In Leitlinien der EU-Kommission wird der Versuch unternommen, entgegen bestehendem europäischem Recht die Möglichkeit der Direktvergabe im Eisenbahnbereich einzuschränken. Im Hintergrund geht es dabei um Fragen einer weitergehenden Liberalisierung des europäischen Eisenbahnverkehrs einerseits und der Gewährleistung einer sicheren ökologischen Mobilitätswende im Verkehr andererseits. Im Vordergrund stehen aber Fragen der europäischen Rechtsstaatlichkeit und das Zusammenspiel zwischen dem europäischen Gesetzgeber und der korrekten Vollziehung des Unionsrechts.
Die Leitlinien der Kommission zur Direktvergabe im Eisenbahnbereich
Im Rahmen einer Änderung der europäischen Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste (sog. PSO-Verordnung), die sich auch mit dem Eisenbahnverkehr beschäftigt, schlug die Europäische Kommission 2016 vor, die Möglichkeiten der Direktvergabe zurückzudrängen und die Vergabe mittels Wettbewerbs als primäres Instrument vorzusehen. Damit verbunden ist eine starke Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs. Die Europäische Kommission konnte sich mit ihrem Vorschlag allerdings nicht durchsetzen. Die Direktvergabe von Aufträgen durch die Eisenbahnen bleibt als zentraler Bestandteil durch die PSO-Verordnung gewährleistet.
Im Juni publizierte die Europäische Kommission im Amtsblatt der EU Auslegungsleitlinien zur PSO-Verordnung. Damit soll das Verständnis der Verordnung für die Rechtspraxis aufbereitet werden. Dabei unternimmt die Kommission über diese Leitlinien nun den Versuch, die Möglichkeiten der Direktvergabe interpretativ zurückzudrängen, indem die Direktvergabe hinter die wettbewerbliche Vergabe zurücktreten soll und nur unter besonderen Rechtfertigungsgründen eingesetzt werden darf. Diese Vorgaben der Kommission finden sich aber so in der PSO-Verordnung gar nicht.
Der Schein des Rechts
Die Ausgangslage ist komplex, die Problemstellung dann doch ganz einfach. Es geht um die Frage, ob die Europäische Kommission den europäischen Gesetzgeber (das Europäische Parlament und den Rat) durch nicht verbindliche Leitlinien beschränken darf. Die Antwort darauf ist klar und lautet nein. Europäische Rechtsstaatlichkeit gebietet einen Vorrang europäischer Gesetze. Worin liegt nun aber das Problem?
Die Auslegungsleitlinien wurden als Bekanntmachung der Kommission im Amtsblatt kundgemacht. Die Leitlinien dokumentieren die Sichtweise der Kommission auf die auszulegende Verordnung. Auf diese Weise entsteht rechtliche Relevanz. Auch wenn den Auslegungsleitlinien keine Verbindlichkeit zukommt, sind diese rechtlich nicht völlig irrelevant. Es besteht eine gewisse Rechtserheblichkeit. Dies bedeutet, dass die Leitlinien sehr wohl eine eingeschränkte Rechtswirkung entfalten können. So ging der EuGH in seiner Rechtsprechung teilweise von einer gewissen Berücksichtigungspflicht nicht-verbindlicher Akte aus. In anderen Fällen war der EuGH zurückhaltender und sprach von Leitlinien als zweckdienlichem Anhaltspunkt zur Auslegung.
Europäische Rechtsstaatlichkeit als Grenze für Auslegungsleitlinien
Die europäische Rechtsstaatlichkeit gebietet aber eine klare Grenze der Berücksichtigung von nicht-verbindlichen Auslegungsleitlinien, die sich aus dem Widerspruch mit dem Europäischen Sekundärrecht, also auch EU-Verordnungen, ergibt. Entsprechen die Auslegungsleitlinien nicht den rechtsverbindlichen Verordnungen, so kann es auch keine Berücksichtigungspflicht geben. Genau dies ist aber im vorliegenden Fall geschehen. Die Europäische Kommission hat in ihren Auslegungsleitlinien das Konzept überschritten, das die PSO-Verordnung vorsieht. Konkret sollten die Möglichkeiten der Direktvergabe gegen den Wortlaut der Verordnung eingeschränkt werden. Kurzum, der wettbewerblichen Vergabe soll der Vorzug gegeben werden und die Direktvergabe nur unter besonderer Rechtfertigung im Einzelfall ausnahmsweise zu Anwendung kommen können. Das sieht die PSO-Verordnung aber genau nicht vor, sondern lässt die Direktvergabe unter konkreten Bedingungen gleichwertig zu. Rechtswirkungen können nicht-verbindliche Leitlinien, wenn sie verbindlichem Sekundärrecht widersprechen, aber nicht entfalten. Auch eine Selbstbindung der Kommission ist ausgeschlossen.
Innerstaatliche Konsequenzen
Während schon die Berücksichtigungspflicht von nicht-verbindlichen Leitlinien durch die Mitgliedsstaaten als unklar zu bezeichnen ist, so ist jedenfalls klar, dass jene Teile der Leitlinien, die rechtsverbindlichem Unionsrecht widersprechen, nicht als verbindlich angesehen werden können. Es besteht daher im Rahmen der innerstaatlichen Durchführung von Vergaben für die innerstaatlichen Behörden keine Berücksichtigungspflicht. Bei Widerspruch zu Sekundärrecht ist eine Auslegungsleitlinie nicht zu beachten.
Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit durch den EuGH
Wie kann dieser Rechtschein an Verbindlichkeit von Leitlinien beendet werden? Diesbezüglich besteht für innerstaatliche Gerichte die Möglichkeit, mittels Vorabentscheidungsverfahren den EuGH als letzte Instanz anzurufen. Es liegt also am EuGH, den Widerspruch zwischen Sekundärrecht und Leitlinien sowie die rechtliche Irrelevanz dieser über die Verordnung hinausgehenden Einschränkung der Direktvergabe festzustellen.
Fazit
Die Auslegungsleitlinien der Europäischen Kommission zur Direktvergabe im Eisenbahnbereich stehen im Widerspruch zur europäischen Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste (sog. PSO-Verordnung). Dies ist insoweit der Fall, als die Auslegungsleitlinien eine Bevorzugung der wettbewerblichen Vergabe vor der Direktvergabe argumentieren und die Direktvergabe unionsrechtswidrig einschränken wollen, obwohl die PSO-Verordnung die Direktvergabe unter Bedingungen klar zulässt. Diesen Teilen der Auslegungsleitlinien, die in Widerspruch mit der Verordnung stehen, kann keine Berücksichtigung – weder durch die Kommission noch durch die Mitgliedsstaaten – zukommen. Sie sind damit auch für die Behörden der Mitgliedsstaaten nicht beachtlich.
Dieser Beitrag ist eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse eines Gutachtens, welches Prof. Lachmayer und Prof. Derosier im Auftrag der AK und der Gewerkschaft vida erstellt haben. Um die Angriffe der Europäischen Kommission abzuwehren, haben die Gewerkschaft vida und die AK eine gemeinsame Kampagne gegen weitere Liberalisierungsschritte und für einen konsequenten Ausbau der Bahn gestartet.