In schlechter Verfassung für die Euro-Krise 2.0 – warum eine solidarische Krisenpolitik neue EU-Verträge braucht

08. Mai 2020

An den Finanzmärkten steigt der Druck auf südeuropäische EU-Mitgliedsstaaten wieder. Mitverantwortlich dafür sind Regierungen, die auf die Einhaltung neoliberaler Dogmen pochen und sich dabei auf die EU-Verträge stützen. Damit verhindern sie eine solidarische, rasche und kostengünstige Krisenlösung. Ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts schränkt nun auch die Handlungsspielräume der EZB ein. Die dadurch drohende Euro-Krise könnte jene in der Folge der Finanzkrise von 2008 in den Schatten stellen.

Warum aufgrund mangelnder Solidarität die nächste Euro-Krise droht

Seit der durch das Corona-Virus ausgelöste Einbruch der Wirtschaft in Europa greifbar wird, steigen die Aufschläge auf die Staatsanleihen der südeuropäischen Mitgliedsstaaten wieder an. Entsprechend steigende Zinsen bedeuten, dass die Aufnahme von Staatskrediten für diese Länder teuer wird. Seit Anfang März 2020 haben sie sich trotz massiver Intervention der EZB etwa für Italien verdoppelt.

Dass davon nicht nur Staaten berührt sind, die einen besonders schweren Verlauf des Virus hatten, zeigt sich an Griechenland und Portugal, die bisher vergleichsweise besser durch die Corona-Krise kamen. Denn deren Finanzierungskosten nahmen noch stärker zu als jene von Italien und Spanien.

Den Hintergrund der steigenden Refinanzierungskosten der Mitgliedsstaaten bildet die Bearbeitung der letzten kapitalistischen Krise, die tiefe Spuren in einigen Mitgliedsstaaten hinterlassen hat. Zudem kommt, dass die europäische Bankenkrise nie wirklich gelöst wurde.

Entscheidend für den Druck auf den Finanzmärkten ist jedoch, dass eine Gruppe von Mitgliedsstaaten (vor allem die Niederlande, Deutschland und Österreich) an neoliberalen Dogmen festhält. Dabei können sie sich auf die Europäischen Verträge stützen, die ein solidarisches Handeln im Bereich der Haushaltspolitik weitgehend verbieten.

Dass sich die Mitgliedsstaaten daher, ähnlich wie in der letzten Euro-Krise, viel zu spät – erst am 23. April – auf ein EU-Krisenpaket einigen konnten und es bisher nicht geschafft haben, substanzielle gemeinsame Finanzierungsinstrumente wie etwa die aktuell diskutierten Recovery-, Corona- bzw. Eurobonds zu schaffen, öffnet den Finanzmärkten große Angriffsflächen.

„Was für die Märkte entscheidend ist, ist der Eindruck, dass wir in Zeiten der Krise keine Solidarität sehen. Vielmehr heißt es weiterhin: jeder für sich selbst“, meint etwa Mark Dowding vom Investmentfond BlueBay Asset Management.

Damit scheinen sich jene ökonomischen und politischen Muster zu wiederholen, die schon im Anschluss an die Finanzkrise von 2008 zu beobachten waren. Die Aufschläge auf südeuropäischen Staatsanleihen haben zwar bei Weitem noch nicht das Niveau des Höhepunkts der letzten Euro-Krise erreicht. Jedoch droht sich die damalige Krise auf höherer Stufenleiter zu wiederholen, wenn jetzt nicht rasch solidarisch gehandelt wird.

Wie der Vertag von Maastricht die öffentliche Hand den Märkten ausliefert

Doch als 1992 in der „euphorischen“ Phase des Neoliberalismus mit dem Vertrag von Maastricht die europäischen Verträge abgeändert wurden, war die rechtliche Absicherung der Nicht-Solidarität sogar das Ziel der vertragsschließenden Parteien.

So kam es mit dem Ausschluss der Haftung der Mitgliedsstaaten untereinander und der EU für Verbindlichkeiten der Mitgliedsstaaten (Art 125 AEUV) zu einer Verankerung des Nichtbeistandes in den Europäischen Verträgen. Die Mitgliedsstaaten und die EU dürfen daher in Krisen für in Not geratene Mitglieder nicht bürgen bzw. keine gemeinsamen europäischen Staatsanleihen ausgeben, um allen niedrige Zinsen zu ermöglichen.

