Ein Missverständnis in Akten: Technologie­klarheit und -offenheit in Zeiten der wirtschaftlichen Transformation

27. September 2024

Blättert man durch die Berichterstattung, schlägt einem eine emotional geführte Debatte um die Technologien der Zukunft entgegen. Man begegnet zwei scheinbar unversöhnlichen Konzepten: Technologieoffenheit und Technologieklarheit. Während die einen keine spezifische Technologie bevorzugt sehen wollen, möchten die anderen klare Vorgaben und Technologiefestlegungen. Ein Versöhnungsversuch.

Der erste Akt: Spielaufstellung und Definitionen

Vebrenner-Aus oder doch eher E-Fuels für alle? Laborfleisch oder „echtes“ Rind? Das und vieles mehr sind technologische Detailfragen, die aktuell in der Politik und an den Stammtischen Deutschlands und Österreichs heftig diskutiert werden. Dabei kommt es zu Vermischungen, Uminterpretationen und einer eigenartigen Mischung aus Technikoptimismus und Technologieblindheit. Höchste Zeit für eine Einordnung!

Der oft bemühte Begriff der Technologieoffenheit bedeutet, dass die öffentliche Hand tunlichst keine Technologieentscheidung trifft. Sie soll keine bestimmten Technologien bevorzugen oder diskriminieren. Stattdessen soll sich die Gesetzgeberin darauf beschränken, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovation fördern und „dem Markt“ die Technologieentscheidung überlassen. Die erfolgreichste und effizienteste Technologie wird sich von selbst im Marktprozess durchsetzen. Wie? – Indem man den Unternehmen die Freiheit lässt, die verschiedensten Lösungen zu entwickeln, und diese in Wettbewerb zueinander setzt. Darwin wäre entzückt! Ein gelebtes „Survival of the Fittest“.

Technologieklarheit wiederum steht unter dem gegenteiligen Vorzeichen. Sie verfolgt das Ziel, durch gezielte Vorgaben bestimmte Technologien rascher voranzutreiben. Natürlich jene Technologien, die besonders zukunftsträchtig oder notwendig für die digitale und grüne Transformation erachtet werden. Damit soll die Technologieentwicklung auf gesellschaftliche Ziele strategisch ausgerichtet werden, indem priorisiert wird.

Ein aktuelles Beispiel ist jenes des oben genannten „Verbrenner-Aus“. Befürworter:innen der Technologieoffenheit machen sich dafür stark, dass im Wandel der Mobilität keine Technologie bevorzugt wird. Es sollen verschiedene Antriebsarten nebeneinanderstehen, wie Biokraftstoffe, E-Fuels, batterieelektrisch und Wasserstoff. Der Markt wird zeigen, welche der Lösungen sich durchsetzt. Verfechter:innen der Technologieklarheit argumentieren, dass Infrastrukturen für alle Varianten entwickelt und aufgebaut werden müssten, das verursacht enorme Kosten, eine hohe Unsicherheit bei Haushalten und Unternehmen und damit einen zu langsamen Wandel, um die gesellschaftlichen Ziele, wie zum Beispiel jenes der Klimaneutralität, rechtzeitig zu erreichen.

Der zweite Akt: Die richtige Balance der Vor- und Nachteile finden

Nichts in der Welt ist ohne Widersprüche. So ist dies auch bei den Konzepten der Technologieoffenheit und -klarheit der Fall. Beide Konzepte haben Vor- wie auch Nachteile, welche wirtschaftspolitisch und je nach Zielsetzung gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Tabelle zeigt dazu eine schematische Übersicht der Vor- und Nachteile.


Technologieoffenheit
Technologieklarheit
Vorteile

• Förderung von Innovation durch die Möglichkeit, verschiedene Lösungsansätze parallel zu entwickeln. Unerwartete Durchbrüche und Kombinationen können entstehen.

• Förderung von Effizienz und Anpassungsfähigkeit durch wettbewerbliche Durchsetzung der „besten“ Technologie.

