Ein wichtiger Paradigmenwechsel: Ausnahme von kollektiven Verträgen vom EU-Kartellrecht zur Schaffung von Marktgegenmacht

15. Februar 2023

Die Zahl der atypisch Beschäftigten nimmt weiter zu, sowohl in der Plattformökonomie als auch in traditionellen Wirtschaftsbereichen. Die EU-Kommission schätzt, dass von der Gesamtzahl von 28,3 Millionen Beschäftigten in der EU mehr als 5,5 Millionen scheinselbstständig tätig sind. Während abhängig Beschäftigte Marktgegenmacht durch Lohnabschlüsse im Rahmen von Kollektivverträgen schaffen dürfen, war dieser Weg Solo-Selbstständigen verwehrt, da das EU-Kartellrecht Vereinbarungen über Preise verbietet. Die gewerkschaftliche Forderung nach Schutz für wirtschaftlich abhängige Solo-Selbstständige ist nun auf Gehör gestoßen: Die EU-Kommission lässt kollektive Absprachen zu.

Ausgangsüberlegung dabei ist, dass eine Vielzahl von einzelnen Solo-Selbstständigen übermächtigen Parteien auf der Gegenseite gegenüberstehen, zum Beispiel Plattformen wie Amazon, Ebay, Rakuten, Alibaba. Doch auch andere Anwendungsbereiche sind denkbar. Entscheidend ist die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Vertragspartner. Hier setzt die EU-Kommission an: Um den Wettbewerb in einem immer oligopolistischer organisierten Markt sicherzustellen, soll die Schaffung von Marktgegenmacht unterstützt werden.

Häufig befinden sich Einzelunternehmen eigentlich in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer:innen. Dies gilt insbesondere für Solo-Selbstständige, die als Einzelpersonen handeln und ihren Lebensunterhalt in erster Linie mit ihrer eigenen Arbeitskraft bestreiten. Auch wenn Selbstständige nicht in gleicher Weise wie Arbeitnehmer:innen vollständig in das Unternehmen ihres Auftraggebers eingegliedert sind, sind sie oft stark von ihrem Auftraggeber abhängig oder verfügen nicht über genügend Verhandlungsmacht. Die jüngsten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt haben zu dieser Situation beigetragen: durch die Tendenz zur Untervergabe und Auslagerung von Geschäftsprozessen und persönlichen Dienstleistungen, aber auch durch die Digitalisierung von Produktionsprozessen und die Zunahme der Online-Plattformwirtschaft. Kollektive Verhandlungen können bei diesen Gegebenheiten ein wichtiges Mittel sein, um die Arbeitsbedingungen der Solo-Selbstständigen zu verbessern.

Vor diesem Hintergrund stellt die EU-Kommission in ihren neuen Leitlinien fest, dass (a) Tarifverträge von Solo-Selbstständigen, die sich in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer:innen befinden, nicht unter das Kartellverbot von Artikel 101 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) fallen und (b) sie nicht gegen Tarifverträge von Solo-Selbstständigen vorgehen wird, die ein Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht gegenüber ihren Gegenparteien aufweisen.

Lohnvereinbarung: Preiskartell, ja oder nein?

Für Arbeitnehmer:innen entwickelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon vor über 20 Jahren in seiner richtungsweisenden Entscheidung die Albany-Ausnahme: Mit Tarifverträgen zwischen Organisationen, die die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer:innen vertreten, sind zwangsläufig gewisse Wettbewerbsbeschränkungen verbunden, die jedoch zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen einschließlich Bezahlung notwendig sind. Solche Verträge verstoßen daher nicht gegen das EU-Wettbewerbsrecht. Dieses Recht erstreckt sich auch auf Scheinselbstständige, die richtigerweise auch als Arbeitnehmer:innen qualifiziert werden müssten.

In einem späteren Fall, der Rechtssache FNV Kunsten, entschied der EuGH, dass das Kartellverbot dann nicht zur Anwendung kommt, wenn sich die selbstständigen Dienstleistungserbringer:innen in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer:innen befinden. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Auftraggeber besteht oder sie Seite an Seite mit unselbstständig Beschäftigten unter den gleichen Bedingungen den gleichen Tätigkeiten nachgehen.

So weit, so positiv die Entwicklung der EU-Rechtsprechung. Jedoch: Ob ein Versuch der kollektiven Rechtssetzung nun konkret vom Kartellverbot erfasst oder ausgenommen ist, war für die Betroffenen in der Vergangenheit nicht mit Sicherheit abschätzbar. Schon die Frage, ob der „Einzelunternehmer“ fälschlicherweise als selbstständig qualifiziert wurde und ein Vertragsverhältnis rechtlich eigentlich als Arbeitsvertrag einzustufen ist, lässt sich abschließend nur gerichtlich klären. Noch unklarer war die Lage aber für wirtschaftlich abhängige Einzelunternehmer, weil nach der Entscheidung FNV Kunsten des EuGH einige Fragen offenblieben, zum Beispiel wie wirtschaftliche Abhängigkeit zu definieren ist.

Klarstellung durch die EU-Kommission

An diesem Punkt setzen die Leitlinien zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen mit dem Ziel an, die Koalitionsfreiheit von wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen zu stärken und mehr Rechtssicherheit für diese zu schaffen.

