So kann man Österreichs neokonservative Wirtschaftsjournalisten auf die Palme bringen: Mit einer Feststellung der Tatsache, dass die Republik 2014 das entscheidende Budgetziel der Europäischen Union, ein strukturelles Budgetdefizit von nicht mehr als 0,45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, weitgehend erreicht hat; ergänzt um die politische Forderung, deshalb endlich Maßnahmen zur Bekämpfung der Rekordarbeitslosigkeit zu ergreifen.
Das Budgetdefizit betrug 2014 laut Notifikation durch Statistik Austria 2,4 Prozent des BIP. Das zentrale budgetpolitische Ziel der EU bezieht sich auf das strukturelle Defizit, also das um Einmaleffekte und Konjunktureinflüsse bereinigte Defizit. An Einmaleffekten fielen 2014 vor allem 4,5 Milliarden Euro für die HETA an, der Bad Bank der Hypo Alpe Adria. Da Österreichs BIP, selbst in der unrealistisch engen Definition von Eurostat, niedriger war als sein Potential entstand ein konjunkturbedingtes Defizit, das gemäß der letztverfügbaren Schätzung der EU-Kommission vom 5. Februar 0,67 Prozent des BIP betrug. Das strukturelle Defizit dürfte deshalb bereits 2014 etwa dem EU-Budgetziel entsprochen haben, deutlich früher als geplant. Mit der Erreichung dieses mittelfristigen Budgetziels ist davon auszugehen, dass langfristig ein erheblicher automatischer Abbau der Staatsschulden erwartet werden kann.
Vollbeschäftigung: Am weitgehendsten verfehltes Ziel der Wirtschaftspolitik
Die AK fordert, über dieser Erreichung des mittelfristigen Budgetziels nicht auf die Bekämpfung der Rekordarbeitslosigkeit zu vergessen. Das Ziel der Vollbeschäftigung bildet zusammen mit dem einer gerechten Verteilung, jene Elemente des magischen Vielecks der Wirtschaftspolitik, die in Österreich – und in noch größerem Ausmaß in der gesamten EU – am weitgehendsten verfehlt werden.
Matthäus Kattinger, Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, spricht angesichts der AK-Forderung von „gewaltiger Realitätsverdrängung“ und meint, man „müsse wohl einen Kurs in höherer Mathematik in der Arbeiterkammer belegen“, um darin den Beginn einer Verringerung der zu hohen Staatsschulden zu sehen. Er erkennt in der Feststellung der Erreichung des Budgetziels nur „Mittel zum bösen Zweck“, der in zusätzlichen Ausgaben für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bestehe; bei den arbeitsmarktpolitischen Forderungen gehe es nur um „die Wahrung der Besitzstände (der Arbeithabenden).“ Josef Urschitz, Wirtschaftsredakteur der Presse, ortet darin die Forderung „endlich wieder mehr auf Pump zu investieren“ und sieht darin eine „Verhunzung der Lehre …. des Baron Keynes“, der in der Urschitz‘schen Interpretation „… offenbar ein Anhänger der schwäbischen Hausfrau“ war. Christian Ortner macht in einem Gastkommentar in der Presse daraus: „Die Arbeiterzwangskammer verlangt nach höheren Staatsschulden“.
Warum ärgert die neokonservativen Wirtschaftsjournalisten, diese Feststellung des Erreichens jenes Ziels, das sie selber normalerweise als besonders entscheidendes Element einer richtigen Wirtschaftspolitik ansehen, gar so? Die Ursache kann zunächst in der Forderung nach öffentlichen Mitteln für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liegen, die heuer das höchste seit 1950 gemessene Niveau erreicht. Wo doch Neokonservative über ein scheinbar kostenloses Mittel zur Verringerung der Arbeitslosigkeit verfügen: Die Verbilligung von Arbeit durch den Abbau von Sozialversicherungsbeiträgen und sozialstaatlichen Leistungen, die Abschaffung von Kollektivverträgen und die Kürzung von Arbeitslosengeldern.