Gezielte Förderung durch klare Prioritäten kann dazu beitragen, Ressourcen effizienter einzusetzen und Technologien schneller zu entwickeln, welche als entscheidend für das Erreichen gesellschaftlicher Ziele gelten.

• Strategiefähigkeit und Planungssicherheit wird gestärkt, wenn Unternehmen, Haushalte und Investor:innen auf Entwicklungspfade vertrauen und ihre Strategien darauf ausrichten können.

Nachteile

• Langsamere Durchsetzung: Da keine Technologie klar bevorzugt oder gezielt gefördert wird, können Veränderungsprozesse deutlich länger dauern, bis sich eine Technologie schlussendlich durchsetzt. Dies ist insbesondere bei drängenden gesellschaftlichen Problemen eine Herausforderung.

• Höhere Unsicherheit durch eine fehlende klare Entwicklungsrichtung, die Planungssicherheit und Erwartbarkeit gibt, und daraus entstehende Verzögerungen bei notwendigen Investitionen.

• Höheres Risiko von Fehlinvestitionen, wenn die öffentliche Hand auf das „falsche Pferd“ setzt. Damit gehen oft auch erhebliche Ressourcen verloren.

• Beschränkung von Innovation auf einen bestimmten Fokus. Lösungen, welche auch besser oder effektiver sein können, fallen dabei aus dem Sicht- und damit potenziellen Lösungsraum heraus.  

An der Gegenüberstellung wird bereits deutlich, dass es sich bei Technologieoffenheit und -klarheit nicht um ein lupenreines Entweder-oder handelt. Im Gegenteil kann es sinnvoll sein, beide Ansätze zu kombinieren. Die große wirtschaftspolitische Kunst ist es, die richtige Balance zwischen Klarheit und Flexibilität, zwischen Unsicherheit und Planbarkeit zu finden. Die Ausgestaltung dieser Balance hängt von den spezifischen Zielen, die man als Gesellschaft verfolgt, und den Herausforderungen ab, die man lösen möchte. Eine allgemeingültige Blaupause gibt es dazu leider nicht.

Der dritte Akt: Versuche der Kombination von Offenheit und Klarheit

So unterschiedlich wie Technologien sind, vom Rasenmäher bis zum Smartphone, so unterschiedlich sind auch ihre Entwicklungsstufen. Diese reichen von der ersten Beobachtung grundlegender Zusammenhänge bis zum breiten Einsatz der Technologie in der Gesellschaft. Damit wird klar, warum man die Frage der Technologieentwicklung nicht über einen Kamm scheren kann. Die unterschiedlichen Stufen der Technologieentwicklung geben uns in diesem Fall ein Instrument an die Hand, mit dem wir versuchen können, eine Balance zwischen Offenheit und Klarheit zu finden.

Das Konzept, welches wir in der technologie- und innovationspolitischen Analyse heranziehen können, ist jenes der Technology Readiness Levels (TRL oder auch Stufen der Technologieverfügbarkeit). Es erlaubt die Analyse der Reife einer Technologie. Anhand der aufeinanderfolgenden Stufen von 1. Grundlagenforschung bis 9. Einsatz und Marktreife können wir den wirtschaftspolitischen Rahmen so gestalten, dass er die Technologieentwicklung auf gesellschaftliche Ziele ausrichtet und gleichzeitig genügend Offenheit für neue Entdeckungen und Technologien lässt. Die Grafik zeigt einen Überblick über die einzelnen Stufen der Technologieverfügbarkeit.


© A&W Blog


Am Beginn der Entwicklung neuer Technologien befinden sich diese im Forschungs- und Experimentierstadium (Stufe 1 bis Stufe 5/6) In dieser Phase ist es noch unklar, ob technologische Ansätze funktionieren können, welche am effizientesten sind oder welche sich durchsetzen werden. In diesen Stadien ist es wichtig, ein breites Spektrum an Forschung und Experimenten in alle möglichen Richtungen und Vielfalt zu fördern. Dadurch reduziert sich auch das Risiko, zu früh auf bestimmte Technologien zu setzen, und es wird ermöglicht, verschiedene Technologien parallel zu entwickeln und diese zu vergleichen, bevor große Investitionen und Bemühungen getätigt werden. Diese Stufen sind der Anwendungsbereich für Experimentierfreude, wissenschaftliche Neugier und Technologieoffenheit; beispielsweise die Forschungen zur Kernfusion.