Leitlinien sind in der wettbewerbsrechtlichen Praxis der EU-Kommission ein gängiges Instrument, in dem sie darstellt, wie sie europäisches Recht interpretiert und anwendet. Es handelt sich dabei um eine Selbstbindung. Eine abschließende Beurteilung der Rechtslage obliegt daher stets den Gerichten der EU. Da aber der EU-Kommission im Bereich der Wettbewerbspolitik ausschließliche Vollzugskompetenz zukommt, sind ihre Leitlinien für den mitgliedstaatlichen Vollzug von maßgeblicher Bedeutung.

Vom Anwendungsbereich der Leitlinien erfasst und damit vom Kartellverbot ausgenommen sind sogenannte „Solo-Selbstständige“. Darunter versteht die EU-Kommission Personen ohne Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis, die zur Erbringung der Dienstleistungen auf die eigene Arbeitskraft angewiesen sind. Die Leitlinien führen drei Kategorien von erfassten Solo-Selbstständigen näher aus:

  1. Wirtschaftlich abhängige Solo-Selbstständige, das sind Solo-Selbstständige, die durchschnittlich mehr als die Hälfte ihres Einkommens über einen Zeitraum von ein oder zwei Jahren vom selben Auftraggeber beziehen;
  2. Solo-Selbstständige, die Seite an Seite mit echten Arbeitnehmer:innen arbeiten, also beispielsweise selbstständige Aushilfsmusiker:innen, die die gleichen Dienste erbringen wie angestellte Musiker:innen;
  3. Solo-Selbstständige, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, das sind klassische Fälle der Gig-Economy wie Fahrdienstvermittlungsplattformen oder Essenslieferdienste.

Voraussetzung dafür, dass eine Absprache nicht unter das Kartellverbot fällt, ist, dass es sich dabei um einen „Tarifvertrag“ handelt. Darunter versteht die EU-Kommission Vereinbarungen über die Arbeitsbedingungen zwischen Solo-Selbstständigen (oder ihren Vertretungen wie Gewerkschaften) und den Gegenparteien. Um kartellrechtlich unbedenklich zu sein, muss die Absprache den Kernbereich der Arbeitsbedingungen betreffen, das sind:

  • Bedingungen und Höhe der Vergütung,
  • Arbeitszeit,
  • Räumlichkeiten, in denen Arbeit stattfindet,
  • Pausen und Urlaub,
  • Gesundheit und Sicherheit,
  • Sozialversicherung und Sozialleistungen sowie
  • Bedingungen, unter denen das Vertragsverhältnis von beiden Seiten beendet werden kann.

Darüber hinausgehende Preisfestsetzungen, Geschäftszeitenregelungen und Gebietsabsprachen, zwischen Solo-Selbstständigen selbst oder zwischen den Gegenparteien, sind weiterhin als kartellrechtlich bedenklich einzustufen. Nach Ansicht der EU-Kommission unbedenklich sind jedoch vorbereitende Abstimmungen über die Verhandlungsstrategie zwischen den Verhandlungsparteien, unabhängig davon, ob letztlich auch ein kollektiver Vertrag geschlossen wird. Die konkrete Abgrenzung zwischen vorbereitenden Abstimmungen und Kartellen könnte in der Praxis aber noch zu Schwierigkeiten führen.

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Wie geht es weiter?

Die Klarstellung der EU-Kommission ist nützlich. Es wird ein umfängliches Spektrum von Sachverhalten erfasst und nicht nur der Bereich der Plattformökonomie. Die Leitlinien erkennen die faktische Übermacht großer Player auf Auftragsmärkten an, anstatt so zu tun, als stünden selbstständige Kleinstunternehmer:innen auf gleicher Augenhöhe mit global tätigen Konzernen oder großen Agenturen. Dennoch bestehen weiter Schutzlücken, zum Beispiel für Selbstständige, die weniger als 50 Prozent ihres Einkommens von einem Auftraggeber beziehen und nicht von einem der anderen Tatbestände erfasst sind.

Eine Verankerung des Gedankens der unverbindlichen Leitlinien in bindendes EU-Recht in Form einer De-minimis- und Gruppenfreistellungsverordnung sollte den nächsten Schritt darstellen. Diese Verordnungen definieren im Unterschied zu Leitlinien echte gesetzliche Ausnahmen vom Kartellverbot (sog. safe harbor), sie binden daher auch die Gerichte. Die rasche Verabschiedung der Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie ist weiterhin ganz oben auf der gewerkschaftlichen Prioritätenliste. Um auf nationaler Ebene Klarheit zu schaffen, sollte eine Freistellung von kollektiven Verträgen unter Einbindung der Interessenvertretungen (Sozialpartner und Berufsvereinigungen) auch in das österreichische Kartellgesetz aufgenommen werden. Österreichische gewerkschaftliche Initiativen für Ein-Personen-Unternehmen und freie Dienstnehmer:innen, insbesondere aus den Wirtschaftsbereichen Transport, Zustellung, Lieferung und Logistik nehmen die Mitteilung zum Anlass, sich entsprechend zu organisieren und für ihre Mitglieder kollektive Verträge über Entgelt und Arbeitsbedingungen gegenüber den jeweiligen Gegenparteien einzufordern.

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