Viele PolitikerInnen bekunden regelmäßig ihr Eintreten für die Anliegen der „kleinen Leute“ und der „Mittelschicht“. Dieses Vorgehen zur Stimmenmaximierung ist zwar weit verbreitet, wird aber insbesondere von rechtspopulistischen Parteien exzessiv betrieben. Hierbei bleibt letztlich oft im Dunkeln, welche konkreten sozioökonomischen Politiken jenseits der politischen Rhetorik in der politischen Praxis eigentlich tatsächlich verfolgt werden. Inwieweit gibt es eine Diskrepanz zwischen politischer Rhetorik einerseits und realpolitischer Praxis andererseits? Dieser Frage sind wir in unserer Studie am Beispiel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Alternative für Deutschland (AfD) nachgegangen.
Die sozioökonomischen Narrative der AfD: neoliberal oder interventionistisch-sozial?
Unsere Studie nimmt konkret in den Blick, welche grundlegenden sozioökonomischen Narrative und damit korrespondierenden wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen die politische Agenda und parlamentarische Praxis der deutschen AfD prägen. Diese Narrative und Vorstellungen finden wiederum ihren Ausdruck in den programmatischen Positionierungen der Partei als auch in den diskursiven Äußerungen und der politischen Praxis der AfD-MandatarInnen. Fokus der Studie war es in weiterer Folge zu untersuchen, in welchen Bereichen die Narrative und Vorstellungen der AfD ordo- und neoliberalen Vorstellungen entsprechen und in welchen Fällen Argumente einer interventionistisch-sozialen Sichtweise zugeordnet werden können. Unter interventionistisch-sozial fassen wir neben antizyklischer Konjunkturpolitik auch die Bereitstellung von sozialen Sicherungssystemen, öffentlichen Gütern sowie diverse Umverteilungsmechanismen in Form von progressiven Steuern, Transferleistungen oder der Festlegung von Höchst- und Mindestpreisen.
Zu diesem Zweck wurde eine computerunterstützte kritische Diskursanalyse von programmatischen Positionierungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgenommen. Hierfür haben wir in einem ersten Schritt alle programmatischen Dokumente der AfD-Bundespartei seit 2013 untersucht (u. a. Bundestagswahlprogramme, Parteiprogramme). Zweitens wurden sämtliche Anträge, Gesetzesentwürfe und Debattenbeiträge im Deutschen Bundestag mit Bezug zur Sozial- und Wirtschaftspolitik (konkret zu den Fachausschüssen Haushalt, Finanzen, Wirtschaft und Energie sowie Arbeit und Soziales) für die Zeitperiode 2017 bis 2020 analysiert. Und zuletzt wurde für diesen Zeitraum auch das sozialpolitische Abstimmungsverhalten der AfD-Fraktion evaluiert.
Wirtschaftspolitik gemäß marktwirtschaftlicher und wettbewerblicher Prinzipien
Die Wirtschaftspolitik der AfD steht uneingeschränkt auf dem Boden marktwirtschaftlicher Regeln und Prinzipien. Ganz dem neoliberalen Narrativ folgend sollen den Marktmechanismen möglichst große Freiheiten eingeräumt werden. Staat und Politik fallen in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung nur relativ eng definierte Kernaufgaben zu:
- Erstens haben sie nach innen wettbewerbliche Rahmenbedingungen zu implementieren und nach außen die nationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts zu unterstützen. Diese Aufgabe schließt staatliche Eingriffe in den Marktprozess (etwa durch Subventionen, Vorschriften und Verbote, bestimmte Steuern etc.) dezidiert aus, da solche „planwirtschaftlichen Methoden“ den Wettbewerb konterkarieren und die nationale Wettbewerbsfähigkeit gefährden würden.
- Zweitens habe die Politik umfassende Maßnahmen zur Deregulierung und zum Abbau von Bürokratie zu verfolgen, um so die unternehmerischen Freiheiten zu stärken.
- Drittens bedarf es einer umfangreichen Steuerentlastung für die Bevölkerung und Unternehmen, was auch die wirtschaftliche Aktivität und Wachstum ankurbeln würde.
- Zugleich gelte es viertens, die staatlichen Ausgaben zur Konsolidierung des Staatshaushalts zu reduzieren. Akzeptabel sind staatliche Ausgaben hingegen in Form öffentlicher Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung oder in die Ausbildung von Fachkräften, da es sich hier um zukunftsgerichtete Investitionen handle, welche für den Erhalt des gesellschaftlichen Wohlstands unabdingbar sind.
Einzig im wirtschaftlichen Krisenfall weicht die AfD von ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen Prinzipien ab und akzeptiert auch interventionistische Wirtschaftspolitik. In einem solchen Szenario habe der Staat durch antizyklische Konjunkturpolitik entgegenzuwirken, wobei ausnahmsweise auch die Aufnahme von Schulden durch den Staat (Deficit-Spending) denkbar und legitim sei.
Im internationalen Kontext hingegen haben diese wirtschaftspolitischen Prinzipien so lange ihre Gültigkeit, solange der heimische Markt nicht Gefahr läuft, von ausländischen Unternehmen oder Produkten dominiert zu werden und somit die eigene Marktführungsrolle in Bedrängnis gerät. Ist Letzteres der Fall, so werden globale ausländische Konzerne als auch die Europäische Union an sich als Problem adressiert, vor dem die eigene Wirtschaft gegebenenfalls durch protektionistische Maßnahmen geschützt werden muss. Aus nationalistischem Kalkül werden wettbewerbliche Prinzipien nun einem intervenierenden Protektionismus, welcher gegen ausländische bzw. globale Einflüsse gerichtet ist, untergeordnet.
Sozialstaat und Sozialpolitik
In ihrer Selbstdarstellung zeichnet sich die AfD als Partei mit sozialem Charakter, welche für „die kleinen Leute“ und für die „Arbeiterklasse“ einstehe. Ein Blick auf die Positionen, die Aussagen und das Abstimmungsverhalten zu den Bereichen Sozialstaat und Sozialpolitik ist hier aufschlussreich. Vonseiten der AfD wird rhetorisch die Bedeutung des Sozialstaates immer wieder betont und von dessen Stärkung gesprochen. Die Realpolitik im Parlament hingegen zeichnet ein anderes Bild. Im Abstimmungsverhalten der AfD wird deutlich, dass für diese ein Ausbau oder zumindest weitgehender Erhalt des Sozialstaates kaum ein Anliegen darstellt und stattdessen vielmehr das Zurückdrängen dessen Praxis ist.