Goldene Zeiten für das Geschäft mit kritischer sozialer Infrastruktur?

20. Oktober 2021

Der steigende Bedarf in der Pflege, der Gesundheitsversorgung sowie im Wohnungswesen macht diese kritische Infrastruktur zum attraktiven Geschäftsgegenstand. Doch den profitorientierten Investoren, die in die überwiegend öffentlich getragenen Systeme der Bereitstellung drängen, sollte mit Skepsis begegnet werden. Denn ihre Geschäftsmodelle bergen erhebliche Risiken und Nebenwirkungen – vor allem für die Beschäftigten und jene, die auf diese lebensnotwendigen Dienstleistungen angewiesen sind.

Beispiel Übernahme Southern Cross: Profite statt Qualität in der Pflege

Ein lehrreiches Beispiel für die Logik von shareholdergetriebenen Geschäftsmodellen ist die Übernahme eines großen Trägers von Pflegeheimen in Großbritannien namens Southern Cross. Das 1996 gegründete Unternehmen war mit über 750 Pflegeheimen und 31.000 Betten bis zur Insolvenz 2011 der größte Pflegeheimträger im Vereinigten Königreich und hatte in dieser Zeit mehrere Eigentümerwechsel durchgemacht. Der folgenschwerste war der Einstieg von Blackstone im Jahr 2004.

Blackstone trieb eine schuldenfinanzierte Expansion voran, die vorrangig durch den Abverkauf der Pflegeimmobilien im Rahmen von Sale-&-Lease-back-Modellen finanziert wurde. Solange die Immobilienpreise Richtung Norden zeigten und die öffentlichen Gelder weiter großzügig flossen, schien das Modell zu funktionieren. Mit der Finanzkrise 2008 brachen die Immobilienpreise ein, und die öffentliche Hand verfolgte einen Sparkurs. Gleichzeitig mussten aber die (von Blackstone vertraglich garantierten) steigenden Mietzahlungen für die abverkauften Pflegeimmobilien weiter beglichen werden. Da man beim Gewinn der Eigentümer nicht sparen wollte, drehte man an anderen Stellschrauben. Massive Einbußen bei der Dienstleistungsqualität sowie dramatische Personalbelastung infolge von Unterbesetzung waren die Folge. Schließlich spitzte sich die Situation dermaßen zu, dass Southern Cross 2011 Insolvenz anmelden musste. Blackstone hatte sich zu dem Zeitpunkt schon lange verabschiedet – man war mit kolportierten 1,1 Milliarden Pfund Gewinn nach nur drei Jahren wieder ausgestiegen. Die Aufräumarbeiten durften andere erledigen.

Risiken und Nebenwirkungen von finanzialisierten Geschäftsmodellen

Southern Cross mag als Beispiel in seinen Konsequenzen zugespitzt sein. Dennoch verdeutlicht es die Probleme von finanzialisierten Geschäftsmodellen, die unsere britischen Kolleg:innen vom Foundational Economy Collective anschaulich für den englischen Pflegesektor aufgearbeitet haben. Daraus wird ersichtlich, dass schnelles, schuldenfinanziertes Wachstum, häufiger Eigentümerwechsel und wahnwitzige Renditen von 12 Prozent und mehr durch unterschiedliche Techniken des Financial Engineerings eine Zeit lang auf dem Papier möglich sind.

Die Risiken und Nebenwirkungen sind allerdings beachtlich: prekäre Bedingungen für die Beschäftigten und Pflegebedürftigen sowie steigende Belastungen für die öffentliche Hand, die ein über Steueroasen geführtes Geschäft subventioniert und im Ernstfall in die Bresche springen muss. Mehr als einmal musste die englische Öffentlichkeit dem erpresserischen Treiben von großen privaten Pflegeketten zusehen, die verantwortungslos Risiken eingegangen waren und dann nach mehr Geld und der rettenden öffentlichen Hand riefen. Denn wie uns die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, sind diese Infrastrukturen der Daseinsvorsorge lebensnotwendig und „too important to fail“.

