Die Debatte um menschenzentrierte Technologien muss nicht bloß technisch oder gesellschaftlich, sondern politisch geführt werden. Denn Technologie-Entwicklung ist von wirtschaftlichen Interessen geprägt. Wo Widersprüche auftreten, braucht es dagegen auch (digitalen) Widerstand.
Viele Computerwissenschafter:innen sind sich inzwischen einig, dass die Entwicklung von Gesellschaft und Maschine miteinander so verwoben sind, dass sie von einer „Ko-Evolution“ sprechen. Der Erfinder des Internets, Tim Lee, hat zu dieser Ko-Evolution einen drastischen Befund: The system is failing. Denn was einst eine offene, dezentrale Plattform für alle Menschen sein sollte, ist ein Ort geworden, an dem viel Macht bei einzelnen Akteur:innen konzentriert ist.
Das Leitbild digitaler Humanismus ist ein Gegenvorschlag, demnach Digitalisierung stärker an das Menschliche angepasst werden muss, nicht umgekehrt, so eine Studie der Stadt Wien. Das bedeutet, gesellschaftliche Werte müssen in die Algorithmen und Programme direkt eingeschrieben werden. Wie das gehen soll, diskutieren Forscher:innen um das Feld der menschenzentrierten Technologie-Entwicklung.
Gleichzeitig ist aber klar, dass Digitalisierung ein umkämpftes Feld ist, in dem gesellschaftliche Machtverhältnisse Ausdruck finden. Es stellt sich also nicht nur die Frage, wie menschenzentrierte Algorithmen und Programme aussehen sollen, sondern auch, wie ein „digitaler Humanismus“ erreicht werden soll, denn: Eine Tech-Dystopie von Kontrolle, Überwachung, Fake News und Co, die die einen verhindern wollen, ist für die anderen profitabel.
Profitgetriebene Technologie-Entwicklung
Informationstechnologie hat volkswirtschaftlich in rasantem Ausmaß an Bedeutung gewonnen. China will den IKT-Sektor bis 2025 zu seiner Schlüsselindustrie entwickeln. Diese technologische Innovation wird zu großen Teilen von privaten Unternehmen vorangetrieben. In den USA kommen beispielsweise 72% der Mittel für Forschung und Entwicklung (F&E) aus dem Unternehmenssektor.
Die Wirkungsrichtung technologischer Entwicklungen ist nicht fix, sondern wird durch Machtverhältnisse geprägt, wie Dani Rodrik sagt. Ein Beispiel: Unternehmen investieren übermäßig in Automatisierung, und zwar um Kapitalerträge zu erhöhen beziehungsweise Personal einzusparen, nicht weil Automatisierung notwendigerweise die Gesellschaft voranbringt.
Neue alte Widersprüche
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Anwendungen entstehen, um anderweitig Druck auf Beschäftigte auszuüben, zum Beispiel:
- Bereits jetzt sind Überwachungs- und Kontrolltechnologien im Einsatz, wie Wolfie Christl eindrucksvoll aufzeigt.
- Plattformunternehmen wie mjam oder Uber nutzen die digitale Vermittlung, um Arbeitsrechte zu verwässern und die Durchsetzungsfähigkeit ihrer (scheinselbstständigen) Beschäftigten zu schwächen.
- Zu den dystopischen Spitzenreitern gehören Vorhersage-Technologien wie das österreichische Startup Prewave, das verspricht, Risiken entlang internationaler Lieferketten vorherzusagen – darunter auch Streiks. Zukünftig könnten Unternehmen solche Technologien nutzen, um Arbeitskämpfe auszuhebeln, indem ihnen eine Künstliche Intelligenz einfach eine „optimierte“ Lieferkette vorschlägt.
Die oben genannten Technologien sind bereits entwickelt und werden im Sinne profitorientierten Wirtschaftens auch genutzt. Zusätzlich ist ein Großteil der digitalen Infrastruktur (also Server oder Leitungen) in Privatbesitz, oft auch bei den digitalen Leitunternehmen wie Amazon oder Google selbst.
All das erschwert auch herkömmliche Formen des Widerstands in der Arbeitswelt, weil Beschäftigte unter Druck gesetzt, kontrolliert, physisch zerstreut oder leicht austauschbar gemacht werden können. Wer diesen Interessensgegensatz ignoriert, riskiert, dass „digitaler Humanismus“ als Leitbild eine Worthülse bleibt.
Wie sieht digitaler Widerstand aus?
Wer die „Ko-Evolution“ von Mensch und Maschine im Interesse der Vielen verbessern will, darf also nicht nur die Frage nach der richtigen Technologie stellen. Darüber hinaus muss eine solche gegen mächtige Interessen auch durchgesetzt werden. Dazu braucht es gesellschaftlichen Widerstand, auch im Digitalen. Ein paar Beispiele können als Diskussionsanstoß dienen:
- Mikro-Streiks für Mikro-Tasks: Zwei Informatiker:innen haben ein Browser-Plugin namens Turkopticon entwickelt, auf dem Plattform-Beschäftigte bei Amazon Mechanical Turk einander mittels Bewertungen vor ausbeuterischen Auftragnehmer:innen warnen – schlechte Bewertungen sind für diese geschäftsschädigend.
- Algorithmen verstehen und stören: Gewerkschaften müssen Skripte wie jenes der Streikvorhersage verstehen und gegebenenfalls auch gestalten können. Wer weiß, wie komplexe Systeme funktionieren, kann diese mit einer kollektiven Aktion „der Vielen“ stören, etwa wie bei der Gamestop Aktie.
- Digitale Kampfmaßnahmen verhindern: Im Fall eines Streiks in einer Druckerei zeigte sich schon 2003, wie Unternehmen digitale Mittel nutzen, um physische Streiks zu untergraben. Sie transferierten einen wichtigen Auftrag (in Form der Druckdaten) des bestreikten und stillgelegten Betriebs kurzerhand an ein halbes Dutzend fremde Druckereien, sodass er trotz Streik gedruckt wurde. Dem zu begegnen könnte bedeuten, den Betrieb auch digital „stillzulegen“, also ihn vom Netz zu nehmen oder den Server lahmzulegen.
Anm: Diese Vorschläge stammen aus dem Beitrag Digitalisierung in der Krise: Geschlecht, Konzentration und Organisierung. Perspektiven für die Arbeitnehmer*innen-Interessensvertretung | Schöggl & Berger (Momentum Quarterly)