Studie über psychosoziale Situation in Oberösterreich belegt: Viele brauchen Unterstützung, finden aber keine

14. Juli 2022

Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Pandemie stehen epidemiologische Bestandsaufnahmen und ökonomische Analysen nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung. Bislang kaum Aufmerksamkeit erhielten demgegenüber die psychosozialen Folgen der Pandemie. Eine im März 2022 von SORA für die AK OÖ durchgeführte repräsentative Befragung unter 1.212 Oberösterreicher:innen ab 16 Jahren ändert dies und schlägt Alarm: Die vergangenen zwei Jahre haben massive Spuren an der psychosozialen Gesundheit der Menschen hinterlassen. Gleichzeitig finden viele Hilfesuchende keine erreich- und leistbare Unterstützung.

Bei rund 40 Prozent der Oberösterreicher:innen hat sich die psychosoziale Gesundheit infolge der Pandemie verschlechtert

Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit, ganze Branchen in Kurzarbeit oder Homeoffice, Erwerbsarbeit im Betrieb mit entsprechend hohem Ansteckungsrisiko sowie geschlossene Schulen, Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen – all das hat individuelle, gesellschaftliche und politische Selbstverständnisse erschüttert. Zwar haben wir uns inzwischen an manch veränderte Lebensrealität gewöhnt, die Monate im Ausnahmezustand wirken jedoch nach: Jeweils rund 40 Prozent der Oberösterreicher:innen berichten, dass sich infolge der Pandemie ihre psychische Gesundheit und ihre sozialen Beziehungen verschlechtert haben. Bei einem Drittel von ihnen hat sich außerdem die finanzielle Lage verschlechtert. Zudem zeigt sich deutlich, dass Arbeitnehmer:innen und junge Menschen in Ausbildung besonders betroffen sind.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Schlafstörungen, depressive Symptome und Erschöpfung am weitesten verbreitet

Offensichtlich ist, dass sich die psychische Gesundheit nicht automatisch mit der Pandemielage wieder bessert: Auch in den Wochen vor der Befragung – zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bereits aufgehoben – litten jeweils rund sechs von zehn Oberösterreicher:innen an zumindest einzelnen Tagen unter Schlafstörungen, Freudlosigkeit oder Erschöpfung. Rund jede:r Fünfte berichtete sogar von wiederkehrenden Gedanken, nicht mehr leben zu wollen.

Ökonomische Unsicherheit als insgesamt stärkster Risikofaktor

Von den psychosozialen und finanziellen Folgen der Pandemie sind die unteren Einkommensgruppen am stärksten betroffen. So berichten die Oberösterreicher:innen im unteren Einkommensdrittel mehr als doppelt so häufig eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit wie jene im oberen Einkommensdrittel (52 Prozent im Vergleich zu 22 Prozent). Durch die Pandemie ist außerdem die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgegangen: Bei der Mehrzahl (56 Prozent) der Menschen im unteren, jedoch bei nur 10 Prozent der Menschen im oberen ökonomischen Drittel hat sich die finanzielle Lage verschlechtert.

Besonders schwer trifft es jene, die derzeit ohne Job dastehen. Der AK-Arbeitsklimaindex 2021 hat zudem gezeigt, dass 65 Prozent der Arbeitslosen von einer mittleren bis sehr schweren depressiven Belastung berichten. Zugleich geben 27 Prozent der arbeitslosen Menschen an, mit ihrem Einkommen nicht auszukommen – ein Befund, der sich wohl mit Einsetzen der Teuerung noch verschlechtert haben dürfte. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es eine große Rolle spielt, ob der oder die Betroffene über die Ressourcen verfügt, es sich richten zu können. Wer sich Hilfe in allen Lebensbereichen von der Altenbetreuung bis zum Zukunftscoaching (zu)kaufen kann und keine Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen muss, ist weit weniger oft psychisch belastet und krank.

