In immer mehr Firmen wird nahezu der gesamte Arbeitsalltag digital aufgezeichnet. Die Analyse von Daten über Arbeitstätigkeiten und Verhaltensweisen wird schnell zur permanenten Überwachung und Kontrolle. Während betriebliche Abläufe optimiert werden, geraten ArbeitnehmerInnen unter Druck – und unter Pauschalverdacht. In einer umfangreichen Studie wird vorgelegt, wie Betriebe Daten über (und gegen) Beschäftigte nutzen.
Digitale Kontrolle im Paketverteilzentrum
In den globalen Paketverteilzentren des Plattform-Giganten Amazon werden Hunderttausende Beschäftigte auf Schritt und Tritt überwacht. Tragbare Barcode-Lesegeräte spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie ermöglichen nicht nur eine laufende Bewertung der Arbeitsgeschwindigkeit, sondern geben auf dem eingebauten Bildschirm vor, welche Ware als Nächstes geholt, in eine Kiste gelegt oder in ein Regal gestellt werden soll – und zählen die Sekunden herunter, die für den nächsten Arbeitsschritt zur Verfügung stehen. Ist der Zähler abgelaufen, wird die restliche Zeit als unproduktive Zeit aufsummiert.
Werden die Vorgaben für die zu bewältigenden Produkte pro Stunde nicht erfüllt, erfolgt nach sechs automatisierten Verwarnungen die Kündigung. In einem US-Warenlager von Amazon wurden auf diese Weise jährlich über zehn Prozent der Belegschaft wegen mangelnder „Produktivität“ gekündigt. Amazon macht hier systematisch extremen Druck und nutzt Daten nicht nur zur Leistungskontrolle, sondern für eine engmaschige digitale Steuerung des gesamten Arbeitsprozesses samt automatisierter Personalverwaltung. Berichte aus Deutschland und Österreich legen nahe, dass zumindest Teile des Systems auch hierzulande im Einsatz sind.
Ausweitung der betrieblichen Datenerfassung
Amazon ist – wie so oft – ein Extrembeispiel. Doch auch in anderen Betrieben, Branchen und Tätigkeitsbereichen dringt die Erfassung von Beschäftigtendaten immer mehr in den Arbeitsalltag ein. War die Textverarbeitung bis vor Kurzem ein Programm, das relativ unbeobachtet auf dem PC gelaufen ist, speichert Microsoft 365 heute viele Daten über Aktivitäten und Verhaltensweisen in der Cloud. Ob im Callcenter oder in der hochqualifizierten Wissensarbeit – sobald am PC gearbeitet wird, werden umfassende Daten über Arbeitstätigkeiten aufgezeichnet. Mächtige Systeme wie SAP, die in größeren Firmen viele betriebliche Abläufe steuern, protokollieren jeden Arbeitsschritt. Aus der Smartphone-App für die Zeiterfassung wird durch Zusatzfunktionen für Arbeitsorganisation und Kundenabrechnung schnell ein umfassendes Kontrollwerkzeug – ob im Verkauf, bei der Wartung von Anlagen, bei der Hausreinigung oder in der mobilen Pflege.
Smartphones sind heute bei Weitem nicht die einzigen Geräte, die permanent Daten über das Verhalten ihrer NutzerInnen erfassen. Während das Barcode-Lesegerät an der Supermarktkasse, in der Fabrik oder im Logistikzentrum schon länger Daten über diejenigen sammelt, die damit arbeiten, dehnt sich die Speicherung von Verhaltensdaten heute in viele andere Bereiche aus – vom vernetzten Bauschuttcontainer bis zum Servierwagen im Hotel. Maschinen, Fabrikhallen, Labore, Bürogebäude, Arbeitsplätze und Fahrzeuge werden zu digital vernetzten Umgebungen. Nahezu jedes technische System protokolliert heute Aktivitäten, Abläufe und Verhaltensweisen. Die erfassten Daten werden zunehmend zusammengeführt und ausgewertet – in Datenbanken von Konzernzentralen oder in der „Cloud“.
Fragwürdige Auswertungen mit exzessiven Beschäftigtendaten
Microsoft 365 kann heute aufzeichnen, welche Programme wie lange genutzt und welche Dateien erstellt, geändert, geöffnet oder freigegeben wurden. Auch Kalendereinträge und Kommunikationsdaten stehen für Auswertungen zur Verfügung. Mit Berichtsfunktionen wie Workplace Analytics können Firmen analysieren, wie viel Zeit ArbeitnehmerInnen mit Videokonferenzen, Besprechungen oder E-Mail-Versand verbringen. Microsoft verspricht sogar, die „Qualität“ von Besprechungen und soziale Beziehungen zwischen Beschäftigten zu bewerten. Auch wenn sich solche Kennzahlen mit zweifelhafter Aussagekraft hauptsächlich auf Gruppen von Beschäftigten beziehen, werden dabei umfassende Verhaltens- und Kommunikationsdaten auf individueller Ebene analysiert. Zudem bietet Microsoft Betrieben und Drittfirmen viele weitere Zugriffsmöglichkeiten auf individuelle Beschäftigtendaten.
Neben Microsoft, dessen Systeme den Arbeitsalltag von Millionen Beschäftigten prägen, verkauft eine Vielzahl an Herstellern Software an Betriebe, die exzessiv Daten verarbeitet und auswertet. Ein Anbieter verspricht etwa die Analyse von Kommunikation und Zusammenarbeit im Büro mithilfe tragbarer Geräte mit eingebautem Mikrofon. Ein anderer Hersteller analysiert An- und Abwesenheiten mit Bewegungsmeldern unter Schreibtischen. Durch die Ortung von Smartphones und Laptops mittels WLAN-Daten sollen Bewegungsmuster in Innenräumen sichtbar werden. Aktuelle Callcenter-Software wertet Gespräche maschinell aus und verspricht gar, Kennzahlen über die Empathie-Fähigkeit von Beschäftigten zu berechnen.