Corona hat eine Verschärfung des Staatsproblems in die Welt gebracht. Was am Ende der globalen Pandemie-Krise kommt, ist ungewiss. Fest steht: Am schlechtesten haben bis jetzt jene Staaten abgeschnitten, die von eitlen, autoritären, rechten Politikern geführt werden. Jedenfalls ist die Corona-Krise ein Streit der Systeme. Der hier gekürzte Beitrag bildet den Auftakt für die „Falter“-Sonderbeilage „Corona und wir. Die Pandemie und der Sozialstaat“.
Krise als günstiger Moment?
Zuerst waren die Optimisten am Wort, die in jeder Krise nur die Chance sehen. Sie verkündeten eine Welle an Verbesserungen, die uns die Seuche bringen würde. Mehr Menschlichkeit, ein besseres Miteinander, Kooperation unter Einzelnen und Solidarität unter den Staaten war das Mindeste. Eine Neuerfindung des Kapitalismus im Geiste der Brüderlichkeit und eine Neudefinition der Moderne im Geiste der Solidarität, eine Trendwende in der Klimakrise und der unmittelbar bevorstehende Weltfrieden waren das Mindeste, was uns Zukunftsforscher wie Matthias Horx vorhersagten. Die Krise war ein Kairos, ein günstiger Moment, den es zu ergreifen galt. Das Ende des neoliberalen Paradigmas war das Mindeste. Wobei man nicht sicher sein konnte, ob alle darunter etwas auch nur annähernd Ähnliches verstanden. Jedenfalls sollte am Ende, je nach weltanschaulicher Präferenz der Kommentierenden, ein gestärkter, ein neu definierter oder ein im libertären Sinn weggestutzter Staat dastehen.
Wie in jeder Krise schien die Größe der Krise ein „Weitermachen wie bisher“ zu verbieten. Andererseits lehrte uns gerade die letzte Krise, die Finanzkrise von 2008, dass genau diese Verfahrensweise die einzig denkbare schien. Man redet von Veränderungen, es kann nun gar nicht mehr anders sein, als dass es anders wird, und dann kann man gar nicht anders, als weiterzumachen wie bisher.
Die Stunde des Sozialstaats
So auch bei Corona. Bald gab man es sehr viel billiger. Eine globale Seuche suchte die Welt heim, und es erschien der nationale Unterschied. Utopien schlugen um in Dystopien. Und das paradoxerweise, obwohl ganz offenbar die Stunde eines Staates gekommen war. Und zwar die des Sozialstaats. Selbst in einem Kleinstaat wie Österreich, wo man sich so sehr an seinen Sozialstaat gewöhnt hatte, dass das Gefühl abhandengekommen war, was man an ihm hatte, ließen sich dessen Vorteile nun nicht übersehen. Die vorhandenen Spitäler, an deren Abbau man sich gerade gemacht hatte, die Krankenkassen, die man gerade dabei war kaputtzusanieren, und die verbliebene Gesundheitsverwaltung, deren Verwahrlosung durch Schließung der Abteilung für öffentliche Gesundheit (ausgerechnet!) durch eine dilettantische türkis-blaue Regierung eingesetzt hatte, boten doch in ihrem vergleichsweise guten Zustand gegenüber weiter fortgeschrittenen Privatisierungen und Einsparungen anderswo deutliche Vorteile.
Selbst in reichen Regionen wie in Norditalien ließ sich besichtigen, wie ein privatisiertes Gesundheitssystem über seine Grenzen hinaus kam. In New York erweiterte man Ambulanzen und Intensivstationen von Spitälern in Parks mit hastig aufgestellten Zelten. In Österreich gelangten die Intensivstationen nie an den Rand der Auslastung, auch weil man im Lockdown als nicht lebensnotwendig betrachtete Operationen und ebensolche Vorsorgeuntersuchungen verschob. Aus heutiger Sicht schoss man dabei über das Ziel hinaus, aber im Nachhinein ist jeder klüger.
