Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen nie dagewesene Inflationsraten auf. In Deutschland hat sie mit 11 Prozent das zweistellige Niveau erreicht, Österreich liegt ebenfalls bei über 10 Prozent. Die EU-Bürger:innen sind mit einer Preisexplosion nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen wie beispielsweise bei Lebensmitteln konfrontiert. Gleichzeitig verzeichnen Unternehmen in bestimmten Sektoren satte Übergewinne. Da die Marktmechanismen in einer solchen Konstellation nicht mehr funktionieren, ist es die Aufgabe des Staates, ordnungspolitisch einzugreifen.
Wenn Unternehmen mehr verdienen als Gott
ExxonMobil, ein amerikanischer Energiekonzern, wird dieses Jahr voraussichtlich 43 Milliarden Dollar Gewinn einfahren und diesen somit im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln. Dasselbe gilt für den Ölkonzern BP (British Petrol), der seinen Gewinn aus dem ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum letzten Jahr mit 9,1 Milliarden Dollar verdreifacht hat. Ebenso steigerte der deutsche Energiekonzern RWE im ersten Halbjahr 2022 seinen Gewinn um mehr als ein Drittel auf 2,8 Milliarden Euro. Auch das österreichische Unternehmen OMV verzeichnete im ersten Halbjahr 2022 eine Gewinnsteigerung um 124 Prozent.
Joe Biden kommentiert den Profit von ExxonMobil und sämtlichen anderen Profiteuren der Krise mit den Worten: „Wir werden dafür sorgen, dass jeder die Gewinne von Exxon kennt. ExxonMobil hat letztes Jahr mehr Geld verdient als Gott.“ Darin schwingt der Vorwurf mit, dass der Profit von ExxonMobil nicht mit einer gesteigerten Leistung zusammenhängt, die das Unternehmen z. B. durch Investitionen und technologischen Fortschritt erarbeitet hat. Im Gegenteil, es verdichtet sich die Überzeugung, dass Unternehmen in strategischen Oligopol- und Monopolsektoren die Abhängigkeit der Verbraucher:innen in der Krise ausnutzen und unangemessene Preise für Produkte verlangen, für die es keine Alternativen gibt. Eine solche Konstellation wird in den USA als „Greedflation“, zu Deutsch „Gierflation“, bezeichnet. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte diesem Phänomen in ihrer Rede zur Lage der Union im September 2022 klar den Kampf an: „In diesen Zeiten ist es falsch, mit außerordentlichen Rekordgewinnen durch Ausnutzung des Krieges zum Schaden der Verbraucher:innen zu profitieren.“
Gier oder „Nachholinflation“?
Das Konzept der Gierflation stellt den traditionellen Blickwinkel auf den Markt infrage. Also jener Blickwinkel, der sich auf das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage konzentriert. Bei einer solchen Betrachtung ist in einer Marktwirtschaft die Gewinnmaximierung von Unternehmen eine logische Konsequenz und kann nicht als Gier bezeichnet werden. Gierflation stellt hingegen zum einen infrage, dass den hohen Verkaufspreisen tatsächlich höhere Produktionskosten gegenüberstehen. Des Weiteren wird die Marktstruktur unter die Lupe genommen. Während das Angebot-Nachfrage-Modell Inflation als Phänomen in einem natürlichen Wettbewerb ansieht, definiert das Konzept der Gierflation Inflation als ein Problem, das vor allem durch pure Raffgier der Konzerne und Kartelle angetrieben wird. Die Art und Weise, wie Gewinne erwirtschaftet werden, entspricht demnach nicht einer Leistungssteigerung der Unternehmen, angespornt durch Wettbewerb, sondern wird durch die Monopolstellung dieser Unternehmen ermöglicht. Preise können in einem solchen Markt mangels Alternativen willkürlich in die Höhe getrieben werden. Eine derartige monopolistische Marktstruktur ist ein Strukturproblem, bei dem selbst Verfechter der freien Marktwirtschaft an der Selbstregulierungskraft der Märkte zweifeln.
Die Preisgestaltungsmacht von Unternehmen in wichtigen monopolisierten Märkten ist demnach so groß, dass damit die Inflation beschleunigt wird. Die gleichzeitig anfallenden Zufallsgewinne dieser Unternehmen führen beinahe zwangsläufig zu einer sozialen Krise, wenn die Inflation nicht durch höhere Löhne abgefedert wird. Denn seit 2020 befindet sich das Lohn-Preis-Verhältnis in einer Abwärtsspirale. So sind beispielsweise in den USA die Preiserhöhungen zwischen 1979 und 2019 zu 61,8 Prozent, aber seit 2020 nur noch zu 7,9 Prozent auf Lohnsteigerungen zurückzuführen (siehe Grafik).