Die EU-Kommission hat eine neue Handelsstrategie vorgestellt. Klimakrise und soziale Folgen der Globalisierung sind dabei stärker als bisher verankert. Doch bei all dem rhetorischen Geschick bleibt der substanzielle Kurswechsel in der EU-Handelspolitik auf der Strecke.
Ziele und Prioritäten der neuen EU-Handelsstrategie
Mit ihrer Mitteilung „Eine offene, nachhaltige und durchsetzungsfähige Handelspolitik“ stellt die EU-Kommission die Weichen für die zukünftige Handelsstrategie, die auf die globalen Herausforderungen, wie die Klimakrise, die Digitalisierung, die Pandemie und auch die geopolitischen Veränderungen, eingehen soll.
Dafür rückt die EU-Kommission sechs Prioritäten in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten:
- Reform der WTO
- Unterstützung der grünen Transformation und Förderung von verantwortungsvollen und nachhaltigen Lieferketten
- Unterstützung der digitalen Transformation und Dienstleistungshandel
- Stärkung des regulatorischen Einflusses der EU
- Stärkung der Partnerschaft mit Nachbarstaaten, Beitrittskandidaten und Afrika
- verstärkter Fokus der EU auf die Umsetzung und Durchsetzung von Handelsabkommen sowie auf gleiche Wettbewerbsbedingungen
Weiterhin kein klarer Vorrang für soziale und klimapolitische Anliegen
Die Palette an Themen, die die Mitteilung zur Handelsstrategie umfasst, macht deutlich, dass die EU-Handelspolitik längst nicht mehr nur als eine rein wirtschaftliche Agenda betrachtet werden kann. Stattdessen müssen nun vielfältige gesellschaftliche Interessen und Anliegen berücksichtigt werden. Wie schon in ihrem 2017 veröffentlichten Reflexionspapier „Die Globalisierung meistern“ ist die EU-Kommission in ihrer Analyse deshalb auch kritisch, was die sozialen Implikationen der Globalisierung betrifft, und stellt die Klimakrise als wichtige Zukunftsfrage ins Zentrum.
Gleichzeitig bleibt sie in ihrer Mitteilung dem Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit treu und setzt weiterhin vorrangig auf offenen und ungehinderten Zugang zu internationalen Märkten. In diesem Sinne gelte es, globale Handelsregeln durch großes Engagement der EU zu gestalten und in einem immer stärkeren feindlichen internationalen Umfeld die Interessen der EU besser durchzusetzen. Dies besonders dort, wo die Gefahr besteht, dass die EU-Wirtschaft lang- und mittelfristig den globalen Konkurrenzkampf verlieren könnte.
In der scheinbar friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Interessenlagen gibt es dennoch eine Hierarchie zwischen sozialen und klimapolitischen Anliegen einerseits und Profitinteressen andererseits. Diese lässt sich am Grad der Konkretisierung der vorgeschlagenen Maßnahmen erkennen: nämlich dort, wo anstelle von Absichtserklärungen und Reflexionen von konkreten (neuen) Instrumenten gesprochen wird.
So kündigt die EU-Kommission ein stärkeres Vorgehen gegenüber wettbewerbsverzerrenden Praktiken an. Diese reichen von Zollausgleichsmaßnahmen bis zu neuen Rechtsinstrumenten gegen unfaire Handelspraktiken von Drittstaaten. Sie zielen jedoch vor allem auf unternehmerische Interessen ab. Explizit klimapolitische Ziele oder die Einhaltung hoher Arbeitsstandards und -bedingungen vermissen Leser*innen an dieser Stelle.
Welchen Stellenwert haben nun die Bekämpfung der Klimakrise und Verbesserungen für Arbeitnehmer*innen in der neuen Handelsstrategie? Wie nachhaltig und durchsetzungsfähig sind die vorgeschlagenen Maßnahmen?
Mehr Kohärenz mit dem europäischen Grünen Deal?
