Die Lücken in der europäischen Digitalisierungsstrategie

20. August 2021

Seit etwa zwei Jahren verfolgt die Europäische Kommission eine eigene EU-Digitalisierungsstrategie. Das Vorhaben stellt eine der wichtigsten Prioritäten für die nächsten Jahre dar, mehrere einschlägige Gesetzesvorhaben werden bereits verhandelt. Eine Strategie, die grundsätzlich zu begrüßen ist, bei der aber leider festzustellen ist, dass Anliegen von Beschäftigten und KonsumentInnen nur wenig berücksichtigt werden.

Erste Regulierungsschritte bringen neue Pflichten für den Digitalsektor

Regulierungsmaßnahmen im Digitalsektor auf EU-Ebene sind seit Langem überfällig. Zu lange wurden digitalen Konzernen Freiheiten eingeräumt, die letztlich auf Kosten von Beschäftigten, KonsumentInnen sowie lokalen Unternehmen gegangen sind. Erste Schritte sind unter anderem mit Gesetzesvorschlägen zu den digitalen Dienstleistungen und dem digitalen Binnenmarkt sowie zur künstlichen Intelligenz und einem Daten-Governance-Gesetz bereits gemacht worden.

Die Narrenfreiheit, die in manchen Bereichen für Digital-Unternehmen bisher geherrscht hat (insbesondere das Ausnutzen von monopolähnlichen Situationen, mangelnder KonsumentInnenschutz, fehlende Rechte für Beschäftigte von Online-Plattformen), dürfte damit zumindest teilweise eingeschränkt werden. Tatsächlich enthalten die ersten Kommissionsvorschläge zum digitalen Sektor zahlreiche neue Pflichten für digitale Konzerne, die vor allem für einen faireren Wettbewerb sorgen sollen.

Verbesserungen für KonsumentInnen gibt es auch – allerdings mit sehr deutlichen Einschränkungen. So sind beispielsweise bei den digitalen Dienstleistungen nun Regelungen wie die Registrierung und Rückverfolgbarkeit des Online-Unternehmens, das über die Plattform Geschäfte treiben möchte, vorgesehen. Sicher eine Maßnahme, die für mehr Vertrauen bei den VerbraucherInnen sorgen könnte. Für falsche Angaben haften die Plattformen jedoch nicht, was den Wert dieser Neuerung wieder deutlich reduziert. Positiv ist auch, dass Werbung als solche zu kennzeichnen ist, womit mehr Transparenz geschaffen wird. Selbst offenkundig rechtswidrige Werbung muss von den Plattformen aber nicht herausgefiltert werden. Diese haften auch nicht für Schäden, die KonsumentInnen aufgrund betrügerischer Werbung entstehen.

Auch datenschutzrechtliche Regelungen sind, wie unten näher ausgeführt, sehr zu hinterfragen. Nachbesserungsbedarf ist hier klar gegeben, eine Chance dazu bieten die laufenden Verhandlungen im Rat und im Europäischen Parlament.

Pläne der Europäischen Kommission für die kommenden Monate

Wie groß der Aufholbedarf bei der Digitalisierung in den einzelnen Lebensbereichen ist, zeigt der Digital Economy and Society Index (DESI): Dieser Index zeigt auf, dass die Digitalisierung in den Mitgliedstaaten noch lange nicht abgeschlossen ist. Selbst bei den führenden skandinavischen Ländern besteht noch Potential, erst recht für die südosteuropäischen Mitgliedstaaten am Ende des Rankings (Österreich befindet sich im Mittelfeld).

Weitere Maßnahmen im Bereich der Digitalisierung sollen daher laut der Kommissions-Mitteilung zur digitalen Dekade 2030 in den nächsten Monaten folgen. So kündigt die EU-Behörde eine Qualifizierungsoffensive an, die dazu führen soll, dass 80 Prozent der 16–74-Jährigen bis 2030 zumindest über digitale Grundkompetenzen verfügen soll. Begrüßenswert, weil es noch immer zahlreiche Menschen gibt, die mangels Anbindung oder Basisbildung keinen Zugang zum Internet haben. In Österreich differiert die Nutzung sehr stark nach Alter, Bildung und Geschlecht. Bei den über 60-Jährigen nutzen nur 75 Prozent das Internet, bei den über 70-Jährigen sind es sogar nur 55 Prozent.

Die digitale Infrastruktur soll nach der Kommission weiter ausgebaut werden hin bis zur Schaffung von europäischen Rechenzentren und Quantencomputern, die die Unabhängigkeit der EU auf diesem Gebiet sicherstellen sollen. Im Einklang mit diesem Plan sollen auch Maßnahmen gesetzt werden, um die Digitalisierung der Unternehmen voranzutreiben. 2030 sollen bereits drei von vier Unternehmen Cloud-Computing-Dienste, Big Data und künstliche Intelligenz nutzen sowie 90 Prozent der KMU zumindest grundlegende digitale Anwendungen verwenden. Auch die öffentlichen Dienste sollen weiter digitalisiert werden, auf internationaler Basis Digitalpartnerschaften mit Drittländern angestrebt werden. Um dies zu erreichen, werden eigene Industrieallianzen zum Aufbau strategisch relevanter Cloud-Technologien gebildet.

