Arbeitnehmer:innen psychisch durch finanzielle Sorgen und Arbeitsverdichtung unter Druck

14. November 2022

Immer mehr in immer kürzerer Zeit: arbeiten, Haushalt erledigen, Angehörige pflegen, Kinder betreuen und unterrichten – da bleibt kaum mehr Zeit für Regeneration oder die Pflege sozialer Kontakte. Wächst dann auch noch der finanzielle Druck, weil das Geld einfach nicht reicht für Wohnen, Tanken, Schulsachen und Lebensmittel, dann setzt das psychisch zu und macht krank. Diese Entwicklungen gab’s schon vor Corona – sie haben sich aber mit dem Pandemieausbruch deutlich verschärft! Damit wird klar, was für unser Wohlbefinden essenziell ist: ein gut ausgebauter Sozialstaat, der unterstützt und entlastet – im Alltag, wie in besonderen Lebenslagen.

Verschlechterung psychosozialer Gesundheit bei beinahe jedem/r Zweiten

Eine im März 2022 von SORA für die AK Oberösterreich durchgeführte repräsentative Befragung unter 1.212 Oberösterreicher:innen ab 16 Jahren wirft auch einen Blick auf die Arbeitnehmer:innen und legt offen: Mehr als 40 Prozent der Arbeitnehmer:innen berichten von einer Verschlechterung ihrer psychosozialen Gesundheit infolge der Corona-Pandemie. Die Pandemie hat darüber hinaus bereits bestehende Ungleichheiten verstärkt, denn das untere ökonomische Drittel ist von den psychosozialen und finanziellen Folgen insgesamt am stärksten betroffen. Die aktuelle Inflation gießt hier Öl ins Feuer eines bereits bestehenden Flächenbrands.

Ökonomische Sicherheit als Schutzfaktor in Krisenzeiten

Ökonomische Ressourcen sind zentral für die Bewältigung von unsicheren, belastenden oder krisenhaften Situationen – darauf verweist auch die vorliegende Studie: Während 52 Prozent der Oberösterreicher:innen im unteren Einkommensdrittel eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit berichten, gilt dies für (nur) weniger als halb so viele Menschen im oberen Drittel (22 Prozent). Der Spalt zwischen unten und oben ist durch die Pandemie auch in Oberösterreich weiter aufgegangen: Im Vergleich zu 56 Prozent im unteren Drittel berichteten im März nur zehn Prozent im oberen Drittel von einer Verschlechterung ihrer finanziellen Situation.

Fast ein Drittel denkt an Selbstmord

In den Wochen vor der Befragung litten 78 Prozent der Oberösterreicher:innen im unteren ökonomischen Drittel an zumindest einzelnen Tagen an Schlafstörungen, jeweils rund 75 Prozent an depressiven Symptomen und Erschöpfung. 40 Prozent von ihnen berichten außerdem von schweren Konflikten zu Hause, und 29 Prozent hatten wiederkehrende Gedanken, nicht mehr leben zu wollen. Im oberen und mittleren ökonomischen Drittel lagen die Zahlen niedriger, bereiten aber immer noch Grund zur Sorge.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Unterschiedliche Betroffenheiten unter den Beschäftigten

Unter den Arbeitnehmer:innen sticht wiederum hervor, dass Arbeiter:innen (52 Prozent) häufiger mit einer Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen haben als Angestellte und öffentlich Bedienstete (52 Prozent im Vergleich zu 41 Prozent). Wenn sich dies mit den meist körperlich fordernden Tätigkeiten summiert, beginnt oft eine Negativspirale aus wiederkehrenden Krankenständen bis hin zur Invalidität.

Veränderte Arbeitsbedingungen bringen Druck und weniger echte Freizeit

Praktisch geschlossen (93 Prozent) berichten die Arbeitnehmer:innen, dass während der Pandemie der Druck in der Arbeit zugenommen hat – immer mehr ist in derselben oder sogar in weniger Zeit zu erledigen. Die Sorge, sich bei der Arbeit mit Covid-19 anzustecken, war ebenso weit verbreitet. Belastet hat das Infektionsrisiko dabei Frauen doppelt so häufig wie Männer (21 Prozent im Vergleich zu 12 Prozent). Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass Dienstleistungsberufe mit häufig engem Kontakt zu anderen Menschen nach wie vor überwiegend von Arbeitnehmerinnen ausgeführt werden.

