Lobbying auf EU-Ebene: Auf wen hört die Europäische Kommission?

03. März 2021

Lange Zeit war auf EU-Ebene festzustellen, dass sich Politiker*innen häufig an den Interessen von Konzernvertreter*innen orientieren, während Nichtregierungsorganisationen und Arbeitnehmer*innenvertretungen das Nachsehen haben. Erstmals seit vielen Jahren ist hier jedoch eine Änderung zu beobachten. Zusammenhängen könnte dies mit den zahlreichen Krisen, die die EU in den letzten Jahren erlebte, die nun in einer Pandemie und einer veritablen Klimakrise gipfelt.

Offene Türen für die Anliegen großer Konzerne in der EU-Kommission

Ein aktueller Beitrag von Marcel Hanegraaff und Arlo Poletti von den Universitäten Amsterdam und Trentino zeigt, wie stark sich die Orientierung der Europäischen Kommission seit 2008 in Richtung großer Konzerne verlagert hat. Waren zwischen 2008 und 2010 ein Viertel der Termine Gespräche von Kommissionsbeamt*innen mit Unternehmensvertreter*innen, so hat sich dieser Anteil zwischen 2014 und 2019 auf mehr als 40 Prozent erhöht. Bei den höchsten Vertreter*innen in der Kommission fallen diese Zahlen noch um einiges eindeutiger aus: Transparency International erfasst bereits seit Ende 2014 systematisch alle Treffen der Spitzenbeamt*innen und Kommissar*innen und kommt auf dieser höchsten Entscheidungsebene zwischen Ende 2014 und 2019 auf einen Anteil von mehr als 71 Prozent. Das macht deutlich, welchen Anliegen die Europäische Kommission in diesem Zeitraum den Vorzug gegeben hat.

EU-Kommission unter Druck

Ende 2019 hat nun ein neues Kommissionskollegium unter der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sein Amt angetreten. Ist weiterhin eine Orientierung an den Wünschen von Konzernen und Unternehmensvertretungen zu erwarten? Die Beobachtungen ergeben ein geteiltes Bild. Für eine Änderung bei den bisher getroffenen Terminprioritäten sprechen folgende Punkte:

  • Erstens hat sich die politische Zusammensetzung des Kollegiums deutlich geändert. Unter den Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker haben vor allem VertreterInnen aus dem konservativen Umfeld dominiert, zuletzt haben diese sogar 15 der damals 28 Kommissar*innen gestellt. Mit der Kommission von der Leyen kommen nur mehr zehn der Mitglieder von der Europäischen Volkspartei, die Sozialdemokrat*innen haben hingegen wesentlich an Stärke gewonnen und stellen ebenfalls zehn Mitglieder. Hinzu kommt außerdem ein Kommissar, der den Grünen zuzurechnen ist, sowie einer, der parteiunabhängig ist. Den Liberalen sind unverändert fünf Vertreter*innen zuzurechnen.
  • Zweitens kam es bei den EU-Wahlen 2019 auch im Europäischen Parlament mit einer knappen Mitte-links-Mehrheit bei den EU-Abgeordneten zu einer entscheidenden Veränderung auf politischer Ebene. Ein wesentlicher Aspekt, den Kommissionspräsidentin von der Leyen und ihr Kollegium nun mitberücksichtigen muss.
  • Drittens hat die Europäische Union nun binnen weniger Jahre eine Reihe von Krisen durchlebt, beginnend mit der Finanzkrise, dem Brexit, der Klimakrise und nun der Corona-Pandemie, die den Druck, auf gesellschaftspolitische Forderungen einzugehen, massiv erhöhen.

Weniger Einfluss von Konzernlobbys unter von der Leyen?

Ein interessantes Bild ergibt sich bei einer Analyse, mit wem sich die Spitzenvertreter*innen der Kommission seit Beginn der neuen Legislaturperiode getroffen haben. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede im Vergleich zur „alten“ Kommission:

Haben sich unter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Spitzenvertreter*innen in der Kommission noch in rund 71 Prozent der Fälle mit Unternehmenslobbyist*innen getroffen, so ist dieser Anteil nun unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf etwa 59 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig stieg der Anteil der Termine mit Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft von rund 17 auf 26,5 Prozent. Der Anteil von Treffen mit Wirtschaftsvertreter*innen ist damit noch immer hoch, sank aber zugunsten der NGOs deutlich.

