Würde man die Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld in Österreich von derzeit 55 auf 70 Prozent erhöhen, würde das rund 80 Prozent der arbeitslosen Menschen helfen. Ihre Einkommen würde im Schnitt um 85 Euro pro Monat ansteigen. Die Anzahl an arbeitslosen und armutsgefährdeten Menschen würde um rund 37.300 gesenkt und bis zu 14.000 neue Arbeitsplätze könnten dadurch geschaffen werden. Eine solche Erhöhung würde somit die soziale Sicherung von Arbeitslosen in Österreich immens stärken.
Die Corona-Krise hat erneut gezeigt, wie fragil der österreichische Arbeitsmarkt ist und wo die Schwächen der Arbeitslosenversicherung liegen. Die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit ist viel zu gering und bedeutet für arbeitssuchende Menschen und ihre Familien häufig Armut. Die angedachte Reform von Arbeitsminister Kocher löst diese Problematik nicht, sondern verschlechtert die soziale Lage von Arbeitslosen erheblich. Eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigt, dass eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf mindestens 70 Prozent Nettoersatzrate Ungleichheit und Armut verringert, Familieneinkommen erhöht, den Konsum belebt und somit zu mehr Jobs führt.
Ungewisse Arbeitsmarktlage
Aktuell befinden wir uns in herausfordernden Zeiten. Die Entwicklung der Corona-Pandemie ist ungewiss, und strukturelle Veränderungen am Arbeitsmarkt, wie etwa Digitalisierung, ökologische Transformation und Alterung der Gesellschaft, bleiben große Herausforderungen. Überdies wird auch der Krieg in der Ukraine massive wirtschaftliche Auswirkungen auf Österreich im Hinblick auf Wirtschafswachstum und Inflation haben. Ende Februar 2022 waren beim AMS rund 377.000 Menschen als arbeitslos oder in Schulung registriert. Im Februar 2020 – also noch vor Beginn der Corona-Krise – waren rund 22.500 Personen weniger beim AMS vorgemerkt. Der derzeitige Rückgang der Arbeitslosigkeit könnte durch die aktuellen Entwicklungen deutlich gebremst oder sogar umgekehrt werden.
Situation von arbeitslosen Menschen ist angespannt
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, plant die Regierung, den Druck auf Arbeitslose durch finanzielle Einschnitte massiv zu erhöhen. Derzeit wird eine zweiwöchige Wartezeit auf das Arbeitslosengeld und ein degressives Modell, also eine Verringerung des Arbeitslosengeldes im Laufe der Arbeitslosigkeit, diskutiert. Zudem soll die Zuverdienstmöglichkeit abgeschafft werden. Keine dieser Maßnahmen schafft neue Arbeitsplätze, sondern befördert vielmehr den Niedriglohnsektor und bedeutet eine deutliche Verschlechterung der sozialen Absicherung von arbeitssuchenden Menschen.
Dabei sind arbeitslose Menschen jedoch ohnehin schon einem deutlich höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Umfragen zeigen, dass das Einkommen von mehr als acht von zehn Arbeitslosen und mehr als neun von zehn Langzeitarbeitslosen nicht oder nur gerade so ihren Bedürfnissen entspricht. 2019 waren laut Statistik Austria mehr als die Hälfte (52 Prozent) der ganzjährig Arbeitslosen armutsgefährdet. Die soziale Lage der arbeitslosen Menschen in Österreich ist somit sehr angespannt. Zunehmend mehr arbeitssuchende Menschen sind auf eine Aufzahlung im Rahmen der Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung angewiesen.
Anhebung der Nettoersatzrate hat positive Verteilungseffekte
Um die finanzielle Absicherung von Arbeitssuchenden zu verbessern, fordern die Arbeiterkammern und die Gewerkschaften eine Anhebung der Nettoersatzrate von 55 Prozent auf mindestens 70 Prozent des vorigen Einkommens. Das würde den unteren Einkommensgruppen am stärksten helfen. Die Maßnahme hat somit eine deutlich progressive Wirkung und würde die Einkommenssituation jener Haushalte stabilisieren, die es am dringendsten brauchen. Jeder zusätzliche Euro in diesem Einkommenssegment erhöht unmittelbar den Konsum, was wiederum zu mehr Jobs führt. Gesamtgesellschaftlich würde dadurch die Ungleichheit abnehmen, was ein Ziel der Reform der Arbeitslosenversicherung sein sollte.
Im Schnitt um 80 Euro höhere Einkommen für Arbeitssuchende
Im Schnitt hätten Haushalte, in denen mindestens eine Person Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezieht, im Jahr 2020 monatlich 85 Euro mehr bekommen. Die Höhe des Einkommenszuwachses hängt dabei von mehreren Faktoren, wie zum Beispiel der Dauer der Arbeitslosigkeit, der Höhe des Arbeitslosengeldes und der bisherigen Ersatzrate, ab.
Zwischen den Haushaltstypen bestehen daher deutliche Unterschiede. Single-Haushalte würden 80 Euro pro Monat mehr an Geld erhalten, Familien (mit oder ohne Kinder) würden um mehr als 75 Euro im Monat dazubekommen. Alleinerziehende hätten von der Reform etwas weniger, da sie davor oft geringe Erwerbseinkommen hatten (z. B. aufgrund von Teilzeitarbeit) bzw. durch den sogenannten Ergänzungsbetrag bereits jetzt eine höhere Nettoersatzrate (bzw. Begrenzung) von bis zu 80 Prozent erzielen, wodurch ihr Arbeitslosengeld durch die Reform nicht weiter steigt.
Notstandshilfe-Bezieher*innen erhalten am meisten!
Haushalte, in denen nur Arbeitslosengeld bezogen wird, bekommen im Schnitt monatlich bis zu 74 Euro dazu. Dabei spielt auch hier das Geschlecht bzw. das vor der Arbeitslosigkeit verdiente Erwerbseinkommen eine zentrale Rolle. Arbeitslose Frauen erhalten eine Erhöhung von lediglich 62 Euro pro Monat, Männer dagegen sogar knapp 100 Euro. Haushalte mit einem Notstandshilfe-Bezug, also Personen, die länger arbeitslos sind, erhalten mit bis zu 112 Euro am meisten. Angesichts der sehr hohen Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich ist dieser Effekt, diese besonders armutsgefährdete Gruppe unter den Arbeitslosen zu unterstützen, sehr wichtig.
Sozialhilfe-Aufstocker*innen wären wenig betroffen
Haushalte, die zusätzliche Leistungen aus der Sozialhilfe beziehen, wären von der Reform kaum betroffen. Aufgrund der Begrenzung des Haushaltseinkommens durch die bestehende Sozialhilfe bekommen sie im Schnitt lediglich elf Euro pro Monat dazu. Eine Verbesserung der Arbeitslosenversicherungsleistung hätte somit eine Senkung der Sozialhilfeausgaben zur Folge. Dies wirkt sich positiv auf das Budget der Bundesländer aus, führt aber auch zu einer Verbesserung der Rechtssicherheit (u. a. keine Vermögensverwertung, keine Anrechnung von Einkommen anderer Haushaltsmitglieder und der Erwerb von Pensionszeiten) für die Betroffenen.