Statt degressivem Arbeitslosengeld: Nachfrage und Beschäftigung ankurbeln!

01. Juni 2021

Der Arbeitsmarkt ist in einer schweren Krise. Langzeitarbeitslosigkeit und zunehmend unsichere Beschäftigungsverhältnisse haben während der Corona-Pandemie zugenommen und drohen auch nach dem wirtschaftlichen Aufschwung zu bleiben. Verschärfungen und über die Zeit abnehmende Leistungen der Arbeitslosenversicherung verschärfen die Situation für die Betroffenen und zögern die wirtschaftliche Erholung hinaus. Stattdessen braucht es eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes und eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die existenzsichernde Arbeitsplätze schafft.

Regierung und Wirtschaft fordern umstrittene Arbeitslosengeldreform

Die konkreten Vorschläge der Regierung für die Zukunft der österreichischen Arbeitsmarktversicherung sind höchst umstritten. Regierungsmitglieder und Interessenvertretungen der Wirtschaft haben sich seit Sommer 2020 immer wieder für eine Neugestaltung des Arbeitslosengeldes ausgesprochen. Sie wollen mit der Zeit sinkende Auszahlungen und Verschärfungen der Zumutbarkeitsbestimmungen.

Die Kritik daran: Die Maßnahmen treffen die Falschen – Arbeitslose können sind in der Regel weder für den Jobverlust verantwortlich, noch können sie eine neue Anstellung finden, wenn es keine gibt. Im April 2021 gab es pro offener Stellen mehr als vier arbeitssuchende Menschen. Gleichzeitig wären die Folgen der andiskutierten Reform tiefgehend: Niedrigere Zahlungen erhöhen das Armutsrisiko und verstärken eine soziale Spaltung. Statt bei den Betroffenen der Krise anzusetzen, muss die Politik dafür sorgen, dass mehr Menschen ein Job angeboten wird und dass Menschen weniger einfach gekündigt werden können.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO hat seit 2016 konkrete degressive Modelle durchgerechnet. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Umgestaltungen nur dann günstiger kommen, wenn viele junge und kranke Menschen vom Bezug ausgeschlossen werden. Billiger ist ein degressives Arbeitslosengeld also erst mal nicht.

Tatsächlich sind sich die meisten Wirtschafts- und Sozialwissenschafter*innen einig, dass Verschärfungen bei sozialstaatlichen Leistungen kaum positive Effekte auf die Beschäftigung haben. Das gilt zumindest, solange sich die Expert*innen konkrete Daten ansehen. Manche Vorschläge, wie zum Beispiel das degressive Arbeitslosengeld, sind sogar schädlich für eine Erholung des Arbeitsmarkts. Sobald nämlich die verfügbaren Einkommen sinken, geht auch der Konsum zurück: Weniger Nachfrage bedeutet auch weniger Gründe für Firmen, Erwerbslose einzustellen.

Selbst konservative Ökonom*innen halten degressive Modelle für sinnlos. Sie gehen zwar davon aus, dass die mit Druck und Anreizen auf einzelne Arbeitslose zielen würden, finden aber in den Daten keine positiven Effekte durch kürzere oder sinkende Auszahlungen. Keynesianer*innen, also Ökonom*innen die Konsumnachfrage und Investitionen als Motor der Wirtschaft verstehen, gehen in ihrer Kritik aber noch einen Schritt weiter.

Sie argumentieren, dass die Details der Arbeitslosenversicherung für die Lebensrealität der Betroffenen wichtig, für das allgemeine Beschäftigungsniveau aber zweitrangig sind. Beschäftigung hängt nicht von der Motivation der Arbeitssuchenden, sondern davon ab, wie viel Arbeit von Firmen (oder Institutionen) nachgefragt wird. Das ist wiederum von der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und dem gesamtgesellschaftlich verfügbaren Einkommen abhängig. Wer also das Beschäftigungsniveau heben möchte, muss sicherstellen, dass Konsument*innen konsumieren und der Staat Aufträge an Unternehmen vergibt (investiert).

