Langzeitpflege in Österreich: Wesentliche Fakten und Handlungsfelder

28. Juni 2022

Nicht erst seit COVID-19 ist die Langzeitpflege verstärkt in den medialen Fokus gerückt. Die letzten Sozialminister haben große Reformen im Bereich der Pflege angekündigt. Am 12. Mai wurde ein umfangreiches Maßnahmenpaket präsentiert. Pflege in Österreich braucht umfassende Reformen. Der vorliegende Beitrag liefert eine Analyse von Fakten und wichtigen Handlungsfeldern.

Die Alterung der Gesellschaft erhöht die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen

In den kommenden Jahrzehnten wird sich die Zahl an alten Menschen in Österreich sowohl absolut als auch relativ zu jüngeren Menschen stark erhöhen. Dies hat zur Folge, dass die Nachfrage nach professioneller Pflege nicht nur aufgrund der steigenden Zahl an älteren und hochaltrigen Menschen zunehmen wird, sondern auch das Potenzial für informelle Pflege durch die relative Abnahme potenzieller informeller Pflegepersonen abnehmen wird.

Während die Pflege in der Familie noch immer das vorherrschende Pflegemodell in Österreich ist – und auch das weithin präferierte Modell der Bevölkerung – wird das Pflegepotenzial der Familie stark unter Druck kommen. Wir wissen, dass Frauen im Bereich der Bildung stark aufgeholt haben und die jüngeren Kohorten von Frauen bereits über höhere Bildungsabschlüsse als Männer verfügen (Bock-Schappelwein et al., 2020). Dies erhöht die Arbeitsmarktintegration von Frauen sowohl aufgrund der höheren Anzahl von Frauen, die sich am Arbeitsmarkt beteiligen, aber auch durch ein höheres Arbeitsstundenausmaß. Weiters werden wir einen starken Effekt der gesunkenen Geburtenraten beobachten: Im Jahr 1960 hatte eine Frau durchschnittlich 2,7 Kinder, im Jahr 2021 nur noch durchschnittlich 1,5 Kinder.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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WIFO-Projektionen zeigen eine hohe Dynamik der öffentlichen Ausgaben im Bereich der Pflege. Der Aufwand für Sachleistungen wächst dabei wesentlich rascher als jener für Geldleistungen, weil die Nachfrage nach Sachleistungen stärker zunimmt und die realen Stückkosten wegen der hohen Lohnintensität der Pflegeleistungen steigen. Daraus ergibt sich eine Zunahme der realen Kosten von Sachleistungen der Länder und Gemeinden um 77 Prozent von 2018 bis 2030. Insgesamt werden im Jahr 2030 laut den WIFO-Projektionen Geld- und Sachleistungen von 9,1 Mrd. Euro nominell bzw. 7,5 Mrd. Euro real (zu Preisen von 2018) erforderlich sein (Klien et al., 2020). Wesentlich höhere jährliche Steigerungsraten werden jedoch aufgrund der demografischen Entwicklung nach 2040 zu erwarten sein, wenn die Babyboomer-Generation der 1960er-Jahre ins pflegebedürftige Alter kommt (Famira-Mühlberger – Firgo, 2018). Dementsprechend hoch wird auch die Nachfrage nach Pflegekräften sein. Das gilt es politisch vorzubereiten.

Das Einsparungspotenzial durch Verlagerungen ist beschränkt

WIFO-Studien sind der Frage nach dem Verlagerungspotenzial im Pflegebereich nachgegangen. Firgo – Famira-Mühlberger (2014) haben auf Basis einer Befragung unter Pflegedienstleistern gezeigt, dass das Verlagerungspotenzial von stationären zu mobilen Diensten nur begrenzt möglich ist. Der Nachfrageanstieg in der stationären Pflege kann zwar durch den Ausbau alternativer Betreuungsformen gedämpft bzw. verzögert werden, jedoch ist ein zeitlich nachgelagerter, aber deutlicher Ausbau stationärer Pflege aufgrund der demografischen Entwicklung unausweichlich. Famira-Mühlberger – Firgo(2018) haben auch gezeigt, dass eine Verlagerung des Pflegemix Richtung mehr mobiler Pflege den öffentlichen Ausgabenpfad für Pflege zwar dämpfen, aber den nötigen Ausbau stationärer Pflege nicht wesentlich reduzieren kann.