Reift die Technologie immer weiter heran, zum Beispiel ab dem Zeitpunkt, ab dem eine Technologie in einer relevanten Umgebung erfolgreich validiert wird (Stufe 6), zeichnet sich bereits deutlicher ab, welche Technologien das Potenzial haben, erfolgreich zu sein. Ab diesem Zeitpunkt kann es technologie- und innovationspolitisch sinnvoll sein, von einem technologieoffenen Zugang zur Technologieklarheit überzugehen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn es um gesellschaftlich dringliche Ziele, wie z. B. jenes der Dekarbonisierung der Wirtschaft und Gesellschaft, geht. Denn klare Richtlinien und Präferenzen für bestimmte Technologien helfen, diese schneller zur Marktreife und zur Marktdurchdringung zu führen. Als Beispiel dafür kann man die Elektro-Pkws ansehen, welche bereits marktreif und voll funktionsfähig, auf eine umfassende Ladeinfrastruktur angewiesen und die derzeit effizienteste Technologie in diesem Anwendungsbereich sind. Der Vorteil von Technologieklarheit auf diesen Entwicklungsstufen liegt damit klar auf der Hand: eine effizientere Ressourcennutzung und Beschleunigung der Umsetzung von Schlüsseltechnologien.

Bedingungen für den Übergang von einem technologieoffenen zu einem technologieklaren Zugang sind demnach jedenfalls:

  • die Dringlichkeit gesellschaftlicher Ziele, wenn eine frühzeitige Festlegung einen schnelleren Aufbau von Technologien und Planbarkeit gewährleistet,
  • die Marktreife und Ausbaupotenziale: Wenn Technologien ausreichend reif sind und Vorteile gegenüber Alternativen bieten, kann die Fokussierung auf diese Technologien eine schnellere Marktdurchdringung erreichen,
  • eine höhere Kosten- und Ressourceneffizienz in höheren Entwicklungsstufen durch Bündelung der Ressourcen anstelle einer weiterhin unbestimmten Förderung einer Vielzahl von Ansätzen und die potenzielle Errichtung von parallelen Infrastrukturen, welche für die Technologie benötigt werden.

Der Vorhang fällt: Fazit

Die politischen Debatten, die wir täglich den Zeitungen und Fernsehberichten entnehmen, sind emotional aufgeladen, stark verkürzt und im Kontext der Technologiepolitik nicht zielführend. Während die Politik ideologisch polarisiert darüber streitet, ob Technologieoffenheit ein hohes Gut der Freiheit oder ob Technologieklarheit der Weg in die Planwirtschaft ist, ist die Realität komplexer.

In frühen Phasen der Technologieentwicklung ist Technologieoffenheit sinnvoll, um eine Vielzahl an Lösungsmöglichkeiten zu erforschen. Später im Entwicklungsprozess gewinnt Technologieklarheit an Bedeutung. Ab einem gewissen Punkt in der Technologieentwicklung ist es sinnvoll, gezielt Ressourcen zu kanalisieren und die Marktdurchdringung zu beschleunigen, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Es braucht daher industrie- wie technologiepolitisch weniger Debatten um E-Fuels und batteriebetriebene E-Autos und mehr um eine flexible und zielorientierte Gestaltung des forschungs- und technologiepolitischen Rahmens. Einen Rahmen, welcher einen gesellschaftlichen Diskurs über Technologien und deren gesellschaftliche Bedeutung zulässt und gleichzeitig Raum für Experimente schafft und Klarheit dort gibt, wo sie dringend benötigt wird. Eine notwendige, aber für Politik und Medien offenbar zu langweilige Diskussion.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung