Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik: Anker oder Mühlstein für mehr Wohlstand?

19. Januar 2017

Das Regelwerk der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ist wesentlich von der Sorge der wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten (MS) geprägt, von ökonomischen Problemen anderer Teilnehmer belastet zu werden. Die daraus resultierende Fokussierung auf einzelstaatliche „Disziplin“ hatte eine restriktive Grundausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik zur Folge. Während sich diese Ausrichtung im Wachstumsumfeld des ersten Jahrzehnts bewährt hat, hat sie seit Ausbruch der Finanzkrise die wirtschaftliche Erholung nachhaltig behindert und zur politischen Polarisierung beigetragen. Ein Ausbrechen aus diesem Korsett ist daher dringend erforderlich. Mögliche Ansätze sind die Einrichtung oder Ausweitung gemeinsamer konjunkturstützender Instrumente oder die Schaffung von Spielräumen für entsprechende Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten.

Die vertragsrechtliche Ausgangslage

Ordnungspolitisches Leitbild der EU ist laut Grundverträgen eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“. Die konkreten wirtschaftspolitischen Ziele entsprechen weitgehend dem klassischen „magischen Vieleck“, nämlich vor allem ausgewogenes und nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Außengleichgewicht und soziale Gerechtigkeit. Auch soll der wirtschaftliche Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten (MS) gefördert werden. Diese Ziele werden im Eingangskapitel des EUV ohne Gewichtung aufgezählt.

Wie in den meisten Sachbereichen sind die wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten zwischen EU- und einzelstaatlicher Ebene geteilt. Bis zur Einrichtung der WWU lagen die wichtigsten wirtschaftspolitischen Hebel (Fiskalpolitik, Geld- und Währungspolitik, Einkommenspolitik, „Strukturpolitik“) bei den MS.

Sorge als Bestimmungsmerkmal der europäischen Wirtschaftspolitik …

Mit der Schaffung einer gemeinsamen Währung wurde Wirtschaftspolitik wesentlich stärker als zuvor zu einer „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“, sodass engere Abstimmung geboten war. Gleichzeitig sollten unterschiedlich starke Volkswirtschaften zusammengebracht werden, die keine „optimale Währungszone“ darstellen würden.

Die Diskussion war damit stark von der Sorge der wirtschaftlich stärkeren MS geprägt, von allfälligen „makroökonomischen Schieflagen“ der Partnerländer im Wege finanzieller Beiträge oder höherer Zinsen in Mitleidenschaft gezogen zu werden

Diese Sorge hat die WWU wesentlich mitbestimmt.

Erstens erklärt sie den Umstand, dass implizit eine Zielhierarchie geschaffen wurde: Nur jene makroökonomischen Ziele fanden nämlich Eingang in die „richtungweisenden Grundsätze“ im AEUV, die geeignet waren, diese Sorge zu mildern. Es sind dies „stabile Preise“, „gesunde öffentliche Finanzen“ sowie eine „dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“.

Zweitens erklärt sie den Umstand, dass man sich wirtschaftspolitisch nur gegen zu starke, nicht aber gegen zu schwache makroökonomische Dynamik gewappnet hat.

Drittens erklärt sie die dominierende Rolle, die sich der sachzuständige Rat (i.e. jener der Wirtschafts- und Finanzminister, „Ecofin“, bzw. sein informelles Pendant in der „Eurogruppe“) im Bereich der wirtschaftspolitischen Steuerung und Überwachung vorbehalten hat.

Zwar übt die Kommission ihre reguläre Vorschlagsfunktion aus, doch bestimmt der Rat dann im Gegensatz zu den meisten Sachmaterien im Wesentlichen allein. Dem Europäischen Parlament (EP) kommt somit bei Formulierung von wirtschaftspolitischen Empfehlungen oder Kreditbedingungen eine stark reduzierte Rolle zu (ex post-Berichte und punktuelle Anhörungen).

… mit dem Ergebnis einer restriktiven Grundausrichtung

Die Sicherung von „Preisstabilität bei gesunden monetärer Rahmenbedingungen“ wurde einem operationell unabhängigen „Europäischen System der Zentralbanken“ (ESZB) übertragen, welches die übrigen Vertragsziele des „magischen Vielecks“ nur sekundär unterstützen darf. Seit 2003 gilt ein Inflationsziel von knapp 2 %.

Die fiskalpolitischen Festlegungen konzentrierten sich, dem Ziel „gesunder öffentlicher Finanzen“ entsprechend, seit Beginn auf die Verpflichtung zu länderweiser „Haushaltsdisziplin“. Bereits 1992 wurden Obergrenzen für gesamtstaatliche Nettodefizite und Bruttoschulden eingezogen („Maastricht-Kriterien“ von 3 % bzw. 60 % des BIP), wozu 1997 die Verpflichtung zu mittelfristig zumindest ausgeglichenem Gebarungserfolg trat („Stabilitäts- und Wachstumspakt“, SWP). 2005 wurde der SWP um eine konjunkturelle Komponente ergänzt und wurde ein länderspezifischer „struktureller Saldo“ eingeführt. Im Gefolge von Finanz- und Schuldenkrise wurden zwischen 2011 und 2013 acht (!) weitere Gemeinschaftsakte sowie ein zwischenstaatlicher „Fiskalpakt“ verabschiedet. Sie beinhalten weitere quantitative Budgetziele (Schuldenregel, Ausgabenregel), prozedurale Verschärfungen und budgettechnische Festlegungen. Die Fiskalregeln stehen heute im Mittelpunkt der europäischen Wirtschaftspolitik.

Das Ziel einer „dauerhaft finanzierbaren Zahlungsbilanz“ wurde ursprünglich in die „richtungsweisenden Grundsätze“ mit dem Verständnis aufgenommen, dass diese Finanzierbarkeit in einer Währungsunion ohnehin automatisch gegeben sei. Erst nach kontroversieller Diskussion der sog. „Target2-Salden“ wurde 2011 auch für „makroökonomischer Ungleichgewichte“ ein Überwachungsverfahren eingeführt.

Alle vergemeinschafteten Instrumente – Geld- und Währungspolitik, Fiskalregeln, Überwachung der makroökonomischen Ungleichgewichte und Überwachung der Strukturpolitik – sind in Konzeption und/oder Wirkung restriktiv angelegt.

Das Vertragsziel einer „dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleistungen“, also einer Einkommenskonvergenz zwischen reicheren und ärmeren MS, sollte durch eine nicht näher definierte „engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ erreicht werden.

Die Frage, welche Konsequenzen die weitgehende Zentralisierung der wesentlichsten makropolitischen Steuerungshebel hinsichtlich der Verfolgung der Ziele Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und breiter Wohlstand hat, fand keinen vertraglichen Niederschlag. Damit blieben bei Einrichtung der WWU Zuständigkeiten und Instrumente zur Erreichung der „expansiven“ Vertragsziele offen.

Nach dem Grad der rechtlichen Verbindlichkeit ergibt sich folgende Zielhierarchie:

  1. Haushaltsdisziplin (hohe rechtliche Verbindlichkeit; Sanktionsmöglichkeit bei Überschreitung von Defizit- und/oder Schuldenplafonds; hohes politisches Augenmerk; zentrale Kondition bei Hilfskrediten);
  2. Außengleichgewicht (rechtlich verbindlich, aber weniger griffig; Sanktionsmöglichkeit; Kondition bei Hilfskrediten);
  3. Preisstabilität (EZB-Inflationsziel von knapp 2 % für Länderdurchschnitt; für MS rechtliche Bedeutung nur hinsichtlich WWU-Beitritt; doch keine direkten wirtschaftspolitischen Instrumente);
  4. Beschäftigung (Koordination von „Beschäftigungsstrategien“ der MS; Zuschüsse aus EU-Haushalt);
  5. Wachstum (strukturpolitische Initiativen, z. B. Binnenmarkt oder Forschung);
  6. Einkommenskonvergenz zwischen reicheren und ärmeren MS (Kohäsionspolitik im Rahmen des EU-Haushalts);
  7. breiter Wohlstand (keine direkten Initiativen, doch punktuell rechtlich nicht bindende Ziele, z.B. in EU-2020).

Es sind also jene makroökonomischen Ziele am verbindlichsten und wirksamsten verankert, welche grundsätzlich restriktiv angelegt sind oder wirken.

In allen EU-Grundsatzdokumenten findet sich aber weiterhin die breitere Zielpalette der Eingangskapitel der Grundverträge, wobei die Bedeutung von Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und breiterem Wohlstand gerade in den letzten Jahren besonders betont wurde.

… einer stärkeren politischen Dichotomisierung

Das besondere Prozedere, das für die wirtschaftspolitische Steuerung und Überwachung gilt, ist nicht ergebnisneutral. Hauptgrund ist, dass im Rat supranationale Überlegungen in der Regel eine geringere Rolle spielen als im EP und treibende Kraft einzelne MS, meist die großen, sind. Auch haben im „Ecofin“ bzw. in der Eurogruppe die „Nettozahler“ (EU-Haushalt) und die „Gläubigerstaaten“ („Rettungsschirme“) überproportionales Gewicht.

Diese Rahmenbedingungen haben zu einer zunehmenden politischen Polarisierung v.a. zwischen „Nordstaaten“ und „Südstaaten“ geführt. Divergierende Interessen und/oder ordnungspolitische Vorstellungen werden meist durch Abstimmung entschieden, wobei qualifizierte Mehrheit gilt.

unausgewogener Prioritäten

So wichtig es ist, die öffentlichen Finanzen nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, so wichtig ist es auch, dabei die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Auswirkung auf andere Vertragsziele zu beachten. Beides ist derzeit nur ungenügend der Fall.

Wie mittlerweile auch die Kommission problematisiert, ergibt die ausschließliche Fokussierung auf länderweise Budgetdisziplin für die Region insgesamt einen rein zufälligen fiskalpolitischen Kurs. Ein solcher Ansatz erscheint angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen, der gewichtigen Budgetvolumina und der engen wirtschaftlichen Verflechtung der MS wirtschaftspolitisch nicht rational. Auch wird der Umstand, dass fiskalpolitische Aktionen einen stärkeren Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Auslastung haben, wenn mehrere MS gleichgerichtete Aktionen setzen, damit nicht beachtet und zum gemeinsamen Vorteil genützt. Negatives Beispiel ist das scharfe gemeinsame Einschwenken auf Budgetkonsolidierung im Jahr 2011, welches eine zweite europäische Rezession eingeleitet hat.

Aufgrund der zentralen Stellung, welche den Fiskalregeln eingeräumt ist, werden andere wirtschaftspolitische Zielsetzungen, die in die Verantwortung der MS fallen, tendenziell marginalisiert. Im Kollisionsfall greifen nämlich die Fiskalregeln, wie das Beispiel der „Europa 2020“-Strategie, welcher nur politische Verbindlichkeit zukommt, zeigt.

Das Rechtsinstrumentarium wirkt asymmetrisch, da die MS wohl zu Konsolidierung, nicht hingegen zu einem expansiveren Kurs verpflichtet werden können. Solange nicht alle MS einzeln die Zielwerte erreicht haben, geht damit tendenziell von den Fiskalregeln auch dann eine restriktive Wirkung aus, wenn sie im Aggregat erreicht sind.

Eine rein länderweise, „Disziplin“-orientierte Betrachtung führt auch eher zu einer verengten „angebotsorientierten“ Perspektive. Daraus leiten sich zwangsläufig eine Überbetonung von Kostenfaktoren und eine Vernachlässigung gesamtwirtschaftlicher Nachfrage- und Verteilungsaspekte ab.

Schließlich sind die Fiskalregeln mittlerweile höchst komplex. Grad und Relevanz ihrer Einhaltung sind daher Nicht-Experten und damit der Öffentlichkeit kaum kommunizierbar, während ihr Vollzug administrativ aufwendig ist und kaum Raum für inhaltliche Diskussion lässt.

und einer konjunkturpolitischen Achillesferse

Nach acht Jahren Quasi-Stagnation, regelmäßig nach unten revidierten Prognosen und ausgereizter Geldpolitik wird offensichtlich, dass sich die europäische Wirtschaftspolitik in einem Dilemma befindet. Dieses besteht darin, dass ein Instrument fehlt, um aus dem Teufelskreis „Stagnation – neuerliches Konsolidierungserfordernis“ auszubrechen.

Es erscheint daher ökonomisch sinnvoll, Instrumente zu schaffen, welche einen entsprechenden Nachfrageschub erlauben. Ein möglicher Ansatz ist die Einrichtung neuer Steuerungsinstrumente auf Ebene der Union. Ein zweiter – und vermutlich zielführenderer – Ansatz wäre, den budgetären Manövrierspielraum der MS auszudehnen.

Dieser Beitrag beruht auf einer deutlich ausführlicheren Fassung, die in der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ erschienen ist. (Weitere Beiträge der – nun zur Gänze online verfügbaren – Ausgabe 3/2016  sind: Philipp Heimberger zur Problematik struktureller Defizitvorgaben, Markus Knell zu Grundlagen von Pensionskonten und Ewald Walterskirchen zum Postkeynesianismus).