Neokonservative benützen Budgetdefizite in ihrem Kampf gegen den Sozialstaat
Doch mir scheint, den Neokonservativen geht es primär nicht um die Budgetziele selbst. Sie benötigen die Verabsolutierung der Bekämpfung der Staatsschulden im wirtschaftspolitischen Zielkatalog, um ihrem wichtigsten wirtschaftspolitischen Anliegen Nachdruck verleihen zu können: Dem Abbau des Sozialstaates. Der Sozialstaat verleiht vor allem der Mittelschicht jene wirtschaftliche und soziale Sicherheit, über die sonst nur die Reichen aufgrund ihres Vermögens verfügen. Sie ist so den Fährnissen des Lebens und der Märkte nicht mehr bedingungslos ausgeliefert. Das ist den Konservativen ein Dorn im Auge. Sie sehen die Mittelschicht viel lieber in Abhängigkeit von den Reichen und damit die Macht eindeutig verteilt.
Hohe Staatsschulden erleichtern den Abbau des Sozialstaates, weil sich in ihnen seine Unfinanzierbarkeit manifestiert. Dabei spielt es auch keine Rolle, wie die Staatsschulden entstanden sind. In Österreich ist der Anstieg von 65 Prozent am BIP (2007) auf 85 Prozent (2014) die Folge der Einnahmenausfälle durch die Finanzkrise und der Kosten der Bankenrettung. In der Öffentlichkeit wird daraus gemacht: Wir (gemeint ist der Sozialstaat) hätten über unsere Verhältnisse gelebt.
Grundzüge ökonomisch vernünftiger Budgetpolitik
Welche politischen Schlussfolgerungen sollten die VerfechterInnen fortschrittlicher Politik daraus ziehen? Zum ersten gilt es, das Grundprinzip ökonomisch vernünftiger Budgetpolitik immer im Hinterkopf zu behalten: Bei schlechter Wirtschaftslage und steigender Arbeitslosigkeit besteht die stabilisierungspolitische Aufgabe des Budgets darin, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Beschäftigung zu stützen. Sonst droht eine Verfestigung der Rekordarbeitslosigkeit.
Zum zweiten muss aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, die Verengung der Budgetziele auf einen ausgeglichenen strukturellen Staatshaushalt in Frage gestellt werden. Denn dadurch werden die ökonomischen Anreize falsch gesetzt: Als strukturelle Ausgaben definierte öffentliche Infrastrukturinvestitionen, die ihre Erträge erst langfristig abwerfen, werden nicht getätigt, wenn sie nur von der heutigen Generation über Steuern finanziert werden müssen. Dies zeigt sich im massiven, austeritätsbedingten Rückgang der öffentlichen Infrastruktur in der EU in den letzten Jahren. Die Kreditfinanzierung öffentlicher Investitionen ermöglicht es, die Lastenverteilung zeitlich kongruent mit der Ertragsverteilung zu setzen und so die Anreizstrukturen richtig zu gestalten. Deshalb ist die Forderung nach einer goldenen Investitionsregel in der EU so sinnvoll, die genau dies zum Ziel hat.
Zum dritten ist es vernünftig, den Sozialstaat über Steuern und Beiträge und nicht über Budgetdefizite zu finanzieren, um den Neokonservativen eines ihrer wichtigsten politischen Druckmittel wegzunehmen. Deshalb müssen all jene, die für einen hochwertigen und umfassenden Sozialstaat eintreten, gleichzeitig für ein hohes Niveau der öffentlichen Abgaben sein. Die neokonservative Forderung nach einer Kombination aus sinkender Abgabenquote und ausgeglichenem Staatshaushalt wäre tatsächlich das (politisch geplante) Ende des allgemeinen Sozialstaates.
Sozialstaat verteidigen, Vermögenssteuern durchsetzen
Und dieser Sozialstaat ist es wert, mit Zähnen und Klauen verteidigt zu werden. Dabei müssen bestehende Versäumnisse, Dysfunktionalitäten und Ineffizienzen beseitigt werden. Der Sozialstaat stellt eine der wichtigsten verteilungspolitischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte dar. Seine Verteidigung kann nur mit einer Offensivstrategie gelingen. Vor allem mit der Forderung, Erbschaften und Vermögen markant zu besteuern und damit die Finanzierung des Sozialstaates zu sichern. Auch diese Forderung bringt die neokonservativen Wirtschaftsjournalisten regelmäßig auf die Palme. Recht so, denn darin zeigt sich, dass man inhaltlich richtig liegt.