Hinsichtlich der Gewerkschaftsvertretungen gab es bei den Terminen mit den Spitzenrepräsentant*innen nur geringe Veränderungen: Unter Jean-Claude Juncker entfielen 4,9 Prozent aller Termine auf Gespräche mit Arbeitnehmer*innenvertretungen. Dieser Wert hat sich nun leicht auf 5,9 Prozent erhöht.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Blick ins Detail dämpft Hoffnungen: Ölkonzerne versus grüner Deal

Nicht nur bei den Lobbyingterminen, sondern auch bei den politischen Aktivitäten setzt die Europäische Kommission aus gesellschaftspolitischer Sicht positive Akzente. So betreibt die Kommission mit einem eigenen Konjunkturpaket erstmals eine aktive Fiskalpolitik, um gegen die pandemiebedingte Rezession vorzugehen, und macht Vorschläge für eine gerechtere Besteuerung. Insbesondere bei den Maßnahmen gegen die Klimakrise zeigen die Kommissionsvertreter*innen mit dem grünen Deal außergewöhnliches Engagement.

Hinsichtlich der Erreichung der Pariser Klimaziele wird die Hoffnung auf Fortschritte jedoch gedämpft: Ein neuer Artikel von EURACTIV berichtet über Kontakte der EU-Kommissar*innen zur Ölindustrie. Demnach hatten mit Josep Borrell, Stella Kyriakides und Adina Vălean gleich drei der jetzigen EU-Kommissar*innen enge Verbindungen mit Ölfirmen in Spanien, Griechenland und Rumänien. Interessenkonflikte beim Ziel der Bekämpfung des Klimawandels könnten bei der Kommission damit vorprogrammiert sein.

Für Enttäuschung sorgt auch die Besetzung der Expert*innengruppen, die die Kommission bei der Erarbeitung sowie der Durchführung von EU-Regelungen unterstützen sollen: Eine kurze Stichprobe bei drei Gruppen, die der Kommission bei umweltpolitischen Fragen helfen sollen, zeigt, dass nach wie vor die Interessen der Unternehmensrepräsentant*innen dominieren.

In der Expert*innengruppe zur Klimapolitik kommen 25 der 30 Mitglieder aus unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen und nur fünf von umweltnahen Nichtregierungsorganisationen. Zwar lässt sich darüber diskutieren, dass es wichtig ist, die Wirtschaftsbereiche mit einer schlechten CO2-Bilanz miteinzubeziehen. Nicht zu verstehen ist allerdings, warum dieses Gremium zu mehr als 83 Prozent aus Konzernvertreter*innen bestehen muss.

In der Expert*innengruppe zu den CO2-Emissionen bei Straßenfahrzeugen wiederum kommen vier der fünf Mitglieder aus dem Automobilsektor und nur eines aus dem Umweltbereich.

In der Expert*innengruppe, die sich mit der Änderung der Landnutzung und der Forstwirtschaft beschäftigt, sind von den zwölf eingebundenen Organisationen nur drei Nichtregierungsorganisationen, die restlichen kommen aus nahestehenden Wirtschaftsbereichen.

Bei allen drei Gruppen gibt es keinerlei Argumente, die gegen die Einbindung einer entsprechenden Anzahl von Mitgliedern aus der Zivilgesellschaft, insbesondere von Umweltorganisationen, sprechen, um dieses Ungleichgewicht in der Expert*innengruppe auszugleichen.

Die Auswirkungen der ungleichen Besetzung in den Expert*innengruppen sind jedenfalls erheblich: Die Industrievertreter*innen, häufig aus dem Erdöl- und Erdgas-Sektor, können sich dadurch mit ihren Inhalten durchsetzen. So läuft der Green Deal Gefahr, zu einem Grey Deal zu werden, wie auch die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory in einem Gastbeitrag zum EU-Infobrief hervorhebt. Die Zivilgesellschaft hat keine Chance, sich entsprechend in die Gespräche einzubringen, weil sie in diesen Gremien kaum bis gar nicht repräsentiert ist.

Bei den Expert*innengruppen muss die Europäische Kommission also noch drastisch nachbessern und Arbeitnehmer*innenvertretungen sowie Nichtregierungsorganisationen gleichberechtigt einbinden, damit es zum nötigen Paradigmenwechsel Richtung Erreichung der Klimaziele kommt.

Re­sü­mee: Positive Entwicklungen bei der Kommission, aber noch ein weiter Weg zu gehen

Positiv festzuhalten ist, dass die Europäische Kommission sowohl beim Arbeitsprogramm als auch bei den Terminen mit Nichtregierungsorganisationen, der Zivilgesellschaft und den Arbeitnehmer*innenvertretungen wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht hat. Dem müssen aber noch viele weitere Schritte folgen, denn bei den Expert*innengruppen herrschen nach wie vor die alten Muster, die die Arbeiterkammer und Corporate Europe Observatory bereits seit vielen Jahren kritisieren. Arbeitnehmer*innenvertretungen, die Zivilgesellschaft und NGOs müssen gleichermaßen in den Entscheidungsprozess eingebunden werden. Dazu zählt insbesondere auch ein interessenpolitisches Gleichgewicht bei den Mitgliedern in den Expert*innengruppen. Die Kommission hat also noch viel zu tun, um die entsprechende Glaubwürdigkeit zu schaffen, die nun bei der Bekämpfung der Klimakrise notwendig ist.

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