Große Unterschiede in den Reaktionen führender Politiker
Zwar war einer der starken rechten Männer, Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, unter jenen gewesen, die als Erste die Gefahr erkannt hatten. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz berief sich öffentlich mehrfach darauf, von ihm gewarnt worden zu sein. Österreichs frühe Reaktion auf die Corona-Pandemie verdankte sich demzufolge einem Hinweis Netanjahus (und, weniger gern erwähnt, dem inkompetent gemanagten Tiroler Pionier-Cluster Ischgl sowie der Nachbarschaft zum schnell infizierten Norditalien).
Der israelische Präsident ist ein Exemplar jener rechten, autoritären Staatenlenker, die derzeit auf der Welt am Ruder sind. Anders als viele seiner mächtigeren Kollegen spielte er die Gefahr nicht herunter.
Seine frühe Warnung bewahrte ihn jedoch nicht davor, dass Israel, anfangs bei der Eindämmung des Virus erfolgreich, als erstes Land einen zweiten Lockdown ausrufen musste. Vor allem, weil religiöse Fundamentalisten, jüdische wie arabische, die Abstandsregeln nicht beachteten. Auf archaische Weise wurde hier ein Konflikt sichtbar, der Corona weltweit kennzeichnet: das Irrationale gegen den Staat als Inkarnation der Rationalität.
Was ist das Virus für die Demokratie, für den demokratischen Staat?
Und zugleich das partielle Versagen dieses Staates. Corona ist für die Demokratie, um ein berühmtes Drohwort abzuwandeln, unsere Frage in viraler Gestalt: Nutzen wir die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, wie Georg Friedrich Hegel idealistischerweise den Staat definierte, zur Beförderung des Allgemeinwohls, in diesem Fall der Gesundheit, oder fassen wir diese Idee als Tyrannei über das entfesselte Individuum auf? Und sind „wir“, das heißt unsere Repräsentanten, der Frage gewachsen, Maßnahmen entschlossen genug zu setzen, dass sie wirken, aber nicht derart zu überziehen, dass sie unnötige Kollateralschäden anrichten? Mehr noch: Sind Staatenlenker imstande, insofern vernünftig zu agieren, als sie ihre eigenen Interessen hintanstellen und nicht die Chance nützen, die eine Krise den am meisten im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit Stehenden bietet? Führen sie ihre Bevölkerung auf die beste Weise, das heißt, ohne sie unnötig zu belügen, einzuschüchtern, zu überfordern und sie umgekehrt auch nicht mit Wahrheiten zu überfordern, die schädliche Effekte haben könnten?
Autoritäre Regime versus libertäre Freiheitsrechte
In Asien griff die chinesische Führung hart ein und nützte die Gelegenheit, dem Westen zu zeigen, was staatliche Autorität vermag, im Guten wie im Bösen. Zuerst leugnete sie gegenüber der WHO jegliche Kenntnis des Virus und verzögerte damit eine weltweit rasche richtige Einschätzung der Lage. Dann zog sie den Lockdown in Wuhan konsequent durch und statuierte damit ein Exempel, das weltweit verstanden werden wollte. China stellt den globalen Führungsanspruch und will in seiner Art der Seuchenbekämpfung mit den USA verglichen werden, die unter Führung Donald Trumps ein jämmerliches Gegenbeispiel abgaben. Corona als Werbung für den autoritär-sozialistischen Staatskapitalismus.
Umgekehrt können Freiheitsrechte im libertären Sinn in Rechte gegen das Gemeinwohl uminterpretiert werden. Corona bringt die Dinge auf den entscheidenden Punkt: Sind Pflichten, die „man“ (also wir in Gestalt der Regierung) uns auferlegt, hinreichend begründet, sodass sie als individuelle Einschränkung im Sinne des Ganzen akzeptiert werden? Oder besteht jenes libertäre Aufbegehren zu Recht, das jede Maskenpflicht als Beschränkung persönlicher Freiheit interpretiert?
