Trotz eines gut funktionierenden Gesundheitssystems gibt es erheblichen Optimierungsbedarf. Durch niederschwellige, integrierte und interdisziplinäre Therapiemaßnahmen können höhere Versorgungs- und Lebensqualität der PatientInnen bewirkt und teure Begleit- und Folgekosten vermieden werden.
Definition – Typen – Unterschiede
Um die strukturellen und strategischen Herausforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens bei der Versorgung von chronisch kranken PatientInnen, wie DiabetikerInnen, zu erkennen, muss zunächst auf die Komplexität dieser Krankheit eingegangen werden.
Diabetes mellitus ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, die durch Störung des Zuckerstoffwechsels zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels führt. Der dauerhaft hohe Blutzuckerspiegel schädigt mit der Zeit die Organe und Gefäße. Bleibt die Krankheit unbemerkt oder wird sie unzureichend behandelt, besteht das Risiko schwerer und lebensbedrohlicher Komplikationen und Folgeerkrankungen, wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, Erblindung oder Amputationen der unteren Gliedmaßen.
Die Klassifikation des Diabetes erfolgt in vier Typen:
- Bei Typ-1-Diabetes liegt ein absoluter Insulinmangel vor. Diese Form beginnt meistens vor dem 40. Lebensjahr. Oft besteht bei dieser Variante eine erbliche Vorbelastung. Circa 5 bis 7 Prozent der an Diabetes erkrankten Menschen sind von Typ 1 betroffen.
- Der Typ-2-Diabetes wird hingegen durch eine Kombination von Insulinresistenz und durch einen relativen Insulinmangel verursacht und tritt im fortgeschrittenen Lebensalter auf. Die Krankheit tritt häufig bei Personen mit Übergewicht auf, in der letzten Zeit ist jedoch eine Zunahme der Erkrankung bei jüngeren Menschen und Kindern festzustellen. Beim Typ 2 kann – im Unterschied zu Typ 1 – eine Reihe von Vorsorgemaßnahmen getroffen werden. Durch Früherkennung, durch geeignete Therapien und Kontrollen wären die massiven Folgeerkrankungen in vielen Fällen vermeidbar. Circa 90 Prozent der Betroffenen leiden an Typ-2-Diabetes.
- Mit dem Begriff Typ 3 werden verschiedene seltene Diabetesformen zusammengefasst. Diese können durch Hormon- oder Autoimmunerkrankungen, durch Viren oder Medikamente ausgelöst werden.
- Als Typ 4 wird der Schwangerschaftsdiabetes – oder Gestationsdiabetes – genannt. Diese Variante ist gekennzeichnet durch einen hohen Blutzuckerspiegel während der Schwangerschaft und gründet auf einer Glukostoleranzstörung. Jede zehnte Schwangere ist von Schwangerschaftsdiabetes betroffen.
Zahlen und Fakten in Österreich
Die Erstellung genauer Statistiken und Zahlen zur Diabetesprävalenz kann mangels eines nationalen Diabetes-Registers nur auf Basis einzelner Datenbestände und Schätzungen ermittelt werden.
Nach Schätzungen leben derzeit bis zu 800.000 Menschen in Österreich mit Diabetes. Zumindest ein Drittel der Betroffenen weiß nichts von seiner Erkrankung und/oder deren schwerwiegenden Folge- und Begleiterkrankungen. Jährlich werden um die 300 PatientInnen wegen Nierenversagens dialysepflichtig, und rund 200 Menschen erblinden an den Folgen von Diabetes. Das diabetische Fußsyndrom – oder diabetische Polyneuropathie – und seine unzureichende Versorgung ist Auslöser für bis zu 3.000 Amputationen pro Jahr. Durch die Amputationen ist das diabetische Fußsyndrom nicht nur eine der teuersten Folgeerkrankungen, es beeinträchtigt auch die Lebensqualität der Betroffenen in einem erschreckend hohen Ausmaß.
Diabetes ist aber auch ein Kostenfaktor für das öffentliche Gesundheitssystem. Die Gesamtkosten des Diabetes in Österreich betragen geschätzt bis zu 3 Mrd. Euro pro Jahr. Einige Schätzungen gehen sogar von einem viel höheren Wert aus. Die tatsächlichen Versorgungskosten pro DiabetikerIn sind allerdings sehr uneinheitlich und hängen vor allem von der Therapieform und von eventuellen Spätkomplikationen ab. Da die Anzahl der an Diabetes erkrankten Personen stetig steigt, lassen sich auf Basis der aktuelleren Zahlen und Trends bis 2030 Kosten von mehr als 8 Mrd. Euro prognostizieren.
Um diese explodierenden Kosten künftig zu vermeiden, muss in die Früherkennung sowie in begleitende und individualisierte Therapieformen investiert werden. Hierzu müssen aber wohnortnahe, niederschwellige, aber vor allem multidisziplinäre Strukturen geschaffen werden.
Diabetes als Maßstab für die Versorgungsqualität im Gesundheitssystem
Um mit chronischen Erkrankungen leben und somit stationäre Krankenhausaufenthalte vermeiden zu können, wird eine kontinuierliche Betreuung und Behandlung der PatientInnen durch berufsgruppenübergreifende Teams benötigt. Wie gut ein Gesundheitssystem das Management von chronischen Krankheiten beherrscht, zeigen daher die Krankenhausaufenthalte von erkrankten Personen.
Die Häufigkeit der Krankenhausaufnahmen aufgrund einer Diabeteskrankheit in Österreich ist im Vergleich zum OECD-Durchschnitt besonders hoch. Es besteht auch ein hoher Wert für Krankenhausaufenthalte von PatientInnen, welche sogar ohne Komplikationen aufgenommen werden. Die Gründe hierfür sind in der derzeitigen Versorgungsstruktur zu suchen und zu finden. Diese Erkrankung braucht Zeit und Zusammenarbeit. Die richtige Behandlung von Diabetes ist sehr komplex. Sie beginnt bei der optimalen Blutzuckereinstellung, bei Schulungen und Steigerung der Gesundheitskompetenz der Betroffenen, bei regelmäßigen Kontrollen, Screenings und professioneller Fußpflege, beim Handwerk von OrthopädieschuhtechnikerInnen und reicht bis zur feuchten Wundbehandlung durch SpezialistInnen.
Für eine integrierte Versorgung fehlen derzeit wohnortnahe Einrichtungen, wie Primärversorgungseinheiten, Gemeinschafts- oder Netzwerkpraxen, in denen PatientInnen umfassend vom Haus- und/oder Facharzt, von DiätologInnen, ErnährungsberaterInnen, BewegungstherapeutInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen etc. – im Form einer interdisziplinären Kooperation – kontinuierlich behandelt, betreut und unterstützt werden können. Internationale Beispiele von alternativen Versorgungsstrukturen (z. B. in Dänemark) zeigen, dass durch ein besseres Disease Management eine Reduktion der Zahl der Erkrankungen und auch eine Reduktion der Gesamtkosten für das öffentliche Gesundheitswesen bewirkt werden können.
Der österreichische Wert der Krankenhausaufenthalte lag 2017 mit 48 Aufnahmen je 1.000 DiabetikerInnen um 24 Punkte über dem OECD-Schnitt.