Dringend gesucht: Arbeitskräfte für die Pflege

Sowohl WIFO-Berechnungen (Famira-Mühlberger – Firgo, 2019) als auch Berechnungen der GÖG (Rappold – Juraszovich, 2019) zeigen einen hohen Personalbedarf in der Pflege im nächsten Jahrzehnt. Das Pflegereformpaket der Bundesregierung setzt – unter anderem – an zwei wichtigen Ebenen an. Zum einen werden erste Maßnahmen gesetzt, die die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, und zum anderen wird die Pflegeausbildung finanziell besser unterstützt. Nur wenn sich die Arbeitsbedingungen nachhaltig ändern, werden mehr Menschen eine Pflegeausbildung beginnen. Da die Pflegeausbildung von vielen in einem späteren Zeitpunkt des beruflichen Karriereweges begonnen wird, ist eine bessere finanzielle Unterstützung während der Ausbildungsphase zentral, um private finanzielle Verpflichtungen weiter erfüllen zu können. Erste Schritte sind im Rahmen des Pflegereformpakets gesetzt, weitere werden notwendig sein.

Leistungsangleichungen nötig

In Österreich bestehen zum Teil gravierende Unterschiede in Art und Umfang des geförderten Pflegeangebots mit deutlichen Unterschieden in den Tarifen und der individuellen bzw. familiären finanziellen Belastung. Ebenso sind erhebliche Qualitätsunterschiede hinsichtlich der Auslastung, des Betreuungsverhältnisses bzw. Personalschlüssels bekannt. Die ökonomische Literatur zeigt, dass föderale Strukturen wohlfahrtssteigernd sein können, wenn dadurch Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften gewährleistet ist. Jedoch sind dafür Leistungs- bzw. Informationstransparenz und die Mobilität der Betroffenen nötig, was im Fall der Pflegesysteme der Länder und Gemeinden nicht gegeben ist. Aus diesem Gesichtspunkt ist eine stärkere Harmonisierung der Leistungsstandards und der Finanzierung der Pflege nötig (Firgo – Famira-Mühlberger, 2014, Famira-Mühlberger – Firgo,2018, Famira-Mühlberger, 2020).

Langfristige Planungen und mehr Koordination wesentlich

Angesichts der demografischen Entwicklung ist eine längerfristige politische Planung zentral. Der „Nachfrageschock“ der Babyboomer-Generation muss rechtzeitig politisch gestaltet werden, um die Abgabenbelastung künftiger Generationen und der jetzt jüngeren Menschen in jenen Jahren zu begrenzen, in denen die geburtenstarken Jahrgänge das pflegebedürftige Alter erreichen. In Deutschland hat man beispielsweise bereits im Jahr 2015 einen Pflegevorsorgefonds in Form eines Sondervermögens etabliert, um so übermäßige Kostensteigerungen durch das Eintreten der Babyboomer-Generation in das Pflegealter abzufedern.

Eine repräsentative Umfrage unter österreichischen Gemeinden zeigt auch die Notwendigkeit einer systematischen Herangehensweise bei der Abschätzung der künftigen Nachfrage sowie einer besseren Koordination zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (Famira-Mühlberger, 2020). Es bedarf einer stärkeren Regionalisierung der Bedarfs- und Entwicklungspläne unter Einbindung der Gemeinden. Die Intensivierung von Kommunikation und Informationsaustausch der politischen Akteure/-innen innerhalb und zwischen den verschiedenen Entscheidungsträgern (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger) wird wesentlich sein, um den starken Anstieg der Nachfrage und des öffentlichen Aufwandes in den kommenden Jahrzehnten zu bewältigen.

Eine umfassende Pflegereform muss nicht nur Schritte setzen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, und eine aktive Fachkräfterekrutierung aus dem Ausland vorantreiben, sondern auch einen Ausbau von allen Pflegedienstleistungsformen in enger Koordinierung mit der regionalen Ebene planen, denn es ist diese Ebene, wo Pflege schlussendlich geleistet wird. Zentrales Thema der nächsten Finanzausgleichsverhandlungen wird die Vereinfachung des Finanzierungsmodells der Pflege sein müssen – am besten unter Nutzung des bestehenden Pflegefonds.

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