Die Auseinandersetzungen darüber werden, digital befeuert durch Desinformation, immer aufgeregter geführt. Für das Krisenhafte dabei sorgt die Neuheit des Virus. Aufgrund dieser Neuheit fehlt wissenschaftliche Klarheit. Weil Klarheit fehlt, bleibt staatliches Lenken ein Fahren im Nebel. Gutwillige Staatenlenker können durch falsche Maßnahmen nicht nur ihre Regierung, sondern Staat und Demokratie diskreditieren. Weniger gutwillige nützen die Situation vor allem für sich aus: um ihre Autorität, ihr Ansehen, ihre Wählerbindung zu stärken, im schlimmsten Fall, um den demokratischen Staat zu unterminieren.
Krise als Wahlkampftaktik?
Der amerikanische Präsident sprach nur vom „Chinese virus“, ignorierte aber die wissenschaftlichen Ratschläge von Epidemiologen und verfolgte das Konzept, demokratisch regierte Bundesstaaten zu beschädigen. Diese sind meist urban, liberal und haben einen höheren Anteil an farbiger Bevölkerung. Als Trump erkannte, dass Corona tatsächlich gravierende Folgen hat, setzte er auf eine Verschärfung der Krise in diesen Staaten. Sie würde ihm, so das Kalkül, bei der Wiederwahl nützen.
Diese Vorgangsweise bezeichnete der Historiker Timothy Snyder wohl zu Recht als an Völkermord grenzend. Todesfälle in Kauf zu nehmen und erst umzudenken, wenn es gefährlich für „die eigenen Leute“ wird, grenzt an das Denken ethnischer Säuberer. Trump schwenkte erst um, als auch republikanisch geführte Staaten wir Florida und Georgia, die überwiegend Trump wählten, auf eine Weise von Corona betroffen waren, die sich nicht mehr wegwischen ließ.
Getreu dem Motto des Ökonomen Philip Mirowski, „Never let a good crisis go to waste“, versucht Trump, sein Versagen beim Corona-Krisenmanagement wechselweise mit der Hoffnung vergessen zu lassen, es werde noch vor der Präsidentschaftswahl im November einen Impfstoff geben, und mit Beschuldigungen, sein Versagen sei in Wahrheit ein Versagen des Auslands (China), internationaler Organisationen (der WHO), demokratischer Gouverneure und überhaupt der gegen Polizeigewalt rebellierenden Zivilbevölkerung.
Angriff auf die liberale Weltordnung
Trump, Bolsonaro, Modi „haben mit Ablenkungsmanövern, Kurswechseln und offenen Lügen ihre bevorzugten Narrative verbreitet, um ihre Beliebtheit zu verbessern. Diese Eigenschaften liegen den politischen Fehlern zugrunde, die in allen drei Ländern die pandemiebedingten Todesraten hochgetrieben haben. Zunächst einmal war die Verteilung der Verantwortung zwischen staatlichen, bundesstaatlichen und lokalen Regierungen unausgewogen, beliebig und unkoordiniert, während die Zentralregierungen – häufig unter Missachtung der Ratschläge von Wissenschaftlern oder Experten – irrationale und häufig wechselnde Regeln und Maßnahmen verhängten. Die Regierungen auf bundesstaatlicher und regionaler Ebene mussten dabei die gesamte Last tragen und nicht nur das Virus eindämmen, sondern auch für die öffentliche Gesundheit sorgen und sich um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie kümmern.“ So urteilt die indische Ökonomin Jayati Ghosh. Auch der neoliberal gestimmte Fukuyama kommt zu dem Schluss: „Die von ihnen [den genannten Autoritären] geführten Länder liegen bei den Infektionszahlen und -raten an der Spitze. Sie alle spielten die Gefahr herunter und versuchten, andere Staaten [für Corona] verantwortlich zu machen. Der Angriff auf die liberale Weltordnung“ werde solchermaßen durch die Pandemie beschleunigt.
Dass weder die USA noch Brasilien noch Indien ihre Ausgaben für die öffentlichen Gesundheitssysteme erhöhten, dass die teils enormen staatlichen Unterstützungen in diesen Ländern vor allem an Großkonzerne gingen, nicht aber an Klein- und Mittelbetriebe oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, passt zum Bild.
