Reichtum in Deutschland: Reno­vierung des Sozial­staates und Rekons­truktion des Steuer­systems notwendig!

12. August 2024

Seit mehrere sich teilweise überlappende und gegenseitig verstärkende Krisen, vor allem die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die Inflation, die Gesellschaft erschüttern, dringt die Armut stärker in deren Mitte vor. Zugleich wächst der Reichtum, genauer: das Privatvermögen einer kleinen Minderheit. Verursacht wird die soziale Polarisierung von zunehmendem Druck auf den Wohlfahrtsstaat einerseits sowie das Steuersystem andererseits. Nur durch deren Weiterentwicklung und solidarische Umgestaltung kann die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen werden.

Die Verteilungsschieflage in Deutschland

Nie war die Armutsbetroffenheit im vereinten Deutschland höher: 14,2 Millionen Menschen (16,8 Prozent der Bevölkerung) hatten im Jahr 2022 weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.186 Euro im Monat entsprach. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose mit 49,7 Prozent, Alleinerziehende mit 43,2 Prozent und Nichtdeutsche mit 35,3 Prozent auf. Kinder und Jugendliche waren mit 21,8 Prozent stärker betroffen denn je. Zudem nimmt das Armutsrisiko der Senior:innen seit geraumer Zeit am stärksten zu.

Die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Boehringer/von Baumbach, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) besitzen zusammen etwa 250 Milliarden Euro und damit mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d. h. weit über 40 Millionen Menschen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung haben gar kein nennenswertes Vermögen. In der wohlhabenden Bundesrepublik leben über 30 Millionen Menschen – streng genommen – von der Hand in den Mund, weil ihnen Rücklagen fehlen, die man spätestens in einer finanziellen Krisensituation braucht, und sind im Grunde nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.

Dass relative Einkommensarmut häufiger in absolute, extreme und existenzielle Armut (Wohnungs- und Obdachlosigkeit) umschlägt, während sich beinahe unvorstellbarer Reichtum in wenigen Händen konzentriert, ist einer unsozialen Regierungspolitik geschuldet, die den Steuer- und den Sozialstaat über Jahrzehnte hinweg in einen Schraubstock zwingt. Einerseits wurden alle Besitz-, Kapital- und Gewinnsteuern entweder beseitigt oder die entsprechenden Steuersätze massiv gesenkt, andererseits die Unterstützungsleistungen für Bedürftige gestrichen oder drastisch beschnitten. Will man die Ungleichheit verringern und zugleich verhindern, dass sich die Gesellschaft noch tiefer als bisher spaltet, muss der Wohlfahrtsstaat um- bzw. ausgebaut, die Steuergerechtigkeit erhöht und der Reichtum stärker besteuert werden.

Renovierung des Sozialstaates

Geschaffen werden muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Wohnbürger:innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht. Vor allem ist ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung für alle Bewohner:innen nötig.

Verschwinden muss der Widerspruch, dass sich in Deutschland fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 7.550 Euro in West- und 7.450 Euro in Ostdeutschland (2024). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) keine Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer:innen- würde eine solidarische Bürger:innenversicherung treten. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu entrichten. Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen.

Man kann die Beitragsbemessungs- und die Versicherungspflichtgrenze jährlich stärker als bisher an- und schließlich aufheben. Denn in der bisherigen Form wirken die Beiträge regressiv, was gegen das Postulat der sozialen Gerechtigkeit verstößt und widersinnig ist, weil das schlagendste Argument für die Bürger:innenversicherung ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich bildet.

Rekonstruktion des Steuersystems

Weil das Vermögen den Kern des Reichtums bildet, ist seine jährliche Besteuerung ein Schlüssel zur Verringerung der sozialen Ungleichheit. Ansetzen muss die Rückverteilung des Reichtums an jene Menschen, die ihn geschaffen haben, bei den großen Vermögen, weil diese und nicht – wie in der Medienöffentlichkeit teilweise suggeriert – sehr hohe Einkommen für ihn konstitutiv sind.

Kaum etwas widerspricht dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden so stark wie die schärfere Besteuerung von Arbeitseinkommen als von Kapitalerträgen. Letztere unterliegen seit dem 1. Januar 2009 einer pauschalen Abgeltungsteuer von 25 Prozent, wohingegen Gehälter ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 66.760 Euro (2024) mit dem Spitzensatz von 42 Prozent belegt sind. Deshalb gehört die Abschaffung der Kapitalertragsteuer und ihre Reintegration in die normale Einkommensteuer ganz oben auf die steuerpolitische Agenda.

Flankiert werden müssten diese Reformpläne durch einen progressiver verlaufenden Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz. Millioneneinkommen sollten deutlich höher besteuert werden als „normale“ oder als hohe Einkommen, die zwar den Lebensunterhalt (einer Familie) sichern, aber keinen Luxus ermöglichen. Wer ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von über 1 Million Euro hat, kann für diese Summe übersteigende Beträge problemlos 60 Prozent Steuern zahlen.

Das geltende Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht begünstigt hyperreiche Unternehmerfamilien, denen die Privilegierung des Betriebsvermögens und die wiederholte Inanspruchnahme des Schenkungsteuerfreibetrages die intergenerationale Weitergabe von Unternehmen erleichtern. Begründet wird die Begünstigung von Firmenerb:innen damit, dass wegen deren Steuerbelastung die Insolvenz von Betrieben und der Verlust von Arbeitsplätzen drohe. Um einen solchen Fall auszuschließen, kann man den Freibetrag für inhabergeführte Familienunternehmen anheben. Außerdem würden die Nachteile eines plötzlichen Kapitalabzugs durch großzügigere Stundungsregelungen oder eine stille Teilhaberschaft des Staates an dem betreffenden Unternehmen bis zur Begleichung der Steuerschuld vermieden.

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