Massiver Einbruch der psychischen Gesundheit bei jungen Menschen in Ausbildung

Die Pandemie traf junge Menschen in einer Lebensphase voller Umbrüche: Berufsentscheidungen sind zu treffen, Ausbildungen werden begonnen und abgeschlossen, der Berufseinstieg ist zu bewältigen, der Auszug von zu Hause steht an und neue Freundschaften bzw. Beziehungen werden geknüpft. Dieses In-die-Welt-Gehen und das Finden des eigenen Platzes in der Gesellschaft hat die Pandemie unterbunden – mit entsprechenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit: Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der oberösterreichischen Schüler:innen, Lehrlinge und Studierenden ab 16 Jahren berichtet eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit infolge der Pandemie. Die massiven Spuren, welche die vergangenen zwei Jahre an den jungen Menschen in Ausbildung hinterlassen haben, zeigen sich auch in den Wochen vor der Befragung: Jeweils rund 90 Prozent von ihnen litten an zumindest einzelnen Tagen unter Freudlosigkeit und Erschöpfung, jeweils rund 70 Prozent unter Hoffnungslosigkeit, unkontrollierbaren Sorgen und Einsamkeit. Jede:r dritte junge Oberösterreicher:in in Ausbildung berichtet sogar von Suizidgedanken.

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Leistungsdruck und Zukunftssorgen lasten auf den jungen Menschen, von der Politik fühlen sie sich im Stich gelassen

Schwer wiegen die ausbildungsbezogenen Anforderungen trotz monatelang geschlossener Schulen und Distance-Learning: Zwei Drittel der jungen Menschen stehen unter starkem Leistungsdruck. Ein großer Teil von ihnen (70 Prozent) ist außerdem durch Zukunftssorgen belastet, und auch diese hängen mit der Ausbildung zusammen: Die jungen Oberösterreicher:innen befürchten, während der Pandemie in der Schule, der Lehre oder auf der Uni derart viel versäumt zu haben, dass ihr weiterer Lebensweg nachhaltig Schaden genommen hat.

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Beschädigt ist inzwischen auch das Verhältnis der jungen Menschen zur Politik und zu öffentlichen Einrichtungen: Neun von zehn sind davon überzeugt, dass ihre Bedürfnisse in Hinblick auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht berücksichtigt wurden. Und zwei Drittel haben sich von öffentlichen Einrichtungen – allen voran den Schulen – allein gelassen gefühlt. Originalzitate aus der Befragung verdeutlichen die Probleme, mit denen sie zu kämpfen hatten, und was sie sich gewünscht hätten:

Mehr Verständnis von Lehrern hätt ich mir gewünscht“, „Nicht so viel Druck von der Schule“,Austausch mit anderen, um ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu haben“, „an Geld hat’s gefehlt für einen Laptop zum Lernen“, „dass auch mal wer fragt, wie’s mir geht“.

Fehlende Information, zu hohe Kosten und schwierige Erreichbarkeit behindern den Zugang zu Unterstützung

Mit Blick auf die psychische Gesundheit berichten aktuell rund 250.000 Oberösterreicher:innen ab 16 Jahren – unter ihnen rund 29.500 junge Menschen in Ausbildung – Bedarf an Unterstützung. Die Mehrzahl von ihnen hat bislang jedoch keine Hilfe in Anspruch genommen bzw. in Anspruch nehmen können. Die meisten (44 Prozent der Personen mit Bedarf an Unterstützung) scheiterten an fehlender Information über zur Verfügung stehende Angebote. Für 72.500 Oberösterreicher:innen (ein Fünftel der Betroffenen) waren die vorhandenen Angebote schlicht zu teuer. Für ebenso viele Menschen war die Unterstützung zu weit weg oder nur umständlich erreichbar. Wobei hier erwartungsgemäß Städter:innen bessergestellt waren: Während 39 Prozent der Menschen aus urbanen Regionen psychosoziale Beratungsstellen gut erreichen, geben dies nur 26 Prozent der Befragten aus ländlichen Regionen an.

