Vielesozialpolitische Maßnahmen der Republikgründungsjahre Österreichs bedeuteteneinen großen Schritt in Richtung Sozialstaat, konnten aber an (zumeist sehrunvollkommene) Gesetze aus der Kaiserzeit anknüpfen. Sozialversicherung, Arbeitszeitverkürzungund das Verbot der Kinderarbeit seien hier als Beispiele genannt. ZweiMaßnahmen stellten für Gesetzgebung und Verwaltung dagegen völliges Neulanddar: die Errichtung der Arbeiterkammern und die Einführung derArbeitslosenversicherung mit Beschluss der konstituierenden Nationalversammlungvom 24. März 1920. Die Gewerkschaften waren die einzigen Institutionen, die mitder finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen Erfahrung hatten, und sie spieltenbei der Umsetzung dieses Megaprojekts auch gemeinsam mit den Arbeiterkammern eineentscheidende Rolle.
Die „Politik des Schubkarrens“
Bis 1918 konnten inder Regel nur Arbeitslose, die in einer Gewerkschaft organisiert waren, miteiner kleinen Unterstützung rechnen. Alle anderen arbeitslosen Menschen musstenmit dem Armenwesen ihrer Heimatgemeinde vorliebnehmen. Wenn der Ort, an dem mangearbeitet hatte oder vergeblich Arbeit suchte, nicht die Heimatgemeinde war,wurde man dorthin per Schubhaft unter Polizeiaufsicht zurücktransportiert,unabhängig davon, ob es dort überhaupt Arbeitsmöglichkeiten gab. Das bedeutetezumeist: Die Betroffenen mussten entweder eine schlecht bezahlte Arbeit ineinem regionalen Betrieb annehmen oder betteln gehen. Die Armenfürsorge derGemeinden sicherte ja kaum das Überleben, eine staatlich für jedes Bundeslandgeregelte Sozialhilfe gab es erst in der Zweiten Republik. Ferdinand Hanusch,der Sozialminister (damals Sozial-Staatssekretär) der Anfangsjahre der demokratischenRepublik, Gewerkschaftsorganisator und Gründungsdirektor der Arbeiterkammer fürWien und Niederösterreich, war als junger Textilarbeiter dieser „Politik desSchubkarrens“ mehrmals ausgesetzt.
Unterstützung durch die Gewerkschaft
Im Rahmen desgewerkschaftlichen Unterstützungswesens spielte die Arbeitslosenunterstützungeine wichtige Rolle, auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisnach 1945. Für einen Großteil der Gewerkschaftsmitglieder gehörten längerePhasen der Arbeitslosigkeit in der Monarchie und in der Ersten Republik zumnormalen Lebensablauf. 1892 boten schon 65 OrganisationenArbeitslosenunterstützung, für die insgesamt 26.760 Gulden aufgewendet wurden,1896 zahlten alle der Reichskommission der Freien Gewerkschaftenangeschlossenen Organisationen zusammen 10,1 Prozent der Einnahmen anArbeitslose aus. Allerdings profitierten davon nur 150.000 Gewerkschaftsmitgliederunter den insgesamt 21 Millionen ArbeiterInnen und (noch wenigen) Angestelltenin Handel, Verkehr, Industrie, Land- und Forstwirtschaft. Außerdem mussten etlicheschlecht verwaltete oder mitgliederschwache Gewerkschaften diese Leistungwieder einstellen, weil die ausgezahlten Beträge nicht zur Existenzsicherungausreichten, während gleichzeitig ihre finanzielle Basis zusammenzubrechendrohte.
Erste Forderung nach öffentlicher Arbeitslosenunterstützung
In Zeitenexplodierender Arbeitslosigkeit wie in den Jahren vor dem Ersten Weltkriegkonnten aber auch starke Organisationen die Anforderungen kaum bewältigen – unddas galt nicht nur für Österreich-Ungarn. Deshalb forderte der Internationalesozialistische Arbeiterkongress in Kopenhagen 1910 unter anderem „dieaußerordentliche Unterstützung der Arbeitslosenkassen während der Krise“ undgenerell die finanzielle Förderung der gewerkschaftlichen Arbeitsunterstützungdurch die „öffentlichen Gewalten“. Dafür gab es bereits etlicheBest-Practice-Beispiele auf Gemeindeebene, zuerst im belgischen Gent. Späterübernahmen auch Gemeinden in anderen Ländern das „Genter System“, im heutigenÖsterreich Graz, Liesing und Atzgersdorf. Der Kopenhagen-Kongress sah solcheMaßnahmen allerdings nur als Übergangslösung, das Ziel war die „Verwirklichungder allgemeinen öffentlich-rechtlichen, obligatorischenArbeitslosenunterstützung“. Durchgesetzt werden konnte das zuerst in England,wo schon ab 1912 für die ArbeitnehmerInnen einiger Industriezweige eine solcheArbeitslosenversicherung bestand.
