Der neue Nationale Aktionsplan (NAP) für Menschen mit Behinderungen muss dafür genutzt werden, längst überfällige gewichtige Schritte in Richtung der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu setzen – einschließlich eines inklusiven und barrierefreien Arbeitsmarkts. Dazu braucht es aber noch viele weitere Maßnahmen, ambitioniertere Zeitpläne und die Sicherstellung der erforderlichen Budgetmittel für den Zeitrahmen 2022 bis 2030.
UN-Konvention gibt Standards vor
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN–Behindertenrechtskonvention, UN‑BRK) ist ein internationales rechtsverbindliches Instrument, in dem Mindeststandards für die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgelegt sind. Die UN-BRK wurde als Menschenrechtsübereinkommen durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Jahr 2006 beschlossen und gilt als große Errungenschaft, weil sie einen Paradigmenwechsel herbeigeführt hat: Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist fortan ein Menschenrecht, das es zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten gilt.
Österreich hat das Übereinkommen 2008 ratifiziert, und es ist am 26. Oktober 2008 in Kraft getreten. Gesetzgebung sowie Vollziehung von Bund, Ländern und Gemeinden sind damit verpflichtet, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen.
NAP I – Ziele und Maßnahmen, aber wenig Klarheit bei Indikatoren und Finanzierung
Als Strategie der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK in Österreich wurde 2012 ein Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012–2020 (NAP Behinderung I) erstellt. Der Aktionsplan sollte die Leitlinien der österreichischen Politik für Menschen mit Behinderungen bis zum Jahr 2020 darstellen. Er umfasste Zielsetzungen sowie konkrete Maßnahmen in einem breiten inhaltlichen Feld, die beispielsweise von Barrierefreiheit und Schutz vor Diskriminierung über Bildung, Beschäftigung und Selbstbestimmtes Leben bis hin zur Gesundheit reichten.
Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Rahmen Institutionen zu, die die Einhaltung der UN-BRK begleiten. Dazu zählen der im Bereich des Bundes eingerichtete unabhängige Monitoringausschuss, der die Einhaltung der UN-BRK überwacht und dazu umfassende Berichte, Stellungnahmen, Begutachtungen und Empfehlungen verfasst, die Behindertenanwaltschaft, die Vertretungen von Menschen mit Behinderungen (z. B. Österreichischer Behindertenrat u. a.) und die Volksanwaltschaft. Sie haben in der Folgezeit fortgesetzt notwendige Verbesserungen eingefordert.
Obwohl der damalige NAP Behinderung als Instrument und die enthaltenen Zielsetzungen und Maßnahmen allgemein begrüßt wurden, kritisierten viele schon damals – darunter auch die Arbeitnehmer:innenvertretungen – die unzureichende Festlegung von Indikatoren zur Messung der Zielerreichung im NAP. Dasselbe traf für die budgetäre Ausstattung (und damit zumeist auch den Umfang) der Maßnahmen zu, die offen blieb.
UN-Ausschuss für Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigte Probleme und Handlungsbedarf auf
Doch nicht nur innerstaatlich gab es Kritik. Die Vertragsparteien des Übereinkommens – so auch Österreich – müssen den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Ausschuss) regelmäßig in Form von Staatenberichten über die getroffenen Umsetzungsmaßnahmen informieren und diese werden vom UN-Ausschuss überprüft und bewertet. Nach der Übermittlung des ersten Berichts Österreichs erfolgte im September 2013 die erste Staatenprüfung Österreichs auf Einhaltung der UN-BRK.
Das Ergebnis zeigte jedenfalls weiteren Handlungsbedarf: Zwar wurde die Verabschiedung des NAP Behinderung positiv gewürdigt und es gab Lob für Erfolge, wie etwa die Verankerung der Gebärdensprache in Art. 8 Abs. 3 der Bundesverfassung und die Schaffung des Monitoringausschusses. Der Bericht des UN-Ausschusses zeigte aber auch viele bestehende Problemfelder auf und sprach mehrere Handlungsempfehlungen aus. Diese betrafen vor allem:
- die Zersplitterung der Politik für Menschen mit Behinderungen zwischen Bund und Ländern
- das veraltete Wohltätigkeitsmodell im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen – anstelle deren Anerkennung als Inhaber:innen aller Menschenrechte
- die mangelnde Barrierefreiheit, insbesondere auf dem Land
- den Mangel an (sozialen) Dienstleistungen für Frauen mit Behinderung
- den notwendigen Ausbau von Maßnahmen zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt
- größere Anstrengungen für inklusive Bildung
- ausreichende finanzielle Unterstützung für Persönliche-Assistenz-Programme
- größere Anstrengungen zur De-Institutionalisierung, damit Menschen mit Behinderungen frei wählen können, wo und wie sie leben wollen
Faktum ist, dass es noch viele Maßnahmen braucht, um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen.