Hervorgehoben wird insbesondere auch das Vorhaben, wichtige Sektoren wie den Gesundheits-, den Pflege- und den Verkehrsbereich sowie die Landwirtschaft zu digitalisieren. Wenngleich diese Pläne durchaus Vorteile haben können wie die Früherkennung von Krankheiten oder eine optimierte, klimaverträglichere Agrarproduktion, werden hier aber Schwachstellen deutlich. Denn mit der Anwendung digitaler Programme verbunden ist das Sammeln privater Daten von großen Teilen der Bevölkerung. Neben der Frage, wie die Daten vor missbräuchlicher Verwendung geschützt werden können, ist auch zu hinterfragen, ob es überhaupt Sinn macht, jeden Teilbereich zu digitalisieren. Ein Roboter beispielsweise wird das Bedürfnis nach sozialen Kontakten nicht ersetzen können.

Gravierende Mängel beim Datenschutz

Konzepte zum Schutz der Daten fehlen jedoch in der Mitteilung zur digitalen Dekade, obwohl es beispielsweise im Gesundheitsbereich um besonders sensible Informationen geht. Im bereits veröffentlichten „Daten-Governance“-Vorschlag ist sogar vorgesehen, dass öffentliche Stellen auch geschützte Daten an die kommerzielle Datenindustrie weitergeben können, was aus grundrechtlicher Sicht höchst bedenklich ist.

Informationen, die mithilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz analysiert und verarbeitet werden, können zwar für nützliche Anwendungen genutzt werden. KonsumentInnen verlieren damit zusehends ihr Selbstbestimmungsrecht über ihre Daten. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Daten für Überwachungszwecke, diskriminierende oder manipulative Ziele verwendet werden.

Diese ganz erheblichen Mängel bei der Verwendung der Daten müssen im Sinne der Betroffenen jedenfalls noch dringend berücksichtigt werden.

Beschäftigte bei digitaler Transformation kaum ein Thema

Die Pandemie hat nachdrücklich gezeigt, dass die Digitalisierung längst in der Arbeitswelt angekommen ist. Was fehlt, sind jedoch entsprechende rechtliche Rahmenbestimmungen. Die Leistung von MitarbeiterInnen, angefangen von EssenzustellerInnen bis hin zu ManagerInnen, wird heutzutage oft mittels Algorithmen beurteilt. Wer überprüft jedoch, ob die Ergebnisse, die am Ende der Verarbeitung der Daten herauskommen, auch korrekt sind? Was passiert, wenn aufgrund fehlerhafter Ergebnisse falsche Entscheidungen getroffen werden, beispielsweise Beschäftigte gekündigt werden? Zudem könnten Algorithmen diskriminierende Abläufe fortschreiben beziehungsweise sogar festigen, was in der Praxis strikt zu vermeiden ist. Wer übernimmt für die Algorithmen letztlich die Verantwortung? In den Mitteilungen der Europäischen Kommission gibt es darauf bislang keine Antworten.

Direkt damit zusammen hängt auch die Frage der Mitbestimmung der Beschäftigten im Rahmen der Digitalisierung und Automatisierung. Auch dazu fehlt es bei der Kommission bislang an jeglicher Auseinandersetzung, obwohl die Einbindung von ArbeitnehmerInnenvertretungen, wie das Beispiel oben zeigt, immer drängender wird. Davon hängt auch ab, ob die Digitalisierung dazu genutzt wird, um die Arbeitsplätze aufzuwerten und eine Humanisierung der Arbeit zu unterstützen oder ob es zu einer Abwertung von menschlicher Arbeit durch Digitalisierung kommt.

Eine Ausnahme stellen die Arbeiten der Europäischen Kommission an einem Rechtsrahmen für die Arbeitsbedingungen von Online-Plattform-MitarbeiterInnen dar. Bislang werden die meisten Plattform-Beschäftigten als zumeist Scheinselbständige engagiert. Die MitarbeiterInnen haben dadurch keine fixen Arbeitszeiten, keinen fixen Lohn, keinen Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, selbst das Arbeitsmaterial müssen sie zumeist selbst finanzieren. Derzeit laufen noch Verhandlungen zu dem Rechtsrahmen auf Ebene der EU-Sozialpartner. Nachdem BusinessEurope als Teil der Sozialpartnerschaft jedoch schon seit über einem Jahrzehnt jegliche Sozialpartnereinigung blockiert, ist auch im Fall des geplanten Gesetzes zu den Arbeitsbedingungen für PlattformarbeiterInnen keine Einigung zu erwarten. Die Kommission wird in diesem Fall jedoch selbst Initiative ergreifen und einen Vorschlag vorlegen. Allerdings verzögert sich die Vorlage des Gesetzesrahmens voraussichtlich bis 2022.

Vorrang für Unternehmen statt für Beschäftigte und Gesellschaft?

Im Zuge des digitalen Wandels gibt es viel zu tun. Die Europäische Kommission ist gefordert, die nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die bisher gesetzten Maßnahmen und vorgelegten Pläne vermitteln jedoch den Eindruck, dass es der Kommission vor allem darum geht, ideale Bedingungen für die Geschäftswelt im digitalen Sektor zu schaffen. Neue Regeln für einen besseren Schutz der VerbraucherInnen und der Gesellschaft gibt es zwar, diese sind aber sehr lückenhaft und haben im Fall des Datenschutzes sogar Gefahrenpotential.

Am wenigsten geht die Europäische Kommission bislang auf die Beschäftigten ein. ArbeitnehmerInnen sind mit zahlreichen rechtlichen Unsicherheiten konfrontiert, Arbeitskräfte auf Online-Plattformen befinden sich teilweise überhaupt im rechtsfreien Raum. Immerhin ist im Falle der Plattformen ein Vorschlag der Kommission in Sicht, bei anderen beschäftigungspolitischen Fragestellungen fehlt es bislang jedoch an jeglicher Auseinandersetzung auf EU-Kommissionsebene.

Bleibt zu hoffen, dass zumindest der Rat und das Europäische Parlament entsprechende Nachschärfungen einfordern.

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