Die Gesamtwirtschaft ist zentral

Aus keynesianischer Perspektive stößt der Vorschlag eines degressiven Arbeitslosengeldes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Unverständnis. Ihre makroökonomische Kritik am Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und sozialer Absicherung (wie lange und wie viel Transferleistungen ausgezahlt werden) hebt stattdessen hervor, dass die Nachfrage nach Gütern zentral für die Nachfrage nach Arbeit ist (beispielsweise Stockhammer und Klär 2011 oder Heimberger, Kapeller und Schütz 2017). Die Erklärung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsmarktinstitutionen ist vereinfachend, weil entscheidende Variablen in den Untersuchungen (nämlich die des Gütermarktes) fehlen. Diese Autor*innen erklären, dass die hauptsächliche Ursache von Arbeitslosigkeit ein Rückgang bei der Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern ist.

Je mehr Konsument*innen, der Staat und Firmen nachfragen, desto mehr werden Firmen investieren, und in dem Ausmaß wird das Kapital der Unternehmen wachsen. Weil für die Verwendung neuer Produktionsanlagen in der Regel auch Arbeitskräfte eingestellt werden, schränkt ein geringeres Wachstum von Kapital das Beschäftigungswachstum ein. Es gibt auch einen gegenläufigen Effekt, das Ersetzen von Beschäftigten durch arbeitssparende Technologien, der ist im Schnitt aber kleiner. Solange also die Auftragsbücher leer sind und Unternehmen keine positive Geschäftsentwicklung erwarten, wird keine Arbeit nachgefragt. Auch eine weitere Arbeitsmarktflexibilisierung wird dann nichts an der Arbeitslosigkeit ändern.

Dass mangelnde Nachfrage für das Beschäftigungsniveau wichtiger als die Gestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen ist, zeigt sich auch in den Daten. Eine Untersuchung in neun Ländern der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zeigt diesen Zusammenhang zwischen stotternden Investitionen (der „Lücke in der Kapitalakkumulation“) und hoher Arbeitslosigkeit (Arestis, Baddeley und Sawyer 2007). Die Autor*innen empfehlen auf Basis ihrer Ergebnisse, von einer Deregulierung des Arbeitsmarkt abzusehen.

In einem anderen Beispiel zeigen Karanassou, Sala und Salvador (2008) für Schweden, Finnland und Dänemark, wie wichtig der Kapitalstock ist, um die durchschnittliche Länge und Intensität der Arbeitslosigkeit zu erklären. In Dänemark können mit dem Einbruch in der Kapitalakkumulation in den 1980er- und 1990er-Jahren zwischen 15 und 30 Prozent des Anstiegs in der Arbeitslosenquote erklärt werden. In Schweden sind es sogar 50 Prozent des Anstiegs der Arbeitslosigkeit zwischen 1991 und 1997.

Soziale Absicherung nicht zerstören

Während der Corona-Krise hat sich die fehlende Arbeitsnachfrage manifestiert. Daran wird sich so schnell nichts ändern: Prognosen wie vom Institut für Wirtschaftsforschung gehen davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt erst bis 2025 erholen wird.

Während die allgemeinen Beschäftigungszahlen sich seit 2021 etwas erholen, ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen stark gestiegen. Die würden in einem degressiven Arbeitslosengeld-Modell aber besonders schwere Einkommensverluste erleiden. Das wirkt sich wiederum negativ auf die Konsumnachfrage aus und kann die wirtschaftliche Erholung weiter verzögern. Auch deshalb ist es ein Problem, dass die Regierung Vorschläge nach einer Erhöhung der Leistungen ignoriert und sich stattdessen Schikanen überlegt.

Es ist grundsätzlich einmal nicht gesagt, dass eine wirtschaftliche Erholung zu Neu- und Wiedereinstellungen führt. Unternehmen können auch durch Arbeitszeitausweitung und Arbeitsverdichtung auf die gestiegene Nachfrage reagieren. Das wird besonders oft geschehen, wenn nicht nur hochausgebildete und kurzzeitig arbeitslose Fachkräfte am AMS gemeldet sind, sondern vor allem Langzeiterwerbslose oder Personen, die gerade eine Umschulung begonnen haben. Auch hier ist aktive und unterstützende Arbeitsmarktpolitik gefragt.

Statt der Schikane von Arbeitssuchenden muss die Regierung endlich Verantwortung übernehmen und sicherstellen, dass es genügend Arbeitsplätze für alle gibt. Die bereits mangelnde soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit gehört ausgebaut, nicht weiter gekürzt. Ein höheres Arbeitslosengeld, das vor Armut schützt, ist notwendig.

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