes involviert sind. Durch ihren eingeschränkten Zugang zu Marktinformationen über die Realwirtschaft entsteht ein Informationsmangel, der durch das sogenannte „Herdenverhalten“ ausgeglichen wird. Finanzmarktakteure orientieren sich an anderen Marktteilnehmern. Dadurch werden Trends, die durch realwirtschaftliche Ursachen entstehen, massiv über Spekulation verstärkt, wie es die exponentiellen Preissteigerungen aufgrund des Ukraine-Kriegs unter Beweis stellen.

Monopole in der Agrar- und Lebensmittelindustrie

Aus der Unsicherheit der Finanzakteure und den realwirtschaftlichen Angebotsschocks schlagen die dominierenden Rohstoffhändler im Agrarbereich, die sogenannte ABCD Group (ADM, Bunge, Cargill and Louis Dreyfus), die 70 bis 90 Prozent des globalen Getreidehandels abdecken, ihren Profit.

Die ABCD Group konnte auf diese Weise ihre Gewinne steigern (z. B. ADM im Vergleich zum Vorjahr um über 20 Prozent, Cargill um knapp 30 Prozent) und entlang der gesamten Lebensmittellieferketten expandieren. „Die globalen Getreidemärkte sind noch stärker konzentriert als die Energiemärkte und noch weniger transparent, sodass die Gefahr der Profitmacherei groß ist“, so ein Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems. Ihre Marktmacht kann sich sogar mit derjenigen von Saatgut- und Düngeranbietern messen.

Die Preise für Dünger stiegen seit 2020 um 300 Prozent – also bereits vor dem Ukraine-Krieg. Der Preisanstieg verlief parallel zur Monopolisierung der Düngeranbieter und des Saatgutmarktes. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich dieser Markt stark verengt: Die Big Six der Saatgutproduktion wurden – zuletzt durch die Fusion von Bayer und Monsanto (2018) – auf Big Four reduziert: Bayer-Monsanto, DowDuPont/Corteva, ChemChina-Syngenta, BASF. DowDuPont/Corteva hat das Wachstum um 8 Prozent gesteigert und gleichzeitig sind die Gewinne um 27 Prozent und damit noch um 10 Prozent stärker im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, und dies trotz steigender Energiepreise.

Aber auch große Nahrungsmittelverarbeiter spielen eine zentrale Rolle im System, wobei besonders Nestlé, Unilever und Coca-Cola eine starke Position haben. Es spricht vieles dafür, dass starke Marken die Preise erhöhen können, ohne dass das Unternehmen Kund:innen verliert. So etwa verzeichnete Nestlé 2022 in den neun Monaten bis Ende September 2022 ein Wachstum von 8,5 Prozent. Dies gelang durch die Kunst des richtigen „Pricings“, also die für den Unternehmenserfolg optimale Preissetzung: Angesichts rapide steigender Transport- und Rohstoffkosten versteht man darunter das Geschick, die Preise deutlich zu erhöhen, ohne die Kund:innen zur günstigeren Konkurrenz zu treiben. Aufgrund ihrer Marktposition (mit bekannten Marken von Nespresso über San Pellegrino bis Kitkat) gelang es dem Konzern, trotz Preiserhöhungen von durchschnittlich 6,5 Prozent den Warenabsatz und damit den Umsatz gegenüber dem Vorjahr zu steigern und damit entsprechend Gewinn zu generieren.

Auch Unilever verzeichnete eine Gewinnsteigerung von 17 Prozent im zweiten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr – unter dem Vorwand steigender Energiepreise. „Zahlreiche Konzerne versuchen, auf der aktuellen Inflationswelle mitzureiten“, stellt ein Edeka-Chef fest. Er beobachte „immer häufiger unfaire Industriepraktiken“.

Nicht nur das Wettbewerbsrecht ist gefordert …

Die aufgezeigte Konzentration im Agrar- und Lebensmittelsektor zeigt, dass die Unternehmen ihre Oligopol- bzw. Monopolstellung nützen, um aus der daraus resultierenden Abhängigkeit Profit zu schlagen. Es wird Aufgabe der Wettbewerbsbehörden sein, angeblich aus den Energiepreisen induzierte Preissteigerungen in anderen Märkten genau unter die Lupe zu nehmen. Die österreichische Wettbewerbsbehörde (BWB) hat dies bereits bezüglich des Kraftstoffmarkts getan und plant weitere Branchenuntersuchungen. Damit diese Untersuchungen nicht folgenlos im Raum stehen bleiben, hat die AK Wien einen Antrag auf Einleitung eines Preisprüfungsverfahrens gestellt. Aber auch im Lebensmittelbereich bleibt die BWB nicht untätig: Sie plant eine Branchenuntersuchung im Lebensmittelbereich. Der deutsche Wirtschaftsminister schlägt vor, dass in Zukunft Sektoruntersuchungen, die Wettbewerbsdefizite feststellen, mit Konsequenzen in Form von Auflagen und Markteingriffen verknüpft werden.

… sondern auch die Politik

Dass hohe Marktkonzentration nicht im Sinne der Beschäftigten und Verbraucher:innen ist, hat die EU-Kommission schon 2019 erkannt. Allerdings sind die Pläne zu einem Markteingriff bis hin zur Zerschlagung marktmächtiger Unternehmen, das sogenannte „neue Zusatzinstrument zur besseren Durchsetzung des Wettbewerbs“ (Competition Tool), wieder in der Schublade verschwunden. Der deutsche Wirtschaftsminister hat mit seinem Reformvorschlag für das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen die Idee der Zerschlagung von oligopolistischen Marktstrukturen wieder in Diskussion gebracht. Aber auch Überlegungen zur stärkeren Regulierung von Rohstoffbörsen werden wieder lauter. Ein erster wichtiger Schritt ist jedenfalls getan: Mit der EU-Dringlichkeitsverordnung wurde sichergestellt, dass zumindest im Energiebereich ein Teil der Übergewinne abgeschöpft wird.

Gewerkschaften fordern eine rasche Umsetzung in Form einer Übergewinnsteuer sowie die Einsetzung einer Anti-Teuerungs-Kommission, die regelmäßig Preise und Preiserhöhungen auf ihre volkswirtschaftliche Rechtfertigung prüft und gegebenenfalls Preisprüfungsanträge nach dem Preisgesetz einfordert. Nur so kann vermieden werden, dass Oligopole ihre marktmächtige Stellung zulasten der Beschäftigten und Konsument:innen ausnützen.

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