Das wiegt besonders schwer. Schließlich handelt es sich bei den Europäischen Verträgen um eine Stufe der Rechtsordnung, die nach dem EuGH sogar über allem nationalen Recht steht und daher oft auch als europäische Verfassung bezeichnet wird.

Einer der zentralen Kommentare zum Europarecht hält fest, dass das Ziel der Nicht-Beistandsklausel (Art 125 AEUV) unter anderem ist, die „Mitgliedsstaaten den Marktkräften auszusetzen“. Damit solle Haushaltsdisziplin erzwungen werden. Denn „je wahrscheinlicher ein solidarisches Verhalten der anderen Mitgliedsstaaten oder der Union wäre, umso weniger hätte der betroffene Mitgliedsstaat die sonst übliche Reaktion der Kapitalmärkte in Form von Zinsaufschlägen zu fürchten“.

Das gleiche Ziel verfolgt mit Bezug auf die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) der Art. 123 AEUV. Er verbietet der EZB, den Mitgliedsstaaten Kredite einzuräumen oder von diesen unmittelbar Staatsanleihen zu erwerben.  Zwar kann die EZB entsprechende Anleihen auf den Finanzmärkten von Dritten erwerben, allerdings darf dies nur in engem Rahmen geschehen, da andernfalls eine rechtswidrige Umgehung des Verbotes des unmittelbaren Erwerbes vorliegen würde. Damit verbieten die EU-Verträge jede Form der öffentlichen Refinanzierung und machen die Mitgliedsstaaten von den Finanzmärkten abhängig.

Diese Einzementierung einer gewissen Wirtschaftspolitik in Verfassungsrang, die der Politikwissenschafter Stephen Gill treffend als neoliberalen bzw. neuen Konstitutionalismus beschrieben hat, ist aber nicht nur demokratiepolitisch bedenklich und unsolidarisch, sondern hat sich auch gemessen an ihrem eigenen Ziel als ineffektiv herausgestellt.

Die neoliberale Verfassung scheitert an ihren Zielen und verursacht die Euro-Krise

Denn bis zur Finanzkrise 2008, als sich die öffentlichen bzw. privaten Haushalte in Südeuropa immer weiter verschuldeten, um trotz der durch Binnenmarkt und Euro verschärften De-Industrialisierung und sinkender Lohnquoten die Exportüberschüsse der Nordeuropäer zu finanzieren, blieben die Zinsaufschläge für diese Länder klein. Während die Kurve der Auslandsverschuldung in Südeuropa anstieg, blieben die Zinsdifferenzen im Vergleich zu nordeuropäischen Mitgliedsstaaten flach.

Dies änderte sich erst mit der Entfaltung der Finanzkrise 2008 innerhalb der EU. Entscheidend für den sprunghaften Anstieg der Zinsdifferenzen war der Wille einiger nordeuropäischer Mitgliedsstaaten, am rechtlich abgesicherten Dogma der „disziplinierenden Kraft der Märkte“ festzuhalten und neoliberale Reformen durchzusetzen.

Denn aufgrund dieser Haltung dauerte es trotz schnell steigender Zinsaufschläge auf die Anleihen südeuropäischer Mitgliedsstaaten sechs Monate, bis sich die Staats- und Regierungschefs vor zehn Jahren auf eine Unterstützung Griechenlands einigen konnten. Um die „Marktkräfte weiter wirken zu lassen“, enthielt die Vereinbarung aber die Festlegung, dass entsprechende Solidarität und Hilfe nur als „letztmöglicher Weg“ infrage komme.

Die weitere Entwicklung ist bekannt: Finanzmarktakteure begannen gegen Griechenland und den Erhalt der Eurozone zu spekulieren. Die Zinsaufschläge stiegen rasant an, bis sich Griechenland nicht mehr auf den Finanzmärkten finanzieren konnte. Ein Rettungsschirm nach dem anderen musste aufgespannt werden. Die daran geknüpfte neoliberale Kürzungspolitik hat sich als menschenrechtswidrig und unsozial herausgestellt.

Die Folge waren menschliches Elend, ein Wiedererstarken des Nationalismus, vergleichsweise hohe Rettungskosten und eine Umverteilung von öffentlichen Geldern in den privaten Sektor. Selbst der deutsche Ex-Bundesbank-Chef Karl Otto Pöhl gestand im Nachhinein ein, dass es in Wirklichkeit darum ging, „die Banken vor Abschreibungen zu bewahren“.

