Gesundheit und Migration

24. Juni 2022

Um gesundheitliche Chancengerechtigkeit zu erreichen, müssen bestehende verbale und nonverbale Kommunikationsbarrieren im Gesundheitssystem überwunden werden. Statt zusätzlichen ökonomischen Druck aufzubauen, sind die systemischen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass gesunde Lebensverhältnisse für alle in Österreich lebenden Menschen erreichbar werden.

Nach internationalen Definitionen umfasst die Bevölkerung mit Migrationshintergrund alle Personen, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2020 hatten 24,4 % der österreichischen Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Ein Viertel dieser Menschen wurde bereits in Österreich geboren (Statistisches Jahrbuch 2021).

Die Gründe der Zuwanderung können vielfältig sein: Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Flucht, Familienzusammenführung u. v. m. Diese sind irrelevant, weil Migration im Leben eines Menschen immer eine Zäsur darstellt. Eine solch einschneidende Änderung der Lebensverhältnisse kann für die Betroffenen nicht nur Chancen und Möglichkeiten bieten, sondern gleichzeitig psychische, physische und finanzielle Ressourcen abverlangen. Selbst eine „freiwillige“ Migration kann oft psychosozial belastend sein, wenn diese mit dem Verlust des kulturellen Kontextes bzw. mit der Trennung von Familienangehörigen oder mit schwierigen Bedingungen im Aufnahmeland einhergeht.

Gesundheitsverhalten

76 % der österreichischen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund beurteilten ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut. Mit 69 % fällt die subjektive Bewertung von Personen mit Migrationshintergrund hier geringer aus. Bei aus dem ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei zugewanderten Menschen beträgt die Selbsteinschätzung nur mehr 60 %. Die Betroffenen leiden öfters an chronischen Erkrankungen. (Österreichische Gesundheitsbefragung 2019, Statistisches Jahrbuch 2021). Zudem sind Menschen mit Migrationshintergrund in den Aufnahmeländern oft ethnischen und kulturellen Diskriminierungen ausgesetzt. Eine kontinuierliche Diskriminierung zu erleben hat vor allem Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und kann Angststörungen oder Depressionen auslösen. Finanzieller Druck, Arbeits- und/oder Wohnungslosigkeit, Sprachbarrieren verstärken den psychischen Stress der Betroffenen. Diskriminierung kann aber auch mit körperlichen Beschwerden assoziiert werden, denn die somatischen Auswirkungen von Stress – insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen – sind in der Medizin seit Langem belegt.

Trotz dieser Einschätzung der eigenen Gesundheit ist die Inanspruchnahme der Angebote der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund – weder betreffend kurative noch präventive Gesundheitsleistungen – höher als vergleichsweise von Personen ohne Migrationsbezug (Österreichische Gesundheitsbefragung 2019, Statistisches Jahrbuch 2021).

Determinanten der Gesundheit

Gesundheitsförderliches Verhalten einer Person ist erheblich von ihrer sozioökonomischen Situation – wie sozialer Status, Bildung, Wohnort, aber auch Alter und Geschlecht – beeinflusst. Nicht jede Person verfügt gleichermaßen über die persönlichen oder finanziellen Ressourcen, die ein solches Verhalten auch ermöglichen. Es sind Arbeits- und sonstige Lebensbedingungen, die viele Menschen in eine Zwangslage führen. Armutsgefährdete, sozial benachteiligte Personen sind daher stärker von Erkrankungsrisiken betroffen. Die sozioökonomischen Determinanten sind primär von der Herkunft einer Person unabhängig, denn selbst innerhalb einer als homogen angedachten Gesellschaft bestehen Unterschiede. Durch vorherrschende Lebens- und Arbeitsbedingungen sind jedoch Menschen mit Migrationshintergrund von diesen Faktoren öfters und stärker betroffen.

  • Arbeits- und Einkommensverhältnisse

Es besteht ein deutlicher Zusammenhang der beruflichen Tätigkeit mit der Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes. Die ausgeübte Beschäftigung bestimmt nicht nur die Einkommenssituation eines Menschen. Sie ist ebenso entscheidend für das subjektive Wohlbefinden und die soziale Integration einer Person. Die Einkommenslage bei Menschen mit Migrationshintergrund ist schlechter als bei der Bevölkerung ohne Migrationsbezug, da zugewanderte Personen öfters in Niedriglohnbranchen tätig sind. Ob eine bestimmte Arbeit tatsächlich eine Gesundheitsressource darstellt oder ein Belastungs- oder Gefährdungsfaktor ist, hängt wesentlich von der Ausgestaltung des konkreten Arbeitsplatzes ab. (Migration und Gesundheit – Wissenschaftlicher Ergebnisbericht 2015, Statistisches Jahrbuch 2021, Fehlzeitenreport 2021)

Dekoratives Bild © A&W Blog
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  • Wohnverhältnisse

Geringere Einkommen generieren schlechtere Wohnverhältnisse. Sozial benachteiligte Personen leben oftmals in Wohnungen mit Feuchtigkeit, Schimmel oder Lärm. Auch Überbelag beeinflusst die körperliche und psychische Gesundheit eines Menschen. (Migration und Gesundheit Ergebnisbericht, 2015). 2019 bewohnten 2 % der Gesamtbevölkerung, jedoch rund 4 % der im Ausland geborenen Personen, Wohnungen mit sehr schlechtem Wohnstandard. Dieser liegt vor, wenn zwei oder mehr der folgenden Wohnprobleme bestehen: keine Toilette in der Wohnung bzw. zum alleinigen Gebrauch, kein Badezimmer in der Wohnung, Feuchtigkeit oder Schimmelbildung, dunkle Wohnräume.