Der Grüne Deal ist die neue „EU-Wachstumsstrategie“ und zentrales Instrument zur Bekämpfung der Klimakrise. Folglich kann sich auch die neue EU-Handelsstrategie nicht länger den Forderungen einer stärkeren Politikkohärenz verwehren. Allerdings: Bereits die vorhandenen bilateralen EU-Handelsabkommen sind nach Ansicht der EU-Kommission geeignet, die grüne Transformation voranzutreiben. Einerseits, indem sie den Handel mit grünen Technologien, Produkten und Dienstleistungen vortrieben und Marktzugang sicherten. Anderseits, indem durch Handelsabkommen der Zugang zu notwendigen Rohstoffen für grüne Technologien sowie neue Absatzmärkte für EU-Anbieter von erneuerbarer Energie gesichert würden. Weshalb es auf Basis bestehender Handelsabkommen noch nicht zu einer stärkeren grünen Transformation gekommen ist, bleibt offen. Nicht thematisiert wird außerdem, dass der Abbau von Rohstoffen gefährlich für Minenarbeiter*innen ist, deren Gesundheit schädigt und ökologische Katastrophen verursacht.
Den Fokus auf grüne Produkte und Dienstleistungen zu legen ist überdies nur eine Seite der Medaille. Die andere, den konventionellen Handel und dessen Auswirkungen auf das Klima, blendet die EU-Kommission in ihrer Mitteilung vollständig aus. Die Nachfrage in der EU wird unter anderem auch durch den Import von Gütern aus dem globalen Süden – allen voran China – gestillt. Damit fallen Treibhausgasemissionen sowohl bei der Produktion im Ausland als auch durch den Transport an. So importierte die EU 2015 über Rohstoffe, Vor-, Zwischen- und Endprodukte beispielsweise aus China und Südostasien rund 783 Milliarden Tonnen Treibhausgasemissionen (THG). Nach China exportierte die EU demgegenüber 295 Milliarden Tonnen THG. Der THG-Fußabdruck der EU, der die Importe mitberücksichtigt, ist rund 30 Prozent höher als die Emissionen, die in der EU produziert werden.
Zwar ist die EU-Kommission bestrebt, Lieferketten resilient und nachhaltig zu gestalten. Doch ob der Welthandel einer Organisationsreform bedarf, wird seitens der EU-Kommission nicht kritisch hinterfragt. Im Sinne von Klimaneutralität oder auch zur Reduktion von Abhängigkeiten, die durch die Pandemie zu Tage getreten sind, könnten resiliente und nachhaltige Lieferketten auch bedeuten, diese zu kürzen oder die Regionalisierung von Produktionsprozessen voranzutreiben.
Die Ankündigung der EU-Kommission, die Achtung des Pariser Klimaabkommens als wesentlichen Bestandteil („essential element“) in allen zukünftigen Handelsabkommen zu verankern, erscheint zwar als wichtiger, aber längst nicht ausreichender Schritt. Nur wenn gemeinsam mit den Handelspartnern konkrete und durchsetzungsfähige Maßnahmen ausbuchstabiert werden, entfalten Formulierungen in Verträgen in der Realität Wirkung.
Widersprüche zwischen unterschiedlichen Handelsinteressen, die durch die grüne Brille betrachtet werden müssten, thematisiert die EU-Kommission ebenfalls nicht. In dem umstrittenen Handelsabkommen mit dem Mercosur strebt die EU beispielsweise an, Zölle für landwirtschaftliche Produkte aus dem Mercosur zu senken. Gerade in Brasilien wurden und werden große Teile des Amazonas-Regenwalds gerodet, um die nutzbare Fläche für den Sojaanbau und die Viehzucht – beides zentrale Exportprodukte für den EU-Markt – auszuweiten. Die Abholzung des Regenwalds und damit eines zentralen CO2-Speichers wird sich nicht allein durch vermeintlich sauberere und effizientere Herstellungsmethoden in (anderen) Branchen ausgleichen lassen.