Aber auch bei privaten Investoren mit weniger zweifelhaftem Ruf als Private Equity muss die Frage gestellt werden, welche Geschäftsmodelle wir als Gemeinwesen in einem von öffentlichen Geldern getragenen Kernbereich der Alltagsökonomie zulassen bzw. fördern wollen. Gerechte Entlohnung für systemkritische Arbeit und die Achtung von gewerkschaftlichen Grundrechten sollte ebenso dazu gehören wie der Verzicht auf „Steueroptimierung“ zugunsten der Aktionär:innen.

Dass es hier noch Luft nach oben gibt, wird unter anderem am europäischen „Marktführer“ bei Pflegedienstleistungen Orpea klar, der im letzten Jahrzehnt massiv expandiert hat. Zuletzt waren in Deutschland Fälle bekannt geworden, wo Orpea gegen Betriebsräte vorging. Die Verzögerungstaktiken bei der Etablierung eines Europäischen Betriebsrats legen den Verdacht nahe, dass es sich dabei nicht um einen einmaligen Ausrutscher handelt. Erklärungsbedürftig ist auch, welche Rolle die rund drei Dutzend in Luxemburg registrierten Tochterunternehmen des Orpea-Konzerns in der Konzernstrategie spielen, wo der Konzern laut eigenen Angaben keine Betten betreibt.

Soziale Infrastruktur als neues Geschäftsfeld für Investoren

Unabhängig davon, wie man die Risiken einzelner Investorentypen einschätzt, lässt sich jedenfalls in den letzten Jahren ein Trend feststellen. Auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern sowie profitablen Anlagemöglichkeiten entdecken immer mehr Investoren kritische soziale Infrastrukturen für sich. Damit werden weitere Bereiche der Alltagsökonomie von einer ökonomischen Logik erfasst, die auf Rendite abzielt und sich bereits seit den 2000er Jahren im Bereich kritischer technischer Infrastruktursektoren (Wasser, Energie, Transport) breitgemacht hat.

Der Vormarsch shareholdergetriebener, transnational agierender Unternehmen zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen. So sind in den letzten Jahren etwa 17 Milliarden US-Dollar pro Jahr in den neuen Markt von „purpose-built student accommodation (PBSA)“ (vulgo: Studierendenheime) geflossen, auf dem neben amerikanischen Playern wie Harrison Street oder Blackstone zunehmend auch europäische institutionelle Investoren wie AXA oder Allianz zu finden sind. Im Pflegesektor haben vor allem stationäre Pflegeeinrichtungen das Interesse von privaten Pflegekonzernen und Finanzinvestoren geweckt. Nach Recherchen der journalistischen Plattform InvestigateEurope vereinen die größten 25 privaten Anbieter etwa 455.000 Betten in Europa. Diese konnten ihre Kapazitäten seit 2017 um 22 Prozent erhöhen. Neben den börsennotierten französischen Marktführern Orpea (85.000 Betten) und Korian (74.000 Betten) finden sich vor allem auch Private-Equity-Gesellschaften, die die Pflege als Goldesel betrachten.

Auch der Gesundheitssektor gerät zunehmend ins Visier von Private-Equity-Gesellschaften. In den USA ist diese Entwicklung am weitesten vorangeschritten: Im Jahr 2018 wurden mindestens 855 Transaktionen im Wert von rund 100 Milliarden US-Dollar registriert. Aber auch in Europa gibt es verstärktes Interesse an einzelnen Bereichen der Gesundheitsversorgung. So weisen die Daten des deutschen Private-Equity-Monitors auf steigende Übernahmetätigkeit im Bereich der Facharztpraxen hin. Wesentliches Ziel der Investoren ist es, den „fragmentierten Markt“ der Primärversorgung zu konsolidieren, indem große Ketten gebildet werden, die nach wenigen Jahren mit Gewinn an neue Eigentümer weiterverkauft werden können. Eine aktuelle Untersuchung zu Übernahmen bei den Medizinischen Versorgungszentren (vergleichbar mit Primärversorgungszentren in Österreich) zeigt die Dynamik dieser „Buy-and-Build“-Strategie für Bayern (siehe Grafik). Möglich wurde dies durch bestimmte regulatorische Änderungen, die den Einstieg von nicht-medizinischen Investoren erst ermöglicht haben.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Märkte werden politisch gemacht