„Whatever it takes“ – die EZB rettet den Euro

Zwar konnte mit den „Rettungsschirmen“ eine neoliberale Kürzungspolitik durchgesetzt werden, doch entgegen den mit dieser einhergehenden Behauptungen verschärfte sie die Euro-Krise weiter. Weil die Wirtschaft in den südeuropäischen Mitgliedsstaaten dadurch abgewürgt wurde, stiegen die Zinsaufschläge weiter an. 

Letztlich war es die EZB, welche den Euro – nicht zuletzt im Interesse der deutschen Exportindustrie – als gemeinsame Währung rettete. Mit der Ansage ihres damaligen Präsidenten Mario Draghi, „alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten“, und den darauf 2012 (OMT) und 2015 (PSPP) folgenden umfassenden Programmen zum Ankauf von Staatsanleihen auf den Finanzmärkten konnten die Zinsaufschläge gebremst und sogar annähernd auf das Niveau vor der Krise zurückgeführt werden.  

Wie solidarisches Handeln die Kosten der Krise minimieren kann

Auch damals hätte ein solidarisches Handeln der Politik eine schnelle, vergleichsweise kostengünstige und nachhaltige Lösung gebracht. Schon die Klarstellung der Mitgliedsstaaten, dass Griechenland falls nötig sofort eine Finanzspritze zur Verfügung gestellt werde, und die Ansage, dass künftig zumindest ein Teil der jeweiligen Staatsschulden gemeinsam europäisch ausgegeben und mit einer solidarischen Haftung versehen werde, hätte den Finanzmärkten Raum zur Spekulation genommen.

Die damit angesprochene Einführung von Eurobonds hätte aber nicht nur geholfen, die ökonomische Krise schneller zu überwinden. Vielmehr hätte sie auch progressiven Akteur_innen den Raum geöffnet, dafür zu kämpfen, dass Eurobonds im Sinne des „Green New Deal“ für Investitionen in soziale und ökologische Infrastruktur genützt werden, um die damals schon drängende Frage der De-Karbonisierung der europäischen Wirtschaft zu adressieren.

Die Verfassung der wenigen

Dass es anders kam, lässt sich mit den europäischen Kräfteverhältnissen erklären: Vermögende, Banken und Konzerne haben ein Interesse an neoliberaler Politik, weil sie von dieser unternehmensfreundliche Rahmenbedingungen, niedrigere Vermögens- und Gewinnsteuern und mehr politische Mitsprache erwarten können. Ebenso ermöglicht diese Politik es, dass die Kosten der von ihnen verursachten Krisen immer wieder auf die Allgemeinheit abgewälzt werden können. Das mächtige fossile Kapital (Erdöl-, Flugzeug- und Autoindustrie) will darüber hinaus jede umfassende De-Karbonisierung verhindern.

Eine rechtsgeschichtliche Analyse legt frei, dass sich diese Interessen äußert erfolgreich in die „Europäische Verfassung“ einschreiben konnten und sich deshalb gegen jede grundlegende Änderung stemmen (wie z. B. die Aufhebung der Nichtbeistandsklausel zur Einführung von Euro-, Recovery- bzw. Corona-Bonds).

Denn im Gegensatz etwa zur deutschen und österreichischen Verfassung, die im Kern nicht mehr als Grundrechte, Institutionen und Spielregeln der Rechtssetzung umfasst, gelang es in den schwer abänderbaren Europäischen Verträgen neoliberale Grundsätze zu verankern.

So legt die „Europäische Verfassung“ die Wirtschaftspolitik neben der Nichtbeistandsklausel etwa auf Globalisierung und Freihandel (Art 119 Abs 1 und 120 AEUV), neoliberale Budgetpolitik (Art 119 Abs 3 und 126 AEUV) und einen möglichst unbeschränkten Markt (Beschränkungsverbot der Marktfreiheiten) fest. Gleichzeitig verlangt sie nicht zufällig für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, einer vereinheitlichten Konzernbesteuerung und Vermögenssteuer (Art 113 und 115 AEUV) die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedsstaaten.

Es sind diese rechtlichen Befestigungsanlagen des Neoliberalismus, die seine Verfechter in Konflikten immer wieder am längeren Ast sitzen lassen: bei der Einführung der Finanztransaktionssteuer, der Trockenlegung von Steuersümpfen für große Vermögen, bei der letzten und auch der drohenden Euro-Krise.