Bessere Durchsetzung von Arbeitsstandards?
In der Mitteilung hält die EU-Kommission nicht nur am EU-Mercosur-Handelsabkommen fest, sondern sieht generell bei den beschlossenen bilateralen Handelsverträgen keinen Änderungsbedarf. Stattdessen kündigt sie die ordnungsgemäße Umsetzung und Durchsetzung von Handelsabkommen sowohl hinsichtlich Marktzugang als auch bei Verstößen gegen Verpflichtungen aus dem Handelsteil und den Nachhaltigkeitskapiteln an.
Für Konflikte zwischen den Vertragsparteien, die die Handelstätigkeit betreffen, ist ein Streitschlichtungsmechanismus vorgesehen, der als letztes Mittel auch Sanktionen und Strafen zulässt. Demgegenüber können im Falle von Verstößen gegen Sozial- und Arbeitsrechte sowie Umweltnormen lediglich Empfehlungen ausgesprochen werden. Wie erst kürzlich am EU-Korea-Handelsabkommen demonstriert, hat die EU keine weiteren Instrumente in der Hand, um Südkorea zur Einhaltung von international garantierten Arbeitsrechten zu verpflichten, die im Abkommen vereinbart sind.
Ob die EU-Kommission das Ungleichgewicht hinsichtlich der Durchsetzung von unternehmerischen und gesellschaftlichen Interessen überhaupt austarieren möchte, kann aus der vorliegenden Mitteilung nicht abschließend beurteilt werden. Sie stellt lediglich in Aussicht, im Zuge der demnächst stattfindenden Überprüfung der Implementierung und Durchsetzung von Nachhaltigkeitskapiteln in Handelsabkommen unter anderem auch den Streitbeilegungsmechanismus und die Möglichkeit von Sanktionen bei Verstößen unter die Lupe zu nehmen. Wirksame und sanktionierbare Nachhaltigkeitsbestimmungen in Handelsabkommen der EU mit Drittstaaten sind zum Schutz der Umwelt und von Lebens- und Arbeitsbedingungen längst überfällig.
Gleichzeitig kündigt die EU-Kommission an, ihre Anstrengungen für bessere Arbeitsbedingungen auf Zwangsarbeit und Kinderarbeit zu fokussieren. Auch das sind wichtige und notwendige Schritte. Allerdings läuft diese Engführung Gefahr, die ILO-Kernarbeitsnormen gegeneinander abzuwägen. Gewerkschaftliche Organisierung, Kollektivvertragsverhandlungen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Nicht-Diskriminierung bleiben unberücksichtigt. Damit Beschäftigte für gute Arbeitsbedingungen eintreten können, müssen gewerkschaftliche Grundrechte in globalen Wertschöpfungsketten abgesichert sein.
Schöne Verpackung, enttäuschender Inhalt
Die EU-Handelspolitik zu begrünen und sozial tragfähig zu gestalten, bleibt mit der vorliegenden Mitteilung eine bloße Absichtserklärung der EU-Kommission. Sie ruft nach der derzeit kaum handlungsfähigen WTO, um einen klimaneutralen, umweltfreundlichen und sozial gerechten Welthandel voranzutreiben. Die relevanten Stellschrauben auf EU-Ebene lässt sie gekonnt unerwähnt und umschifft Widersprüche und Konflikte, die eine konsequente Ausrichtung an sozialen und klimapolitischen Interessen hervorbringen würde. Damit lässt sie die noch halbwegs zeitgerechte Chance verstreichen, Handelsbeziehungen an den Notwendigkeiten einer klimagerechten Kooperation auszurichten und menschenverachtende Arbeitsbedingungen an Produktionsstandorten für Exportgüter in die EU abzustellen. Letztlich verhaftet sie damit in der bekannten Handelslogik, die auf dem Nachhaltigkeitsauge blind ist.