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  • Kulturelle Hintergründe

In Bezug auf das Gesundheitsverhalten eines Menschen wird neben der sozioökonomischen Lage der soziokulturelle Hintergrund als Bestimmungsfaktor beschrieben. Denn der kulturelle Einfluss kann zu einem unterschiedlichen Verständnis von Gesundheit führen. Allerdings kann das eigene Verständnis nicht als ausschließlicher Grund betrachtet werden, wenn das Gesundheitssystem nicht oder nicht rechtzeitig in Anspruch genommen wird.

  • Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem

Das Krankheitsverhalten einer Person sowie die Nutzung des Gesundheitssystems hängen auch mit den bereits gemachten Erfahrungen – sowohl im Herkunftsland, aber auch im Aufnahmestaat – zusammen. Da Gesundheitssysteme in den Herkunftsländern meist anders strukturiert sind, finden sich viele Personen mit Migrationshintergrund im österreichischen Gesundheits- und Pflegewesen nicht ausreichend zurecht.

  • Sprachbarrieren

In Österreich haben versicherte Personen, unabhängig vom Migrationsstatus, gleiche Zugangschancen zum Gesundheitssystem. Für Menschen mit Migrationshintergrund bestehen dennoch Zugangsbarrieren. Nicht nur ein fehlendes Wissen über Strukturen, Informationsmangel, die kulturellen Unterschiede oder ein niedriger sozioökonomischer Status müssen überwunden werden, sondern die Sprache – als bedeutendste Kommunikationsbarriere – hindert diese Menschen an der Teilhabe am Gesundheitssystem im Aufnahmeland.

Die vom BMSGPK in Auftrag gegebene Studie zur Verbesserung der Gesundheitsinformation hat festgestellt, dass für Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund von Sprachbarrieren der Zugang zum Gesundheitssystem erschwert ist, aber auch, dass ihre medizinische Versorgung nicht immer zufriedenstellend gewährleistet werden kann. Obwohl Hausärzt:innen, aber auch die österreichischen Medien und Behörden großes Vertrauen genießen, werden die fehlenden Sprachkenntnisse immer wieder zum Problem. Die Menschen benutzen daher viele verschiedene Informationsquellen. Das Internet bzw. Social Media bieten den Vorteil der vertrauten Sprache, die Qualität und Aktualität der gegebenen Inhalte ist dafür unsicher. Bekannte und Verwandte spielen als Informationsquelle in den Communities ebenso eine wichtige Rolle, vor allem bei der Suche nach Ärzt:innen.

Im Zuge der Corona-Pandemie zeigte sich der Informationsbedarf noch deutlicher. In Studien berichteten die Befragten von Informationsdefiziten, Falschinformationen und von einem Bedarf an verständlichen Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen. Die Befragungen haben gezeigt, dass es aus integrationspolitischer Sicht wichtig wäre, dieselben Quellen für mehrsprachige Informationen zu nutzen, die auch für die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund verwendet werden (Gute Gesundheitsinformation für Menschen mit Migrationshintergrund 2021).

Fazit

Die Wirkmechanismen auf die Gesundheit sind komplex und in der Lebenswirklichkeit der Menschen eng miteinander verbunden. Eine pauschale Betrachtung von einzelnen Bevölkerungsgruppen zum Thema Gesundheitsverhalten wäre daher verfehlt, denn Diversität besteht nicht ausschließlich zwischen verschiedenen „Herkunftskulturen“.

Als wichtiger Schritt, um gesundheitliche Chancengerechtigkeit zu erreichen, wären jedenfalls die bestehenden Kommunikationsbarrieren im Gesundheitssystem abzubauen. Dazu ist eine Sensibilisierung der Mitglieder aller Gesundheitsberufe, auch der Ärzt:innen, auf Menschen aus anderen Kulturkreisen erforderlich. Die interkulturelle Kompetenz des medizinischen Personals wäre in der Aus- und Weiterbildung zu fördern.

Gleichzeitig sind die unterschiedlichen Angebote des Gesundheitssystems Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt bekannt zu machen, um eine höhere Versorgungsqualität zu erreichen. Der Bedarf nach zuverlässigen Gesundheitsinformationen in der Erstsprache ist groß. Bei der Gestaltung der Informationen sollten Menschen aus der Zielgruppe eingebunden werden, damit die erarbeiteten Formate mehr Aufmerksamkeit und größere Akzeptanz in den Communities erhalten (z. B. Bildauswahl, Sprachgebrauch bei tabubehafteten Themen, kultursensible Gesundheitsförderung etc.).

Ausbau von Dolmetscher:innennetzwerken (z. B. in den Primärversorgungseinheiten), niederschwellige, mehrsprachige Anlaufstellen könnten als zuverlässige Informationsquellen dienen. Es gibt bereits gute Erfahrungen in Wien mit Gesundheitslots:innen oder in Deutschland mit dem Angebot des „Gesundheitskiosk“. Diese Infopoints werden von Menschen aus verschiedenen Gesundheitsberufen und mit unterschiedlichem Migrationshintergrund betreut.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Stärkung der Gesundheitskompetenz – sowohl für Menschen mit als auch für Menschen ohne Migrationshintergrund – eine gemeinsame Politik benötigt und eine gesellschaftsübergreifende Zusammenarbeit von Akteuren des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, aber auch der Wirtschaft notwendig macht. Statt zusätzlichen ökonomischen Druck aufzubauen, müssen die Rahmenbedingungen so verändert werden, dass gesunde Lebensverhältnisse für alle in Österreich lebenden Menschen erreichbar werden.

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