Ursprünglich sind Technische Normen (Standards) privat ausgehandelte Vereinbarungen zwischen Unternehmen. Sie sind grundsätzlich nicht rechtlich verbindlich. Faktisch geht heute ihre Geltung in manchen Bereichen aber weit über den geschäftlichen Verkehr zwischen Unternehmen hinaus. Sie werden zu privat gestaltetem Recht. Diese Entwicklung höhlt den Rechtsstaat aus. Arbeitnehmer:innen (und ihre Vertreter:innen) sollten an solchen Normen nicht mitarbeiten und stattdessen auf demokratische Gesetzgebungsverfahren drängen.
Technische Normen werden auch als Standards bezeichnet. Sie haben ihren Ursprung im 18. Jahrhundert, als man begann, sich auf einheitliche Maße und Gewichte zu einigen. Später kamen Dinge dazu wie die Größe von Schreibpapier (A4), der Durchmesser des Gewindes von Glühbirnen oder die Form eines USB-Steckers. Damit ermöglichen Normen verschiedenen Herstellern, Produkte zu erzeugen, die „zusammenpassen“.
Standards haben grundsätzlich keine rechtliche Verbindlichkeit. So steht es auch auf der Homepage von „Austrian Standards“, der Organisation, die in Österreich für Normung zuständig ist (und die früher „Österreichisches Normungsinstitut“ hieß). Diese Empfehlungen gelten im jeweiligen Fachgebiet als gute Praxis. Damit wirken Normen über den Kreis derer hinaus, die sich ursprünglich auf sie geeinigt haben. Ein Beispiel: Die Normengruppe ÖNORM EN ISO 14000 legt fest, wie ein Umweltmanagementsystem zu gestalten ist, wie also ein Unternehmen seine Umweltauswirkungen erfassen und systematisch verbessern kann. Viele Unternehmen fordern von ihren Lieferanten, dass diese ein Umweltmanagementsystem nach ISO 14000 eingerichtet haben. Damit sind auch die Zulieferer praktisch gezwungen, diese Norm einzuhalten, auch wenn sie möglicherweise ein besseres, aber von der Norm abweichendes System lieber verwenden würden.
Wirkungen auf Dritte
Noch problematischer wird es etwa bei Managementsystemen für den Schutz der Arbeitnehmer:innen (Normengruppe ÖNORM EN ISO 45000). Entscheidet sich ein Unternehmen, ein derartiges System einzuführen, so hat dies Auswirkungen auf die Arbeitnehmer:innen, auch wenn diese in der Erarbeitung der Norm nicht einbezogen waren. Ähnlich ist es, wenn bei der Normung bestimmter Dienstleistungen – etwa Fensterreinigung – auch die Ausbildungserfordernisse für die Arbeiter:innen festgelegt werden. Dies sind Beispiele für gesellschaftlich relevante Drittwirkungen. Da es sich grundsätzlich um Normen handelt, denen sich das Unternehmen freiwillig unterzieht, gibt es auch keine staatliche Aufsicht über derartige Regeln.
Grundsätzlich begrüßen Normungsorganisationen es, wenn viele Vertreter:innen von Betroffenen an der Erarbeitung einer Norm mitarbeiten. Denn je mehr dabei sind, desto breiter ist die Unterstützung für den Standard, der am Ende beschlossen wird. Vielfach werden auch Organisationen der Arbeitnehmer:innen zur Mitarbeit in Normungskomitees eingeladen. Doch so verlockend dies scheint, diese Mitarbeit ist sehr problematisch. Die größte Schwierigkeit liegt bei den Ressourcen. Typischerweise sitzt eine Vertreterin oder ein Vertreter der Arbeitnehmer:innen einer Gruppe von hoch spezialisierten Unternehmensvertreter:innen gegenüber. Dieses Ungleichgewicht bei Zahl und Spezialisierung führt zwangsläufig zu einer mangelnden Berücksichtigung von Interessen der Arbeitnehmer:innen. Das ist ein strukturelles Ungleichgewicht – es muss nicht einmal böse Absicht im Spiel sein, damit die Interessen der Arbeitnehmer:innen übergangen werden.
Normierung durch den Gesetzgeber
Stattdessen sollte bei allen Normen mit gesellschaftlicher Drittwirkung – also etwa mit Wirkungen auf Arbeitnehmer:innen –, der Weg über die ordentliche Gesetzgebung laufen. Denn diese ist dazu berufen, alle Interessen angemessen zu berücksichtigen.