Auf dem Weg zu neuen Geschäftsfeldern für private Investoren müssen also auch die Regeln neu geschrieben oder zumindest angepasst werden. Dies findet seit geraumer Zeit auf supranationaler Ebene statt, wo im Rahmen der OECD oder der G-20 daran gearbeitet wird, die Risiken für einen Einstieg der Finanzinvestoren in verschiedene Infrastruktursektoren möglichst zu minimieren. Daneben ist die nationalstaatliche Ebene nach wie vor zentral für die Ausgestaltung der Regelwerke in den einzelnen Sektoren kritischer Infrastruktur und beeinflusst damit das Ausmaß an Vermarktlichung.

Am Beispiel des englischen Pflegesektors lässt sich das exemplarisch illustrieren. England fungiert – wie in vielen anderen Bereichen – als Referenzfall für die Durchsetzung einer umfassenden Liberalisierungs- und Privatisierungsagenda, die ihren Ausgangspunkt in der Machtübernahme Margaret Thatchers im Jahr 1979 hat. Seither haben verschiedene regulatorische Änderungen den Einfluss privater Investoren im englischen Pflegesystem befördert. So übertrug der NHS Community Care Act von 1990 die Verantwortung für die Bereitstellung von Pflege teilweise an private Akteure, der in der Folge dann durch weitere marktschaffende Regelungen, wie den Health and Social Care Act 2012, ergänzt wurde.

Auch in Deutschland wurde mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 eine wesentliche Weichenstellung für die Stärkung renditeorientierter Anbieter vorgenommen. Die Entwicklungen in Österreich weisen nicht zuletzt auf die Bedeutung des Föderalismus für die Ausgestaltung der Regelwerke auf Länderebene hin. Denn auffällig ist, dass gewinnorientierte Anbieter bisher vor allem auf die beiden Bundesländer Steiermark und Kärnten konzentriert sind.

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Österreich: von der Insel der Seligen zum Investmentparadies?

Auf den ersten Blick scheint die Rede von Österreich als Insel der Seligen, wo die soziale Daseinsvorsorge weitgehend öffentlich geblieben ist, plausibel (Grafik 2). Die Akutspitäler sind weitgehend öffentlich getragen, in den meisten Bundesländern dominieren gemeinnützige oder staatliche Pflegeheime, und die gemeinnützige Wohnungswirtschaft ist eine zentrale Säule für die leistbare Wohnversorgung. Aus Sicht eines shareholderorientierten Investors hingegen stellt diese Insel der Seligen ein potenzielles Investmentparadies der Zukunft dar, zumal hier steigende Nachfrage mit geringem Risiko und satten Renditen zu decken sind.

Einige strategische Investoren wie der Pflegemulti Orpea, der 2015 die Senecura-Gruppe übernommen hatte, oder der Krankenhauskonzern Fresenius haben sich bereits in Österreich etabliert. Zuletzt hatte der größte deutsche Wohnkonzern Vonovia die Conwert (2017) sowie die unter Schwarz-Blau I privatisierte BUWOG (2018) geschluckt. Daneben finden sich auch vereinzelte Private-Equity-Investments in Kinderwunschkliniken und Labors sowie ein zunehmendes Interesse von internationalen Finanzinvestoren in Teilen der Wohnversorgung. Ob sich dieser Trend fortsetzt und die kritische soziale Infrastruktur in Österreich zu einem aufstrebenden Markt für shareholdergetriebene Investoren wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die öffentliche Hand diese zentralen Wirtschaftsbereiche der Alltagsökonomie gestaltet.

Der Beitrag beruht auf dem laufenden Forschungsprojekt „Shareholdergetriebene transnationale Investoren in der kritischen sozialen Infrastruktur“ im Auftrag der Arbeiterkammer Wien.

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