NAP II – viel zu wenig Konkretes bei Maßnahmen und Budget
2019 begannen daher die Arbeiten an den Inhalten für einen weiteren NAP Behinderung bis 2030. In diesen wurden große Erwartungen gesetzt. Zum einen wurde der NAP Behinderung I einer wissenschaftlichen Evaluierung durch die Universität Wien unterzogen, deren Ergebnisse in den neuen Aktionsplan einfließen sollten. So enthielt die Evaluierung wesentliche Empfehlungen für die Erstellung des neuen NAP Behinderung 2022–2030, insbesondere zu den Themenbereichen Diskriminierungsschutz, Barrierefreiheit, inklusive Bildung, Beschäftigung und Selbstbestimmtes Leben. Zum anderen wurden in den Prozess der Erstellung des neuen Nationalen Aktionsplans auch umfassende Beiträge von Vertretungen von Menschen mit Behinderungen und anderen Stakeholdern eingebracht.
Der im Mai 2022 ausgeschickte Begutachtungsentwurf erntete – auch aus Arbeitnehmer:innensicht – zahlreiche kritische Stellungnahmen.
Die Fortführung des NAP Behinderung wird zwar ausdrücklich begrüßt und auch anerkannt, dass der neue NAP viele wichtige Zielsetzungen und Maßnahmen enthält. Bemängelt wird jedoch, dass oft Konkretisierungen hinsichtlich Quantität und Qualität der Maßnahmen sowie ambitionierte Zeitpläne fehlen und noch viele weitere konkrete Maßnahmen erforderlich sind. Besonders kritisiert wird die fehlende Festlegung der erforderlichen Budgetmittel für einen ambitionierten NAP Behinderung 2022–2030: Neben den Vertretungen der Menschen mit Behinderungen schlägt auch der Bundesbehindertenbeirat dazu die Schaffung eines ausreichend dotierten Inklusionsfonds vor.
Schwierige Arbeitsmarktsituation
Aus Arbeitnehmer:innensicht ist die unverändert schwierige und oft prekäre Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen ein Thema, das deutlich mehr Aufmerksamkeit, Maßnahmen und entsprechende budgetäre Mittel erfordert: Nach dem Konzept des Art. 27 der UN-BRK sollen Menschen mit Behinderungen in einem offenen, inklusiven und barrierefrei zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld beschäftigt sein und die Möglichkeit haben, einen angemessenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu verdienen. Faktum ist aber, dass sie in Österreich deutlich schlechter am Arbeitsmarkt Fuß fassen können als Menschen ohne Behinderungen und sie Arbeitslosigkeit besonders hart trifft.
Auch wenn die aktuelle Arbeitslosigkeit im Vergleich mit August 2019 – also vor Ausbruch der Corona-Pandemie – insgesamt gesunken ist, so ist die Situation von Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Personen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt weiterhin problematisch, weil Menschen mit Behinderungen deutlich stärker von Langzeitbeschäftigungslosigkeit und in weiterer Folge von Armut betroffen sind.
Es ist daher dringend notwendig, für arbeitsuchende Menschen mit Behinderungen mit Hilfe der aktiven Arbeitsmarktpolitik und konkreter Förderangebote mehr gute Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen:
- Das AMS muss wirksame Anstrengungen für die Vermittlung von Menschen mit Behinderungen auf nachhaltige Arbeitsplätze leisten und Diskriminierungen bei der Meldung von offenen Stellen durch Unternehmen verhindern. Hierzu bedarf es mehr entsprechend geschultes Personal für das AMS, um optimale Betreuungsqualität sicherzustellen.
- Die breite Palette an Fördermöglichkeiten durch das AMS muss insbesondere auch Menschen mit Behinderungen und Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen zur Verfügung stehen. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf Frauen und Jugendliche sowie Menschen ab 50 Jahren zu legen.
- Es bedarf längerfristiger und individuell abgestimmter Qualifizierungsförderungen mit dem Ziel, die dauerhafte Inklusion in den Arbeitsmarkt zu erreichen; individuelle Qualifizierungsbestrebungen sind eigens zu unterstützen. Daher sollen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen bzw. Behinderungen bei den Qualifizierungsförderungen des AMS noch gezielter berücksichtigt werden.
- Existenzsichernde Beschäftigung im gemeinnützigen Bereich bzw. auf dem zweiten Arbeitsmarkt ist für jene Menschen anzubieten, die am ersten Arbeitsmarkt keine Beschäftigung (mehr) finden. Die Arbeiterkammer hat hierzu ein eigenes Modell, die „Chance 45“ entwickelt.
- Die angekündigte Arbeitslosenversicherungsreform muss gezielte Schwerpunkte bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt setzen und die hierfür benötigten budgetären Mittel beinhalten. Keinesfalls darf es zu verschlechterten Leistungen für Langzeitarbeitslose kommen, da dies prekäre Lebenslagen noch verschärfen würde.
Am 6. Juli 2022 wurde im Ministerrat der NAP Behinderung II für die Jahre 2022 bis 2030beschlossen.
Fazit
Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen sicherzustellen, ist noch viel zu tun. Die dringenden Handlungsnotwendigkeiten wurden klar aufgezeigt und zahlreiche Vorschläge von unterschiedlichen Akteur:innen eingebracht. Die Umsetzung des NAP Behinderung II muss nun zeigen, wie ernst es den einzelnen Ministerien und den Bundesländern und Gemeinden dabei ist, die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen nachhaltig zu verwirklichen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, bevor Österreichs Umsetzung der UN-Konvention erneut Thema der kritischen Analyse durch den UN-Ausschuss in Genf sein wird: Die nächste Staatenprüfung wird voraussichtlich 2023 stattfinden.