In administrativen Berufen hat sich wiederum Homeoffice etabliert und die Arbeitswelt verändert. Auf der einen Seite wird es als Schutzmaßnahme gegen Ansteckung und als Möglichkeit zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben bzw. Betreuungspflichten geschätzt. Homeoffice hat jedoch auch dem Verschwimmen von Arbeit und Freizeit Vorschub geleistet: Entgrenzung betrifft inzwischen 88 Prozent der Arbeitnehmer:innen, und auch das Arbeiten zu Randzeiten ist mehr die Norm als die Ausnahme (77 Prozent berichten davon). Jeweils jede:n dritte:n Arbeitnehmer:in belasten diese Entwicklungen.

Vor allem Mütter im Hamsterrad

Mehr als die Hälfte der Eltern unter den Arbeitnehmer:innen (54 Prozent) war durch das zeitgleiche Arbeiten und Betreuen der Kinder während der (Teil-)Lockdowns stark belastet. Zum Zeitpunkt der Befragung berichteten vor allem Arbeiter:innen von Unterstützungsbedarf bei der Kinderbetreuung (36 Prozent).

Die nach wie vor geschlechterspezifisch verteilte Sorgearbeit hatte wiederum zur Folge, dass es Müttern häufiger psychisch schlechter ging als Vätern (51 Prozent im Vergleich zu 40 Prozent). Das Homeschooling hat rund 37 Prozent der Mütter und mit 24 Prozent deutlich weniger Väter stark belastet. Die Betreuung von Kindern zu Hause führte bei 23,4 Prozent der Mütter sowie bei 10,9 Prozent der Väter zu hoher Belastung. Im März 2022 berichteten drei Viertel der Frauen (74 Prozent) von Erschöpfung. Eine Befragungsteilnehmerin bringt es auf den Punkt: „Es wäre wichtig, dass die Kinder in den Schulen unterrichtet werden.“

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Leist- und erreichbare psychosoziale Unterstützung ist rar

Jeweils rund ein Fünftel der Menschen in Oberösterreich hatte im März 2022 Unterstützungsbedarf in finanziellen Belangen sowie in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit. Auch 158.000 Arbeitnehmer:innen benötigten Unterstützung für ihre psychische Gesundheit.

Doch nur rund ein Drittel der Oberösterreicher:innen mit Hilfsbedarf konnte auch tatsächlich Unterstützung in Anspruch nehmen. Zentrale Gründe hierfür sind fehlende Information über bestehende Angebote und zu hohe Kosten: Für rund 72.500 Oberösterreicher:innen waren die vorhandenen Angebote schlicht nicht leistbar. Ein weiterer beträchtlicher Teil der Menschen mit Unterstützungsbedarf hat sich geschämt, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem fehlen regionale Angebote: Nur 39 Prozent der Oberösterreicher:innen berichteten, dass sie kassenfinanzierte Therapieplätze einigermaßen gut erreichen können, für 34 Prozent gilt selbiges in Bezug auf psychosoziale Beratungsstellen. Die Versorgungslage ist dabei am Land noch einmal deutlich schlechter als in städtischen Regionen.

Sozialstaat ist Garant für ein gesundes, gutes Leben für alle

Die Studie zeigt klar auf, dass psychische Gesundheit derzeit eine Frage des Geldes ist. Zum einen sind jene weniger betroffen, die mehr besitzen. Zum anderen reichen die kassenfinanzierten Therapieplätze bei Weitem nicht für alle, sodass eine private Therapie als einziger Ausweg wieder nur gut situierten Menschen offensteht. Diese Entwicklung läuft nicht nur dem Gedanken eines solidarischen Gesundheitssystems zuwider und bringt viel vermeidbares Leid mit sich, sie hat auch hohe volkswirtschaftliche Kosten (für Krankenstände, Invaliditätspensionen, Behandlungen) zur Folge.

Bund und Länder können diesem Zustand mit einem entschiedenen Ausbau sozialstaatlicher Strukturen für gesündere Lebensbedingungen entgegentreten:

  • Ausbau des flächendeckenden Angebotes an Psychotherapie über die E-Card
  • Mehr präventive Sozialarbeit vor Ort (in Betrieben, Schulen, Vereinen)
  • Ausbildungsoffensive für Psychotherapeut:innen, Psycholog:innen und für die neuen Anforderungen besonders geschultes Personal im Sozialbereich
  • Eine zentrale Beratungs- und Vermittlungsstelle für psychosoziale Anliegen
  • Mehr vollzeittaugliche Kinderbildungs- und Betreuungsplätze, die zuverlässig offenbleiben
  • Streichen der familienfeindlichen Kindergarten-Nachmittagsgebühr in Oberösterreich
  • Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind armutsfest zu gestalten

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