Zu wenige Versorgungsplätze auf Kassenkosten für psychisch Belastete

Die Umfrage zeigt deutlich, dass viel zu viele Betroffene keine adäquate Versorgung finden. Dieser Befund steht im klaren Gegensatz zur Idee eines solidarischen Sozialversicherungssystems, in dem alle Versicherten unabhängig von der Höhe ihres Einkommens gleichermaßen gut versorgt sein sollten. Psychisch kranke Menschen können sich nicht einfach per E-Card von Psychotherapeut:innen auf Kassenkosten behandeln lassen wie bei einem Arzt bzw. einer Ärztin bei körperlichen Beschwerden. In Oberösterreich müssen sie sich über eine Clearingstelle um einen von der Krankenkasse finanzierten Platz aus einem Kontingent bemühen. Da dieses auf 1,23 Prozent der Anspruchsberechtigten (88.662 Personen österreichweit!) begrenzt ist, betragen die Wartezeiten im Regelfall mehrere Monate.

Leider ist in Oberösterreich auch ein Ausweichen auf den stationären Bereich kaum möglich, da laut Statistik Austria der Bedarf an Krankenhausbetten in psychiatrischen Abteilungen das tatsächliche Angebot bereits vor Ausbruch der Pandemie überstiegen hat. Dieser permanente Überbelag hat sich durch den massiven Anstieg an Hilfesuchenden und die temporäre Verwendung von Kapazitäten für Covid-Patient:innen entsprechend verschärft. Die Wartelistenplätze sind voll, die Wartezeiten unberechenbar lang. Ein ganzheitlicher Pandemieplan, bei dem die zeitnahe Versorgung aller Patient:innen sichergestellt wird, fehlt bis heute.

Wer nicht so lange warten will oder kann und kein Geld für Wahltherapeut:innen hat, rutscht in eine Abwärtsspirale aus Depression, Suchtverhalten, familiären Problemen, Krankenstand, Arbeitsplatzverlust und oftmals Arbeitsunfähigkeit. Das verursacht neben unsäglichem Leid auch hohe volkswirtschaftliche Kosten.

Forderungen für einen gleichen Zugang zu psychischer Gesundheit

  • Kein Unterschied bei der Versorgung von psychischer oder physischer Krankheit: Die medizinische Versorgung für psychisch Erkrankte muss ebenso sichergestellt sein wie bei körperlichen Beschwerden. Ein niederschwelliger, kostenfreier Zugang über die E-Card für alle Erkrankungen muss das Ziel sein. Zur Umsetzung braucht es einen massiven Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung in allen Settings. Eine bundesweite Planung über das Gesundheitsministerium unter Einbindung der Krankenkassen und Länder ist ohne weitere Zeitverzögerung anzugehen. Eine Finanzierung über Bundesmittel, beispielsweise die immer noch ausstehende Patienten-Milliarde, würde sich anbieten.
  • One-Stop-Shop: Zur Erhebung des Bedarfs, Koordination der Angebote und Hilfestellung bei der Suche nach Unterstützung ist eine zentrale Anlaufstelle für Anbieter:innen und Patient:innen einzurichten.
  • Jungen Menschen endlich Gehör schenken: Die junge Generation hat in den letzten Jahren besonders gelitten. Gleichzeitig wurde offensichtlich zu wenig getan, um Leistungsdruck von ihnen zu nehmen und sie bei ihrer Ausbildung zu unterstützen. Mehr Verständnis für ihre Anliegen und mehr psychosoziale Unterstützung vor Ort mit mehr Coaches und Betreuungslehrer:innen könnten schon viel bewirken. Eine Finanzierung nach dem AK-Chancenindex würde eine bedürfnisorientierte Förderung bewirken.
  • Lehrlinge aktiv fördern: Besonders viel haben die Lehrlinge mitgemacht – neben den schulischen Herausforderungen wie Homeschooling mussten sie auch noch schauen, wie sie unter Corona-Bedingungen in den Betrieben zurechtkommen. Daher sollten sie bei der Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfungen durch Buddies in den Betrieben verstärkt unterstützt werden.
  • Ein stärkerer Sozialstaat nutzt allen: Die finanzielle Absicherung von Menschen in schwierigen Lebenslagen wirkt präventiv gegen psychische Erkrankungen und weitere daraus entstehende Problemlagen. Daher sind eine Anhebung der Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld auf 70 Prozent sowie wirksame Maßnahmen gegen die Teuerung auf Bundesebene dringend angezeigt.
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