Viele technische Normen werden heutzutage durch Gesetze oder Verordnungen für verbindlich erklärt. Beispiele sind die EN-Normen über die Zusammensetzung und die Eigenschaften von Benzin und Diesel, auf die in der Kraftstoffverordnung verwiesen wird, oder ÖNORMen über die Ermittlung von Aspekten der Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, auf die die diversen Bauordnungen verweisen.
Dabei ergeben sich zwei Probleme. Erstens „gehören“ die Normen den Normungsorganisationen, also privaten Vereinen, die mit der Veröffentlichung der Normen Geld verdienen wollen. Daher dürfen Normen, die etwa von der Europäischen Normungsorganisation CEN kommen, nicht im Gesetz veröffentlicht werden, mit dem sie für verbindlich erklärt werden. Damit erlangt aber eine Bestimmung Geltung, ohne dass jemand, der davon betroffen ist, sie im Bundesgesetzblatt nachlesen kann. Dies verletzt den Grundsatz der sogenannten Publizität des Rechts. (Für rein österreichische Normen löst das Normengesetz dieses Problem, indem es zur Veröffentlichung der gesetzlich für verbindlich erklärten Norm verpflichtet.)
Zweitens kann der Gesetzgeber die Norm im Grunde nur so übernehmen, wie sie von der Normungsorganisation beschlossen wurde – politischen Entscheidungsspielraum gibt es keinen.
Kritik an der Privatisierung der Rechtssetzung
Damit werden Normungsorganisationen indirekt zu Gesetzgebern – eine Form der „Privatisierung des Rechts“. Prof. Konrad Lachmayer kritisiert diese Entwicklung schon seit längerem (hier und hier im A&W-Blog sowie in einer Studie „Demokratierechtliche Analyse der privaten Rechtssetzung im Umweltrecht“ für die AK). Privatisierung der Rechtssetzung bedeutet, dass grundlegende Mechanismen der demokratischen Beteiligung ausgehebelt werden und die Interessen einiger weniger darüber entscheiden, welche Gesetze gelten.
Das wird im Zusammenhang mit technischen Vorschriften dann ein Problem, wenn diese technischen Vorschriften gesellschaftliche Auswirkungen haben. Beim Steigungswinkel eines metrischen Gewindes ist das eher nicht der Fall, sehr wohl aber bei den Bestimmungen zu manchen Managementsystemen oder bei der Normierung von Ausbildungserfordernissen.
Eine Einbindung der Arbeitnehmer:innen in die Erstellung einzelner technischer Normen ist aufgrund des oben beschriebenen strukturellen Ungleichgewichts nicht sinnvoll. Auf einer übergeordneten Ebene hingegen ist eine Mitarbeit von Arbeitnehmer:innen zweckmäßig. So sieht das österreichische Normengesetz, das den Rahmen für die Tätigkeit der Normungsorganisation vorgibt, in § 14 die Einrichtung eines Normungsbeirats vor, der übergeordnete Aufgaben hat (strategische Orientierung, Evaluierung, Koordinierung, …). Eine wichtige Frage, die dort verhandelt werden muss, ist, welche Regelungen grundsätzlich der Normung durch die Normungsorganisation entzogen sein sollen und stattdessen der demokratisch legitimierten Rechtssetzung vorbehalten sein sollen.
Die Bundesarbeitskammer stellt im Normungsbeirat eines der 26 Mitglieder. Vieles von dem zuvor Gesagten gilt auch für die Einbeziehung der Interessen der Konsument:innen; auch diese sind mit einer Organisation im Normungsbeirat vertreten. Wenngleich erst zu beurteilen sein wird, wie gut diese Bestimmung des relativ neuen Gesetzes funktioniert, es ist eine Entwicklung in die richtige Richtung.
Für die einzelnen technischen Normen lautet das Fazit: Je weiter die gesellschaftliche Drittwirkung von Normen geht, desto weniger eignen sie sich dazu, in privaten Organisationen wie den Normungsorganisationen erarbeitet zu werden. Stattdessen sollen derartige Bestimmungen der ordentlichen Gesetzgebung vorbehalten werden, um eine weitere „Privatisierung der Rechtssetzung“ zu verhindern. Die Ebene der ordentlichen Gesetzgebung ist diejenige, auf der die Interessen der Arbeitnehmer:innen und der Konsument:innen am verlässlichsten berücksichtigt werden.