Überhandnehmen irrationaler Tendenzen
Ein neuer Irrationalismus steigt infolge der Pandemie. Bewaffnete Seuchenleugner gehen in den USA auf die Straße oder versuchen in Berlin, den Reichstag zu besetzen. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur, Fremdenfeindlichkeit und Migrationsskepsis nehmen durch Corona zu.
Denn die Pandemie verschärft den Migrationsdruck. Die Angst, sich zu infizieren, kann eine schwer erträgliche zur unerträglichen Lage machen. Das Gerücht von Infektionen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos war wohl mit ein Auslöser für die Brandstiftung dort. Ein Bild mit Symbolkraft: Ein Funke kann genügen, soziale Flächenbrände auszulösen.
Was Fukuyama den „schwarzen Schwan“ am Horizont von Corona nennt, ist die Gefahr des Faschismus, die hinter dem Versagen oder der Selbstabdankung demokratischer Staaten lauert. Das Überhandnehmen irrationaler Tendenzen, kombiniert mit krisenhafter Verzweiflung, digitalisierter Desinformation und kommunikativer Verunsicherung, der Entmächtigung staatlicher Organisation oder deren Privatisierung, etwa von Militär und Polizei in den USA, lassen diese bereits in den 1930er- und 40er-Jahren dort existierende Möglichkeit nicht mehr ganz absurd erscheinen. Der Welthegemon als faschistisch geführtes Land wäre für Demokratien und Rechtsstaaten im Angesicht einer von innen nationalistisch unterminierten EU eine Katastrophe der dritten Art.
Globale Werbung für den Sozialstaat
Es gibt naturgemäß auch die andere, positive Seite der Krise. Eine Reihe demokratischer Staaten von Taiwan bis Deutschland kam bisher vorbildlich mit der Pandemie zurecht. Zu ihnen gehört wohl auch Österreich. Die hiesigen Besonderheiten, das Überziehen des Autoritativen, nennen wir es einmal so, lassen wir hier außen vor. Der legistische Dilettantismus und die zutage tretende Verwahrlosung des Gesundheitsministeriums sind zweifellos den hilflos libertären Ansätzen von Schwarz-Blau geschuldet, ändern aber nichts am Gesamtbefund: Auch bei uns erwies sich der Sozialstaat als Segen.
Dennoch war das öffentliche Agieren der Schweiz in der Pandemie eines demokratischen Staates würdiger als jenes Österreichs. Kein Politiker versuchte dort wie unser Bundeskanzler, autoritären Distinktionsgewinn aus der Seuche zu ziehen, niemand versteckte sich hinter intransparentem Geschwurbel, die Taskforce agierte ab Sekunde eins klar und öffentlich überprüfbar. Auch in Deutschland bot die Regierung, angeführt von einer sich ostentativ zurückhaltenden Bundeskanzlerin Merkel, ebenfalls ein ganz anderes Bild als Österreich. Österreich neigte zweifellos einerseits zu überschießenden Maßnahmen (Schulen, schikanöse Strafen gegen BürgerInnen in Parks), schonte aber zugleich die der Regierung näherstehenden Stakeholdergruppen wie Gastronomie und Tourismus auf nicht zukömmliche Weise. Wie von Virologen befürchtet, steigen deshalb die Zahlen wieder.
Ziehen wir Fukuyamas Einschätzung von in der Pandemie erfolgreichen Staaten heran, schneidet Österreich gut ab, bis auf die letzten beiden Punkte: „Erfolgreiche Regierungen reagierten früh und wachsam, mit weit verbreiteten Tests und Kontaktverfolgung, sie kommunizierten mit ihrer Öffentlichkeit auf transparente, koordinierte Weise und stellten dabei Angehörige von Gesundheitsberufen in den Vordergrund.“
Corona war jedenfalls, und das ist das Positive, eine einzige globale Werbung für den Sozialstaat. So man imstande und willens wäre, diese Botschaft auch zu verstehen oder überhaupt nur zu hören.
Dieser Beitrag erschien in einer ähnlichen und ausführlicheren Form im Sonderheft „Corona und wir. Die Pandemie und der Sozialstaat“ als Beilage der Wochenzeitung „Falter“. Die Beilage ist Teil der Reihe „Ökonomie – eine kritische Handreichung“.