Der „Kompromiss“ der Eurogruppe und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Und so überrascht es nicht, dass sich in der entscheidenden Sitzung der Eurogruppe zur Festlegung der europäischen Antwort auf die Corona-Krise, die 16 Stunden andauerte, die neoliberalen Falken immer wieder auf die Europäische Verfassung beriefen: Corona- bzw. Eurobonds stünden im Gegensatz zur Nicht-Beistandsklausel des Art. 125 AEUV.

Hinsichtlich des letztlich erzielten „Kompromisses“ (u. a. der Schaffung eines Wiederaufbaufonds, um die Wirtschaft „gemäß europäischer Prioritäten“ neu zu starten) verankerten Deutschland, die Niederlande und Österreich die Formulierung „in Übereinstimmung mit den Verträgen“. Während der italienische Finanzminister den Versuch unternahm, dies zu Hause als großen Durchbruch zu verkaufen, ist klar, dass damit Corona- bzw. Eurobonds vom Tisch sind.

Diese Entscheidung könnte den Beginn einer Euro-Krise auf erhöhter Stufenleiter markieren. Nicht zuletzt, weil das deutsche Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich den Spielraum der EZB als bisherige Krisenfeuerwehr massiv eingeschränkt hat: In seinem  Urteil vom 4. Mai trägt es der EZB auf, die Verhältnismäßigkeit ihres  PSPP-Anleihenkaufprogrammes nachzuweisen, andernfalls dürfe sich die deutsche Bundesbank daran nicht weiter beteiligen.

Allein schon dieser Urteilsgehalt birgt massive Sprengkraft. Doch während sich die Medien bisher auf diesen Aspekt konzentrierten, versteckt sich eine Feststellung mit noch wesentlich drastischeren Folgen für den weiteren Verlauf der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in einem anderen Leitsatz des Urteils.  

Ob ein Anleihenkaufprogramm der EZB „eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs 1 AEUV darstellt“ (dem Verbot eines unmittelbaren Erwerbes von Staatsanleihen), heißt es dort, ist an seinen Auflagen zu bemessen. Das Gericht nennt dazu etwa die im PSPP-Programm festgehaltene  Ankaufobergrenze von 33 Prozent aller Anleihen eines Staates und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der Europäischen Zentralbank. Genau diese Auflagen ließ die EZB aber in ihrem neuen PEPP-Programm fallen, das sie im März 2020 im Kampf gegen die durch das Corona-Virus ausgelöste Weltwirtschaftskrise aufsetzte.

Das bedeutet, dass das aufgrund der neoliberalen Selbstbindung einzig verbleibende  Instrument (das PEPP-Anleihenprogramm), das bisher verhinderte, dass die Staatsanleihen zwar stark, aber nicht explosionsartig anstiegen, bald wegbrechen könnte.

Wenn sich daher die Staats- und Regierungschefs nicht doch noch rasch auf die Einführung von Recovery-, Corona- bzw. Eurobonds einigen, ist der Zusammenhalt der Eurozone mehr als nur gefährdet.

Für eine Verfassung der vielen

Wie der Neoliberalismus zentrifugale Kräfte befeuert, lässt sich auch anhand von Italien beobachten.  Der rechtspopulistische Parteiführer Matteo Salvini lässt seit dem „Kompromiss“ in der Eurogruppe keine Gelegenheit ungenutzt, die Vereinbarung als Verrat an Italien zu brandmarken. Er greift dabei den Eindruck vieler Menschen in Italien auf, dass Europa in seiner jetzigen Verfassung keinen Platz für Solidarität hat. Eine Stimmung, die sich durch die zähen Verhandlungen verfestigt hat: Nach neuen Umfragen sind mittlerweile 49 Prozent für einen Austritt aus der EU – 20 Prozent mehr als bei der letzten Umfrage.

Das verweist darauf, dass die derzeitige europäische Verfassung das Gegenteil von dem bewirkt, was ihr in Sonntagsreden gerne zugeschrieben wird: Sie fördert den Nationalismus, anstatt ihn zu überwinden. Derzeit schützt sie jene, welche die Marktkräfte für ihre Interessen wirken lassen wollen, und nicht die breite Masse der europäischen Bevölkerung.

Eine solidarische, ökologische und demokratische Lösung der durch das Corona-Virus ausgelösten Wirtschaftskrise in Europa wird sich daher nur durchsetzen lassen, wenn die veralteten Europäischen Verträge grenzüberschreitend herausgefordert und grundlegend geändert werden.

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