In der Habsburger-Monarchieergriff die sozialdemokratische Parlamentsfraktion mit ihrem starkenGewerkschaftsflügel 1913 die Initiative und stellte im Abgeordnetenhaus desReichsrats einen Antrag auf staatliche Co-Finanzierung der gewerkschaftlichenUnterstützungskassen. Anfang 1914 folgte ein weiterer Antrag, der auchaußergewerkschaftliche Arbeitslosenkassen einbezog – wie in Kopenhagen alsÜbergangslösung „bis zur gesetzlichen Regelung der staatlichenArbeiterfürsorge“. Dieser Antrag wurde vom Budgetausschuss sogar mit 17 gegen15 Stimmen angenommen, aber der Beginn des Ersten Weltkriegs und derKriegsdiktatur verhinderte für vier Jahre fast alle sozialpolitischenFortschritte.
Beitrag zum Krisenmanagement
Während des letztenKriegsjahres und während der Gründungsjahre der demokratischen Republikherrschten Hunger und Chaos in Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Die Umstellung von Kriegs-auf Friedenswirtschaft und die Demobilisierung stellten die Gründer derRepublik vor große Herausforderungen. Sollte das Versprechen, „einer besserenZukunft den Weg … bahnen“ zu wollen, nicht ganz unglaubwürdig bleiben, warrasches Handeln angesagt. Nach einer Einigung zwischen GewerkschafterInnen,Industrievertretern und der Staatsregierung wurde schon am 6. November 1918,also noch vor der offiziellen Ausrufung der Republik, eine provisorischestaatliche Arbeitslosenunterstützung eingeführt. Die Hanusch-Verordnung sollteursprünglich nur bis zum 25. Februar 1919 gelten, blieb aber bis März 1920 inKraft, weil sich die Verhandlungen über eine dauerhafte Lösung der finanziellenAbsicherung bei Arbeitslosigkeit schwierig gestalteten.
KrankenversicherungspflichtigeArbeiterInnen hatten durch die Verordnung bei Arbeitslosigkeit Anspruch aufUnterstützung in der Höhe des Krankengeldes. Jene demobilisiertenKriegsheimkehrer, die vor ihrer Einberufung Arbeiter gewesen waren, hattenAnspruch auf eine Unterstützung, die dem durchschnittlichen Lohn der Brancheentsprach, in der sie vor dem Krieg gearbeitet hatten. Beide Gruppen erhieltendarüber hinaus Zulagen für materiell abhängige Familienmitglieder. DieFinanzierung erfolgte aus Budgetmitteln.
Beteiligung der Gewerkschaften
Zuständig für dieAuszahlung der Arbeitslosenunterstützung und die Organisation derArbeitsvermittlung waren die „Industriellen Bezirkskommissionen“ mitparitätisch besetzten Verwaltungsausschüssen – je zur HälfteGewerkschaftsdelegierte und Delegierte der UnternehmerInnen mit beigezogenenBehördenvertretern. Praktisch sollte die Auszahlung durch die ihnenzugeordneten „Arbeitslosenämter“ erfolgen, das funktionierte aber am Anfangnoch nicht. Bei der ersten Auszahlung vom 18. bis zum 23. November sprangendeshalb die Gewerkschaften ein und stellten ihre Einrichtungen zur Verfügung.Die Auszahlung wurde zum Teil über ihre Kassen organisiert und dieArbeitsvermittlung durch die gewerkschaftlichen Arbeitsnachweise.
Die Auszahlungeines steuerfinanzierten Arbeitslosengeldes durch die Gewerkschaften ist inFinnland, Schweden und Norwegen bis heute üblich, was die (freiwillige)Mitgliedschaft bei einer gewerkschaftlichen Arbeitslosenkasse voraussetzt unddamit als eine der Ursachen für den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgradin Skandinavien gesehen werden kann. In Österreich ging man 1920 einen anderenWeg, nicht zuletzt, weil die ausschließliche Finanzierung aus dem marodenStaatsbudget nicht mehr tragbar war. Staatssekretär Hanusch erläuterte dasKonzept Ende 1919 beim Kongress der Freien Gewerkschaften:
„Ich kann nursagen, dass die Arbeitslosenunterstützung in ihrer jetzigen Form eineunmögliche Sache ist … Auf der anderen Seite kann ich die Unterstützung nichteinfach drosseln. Sollen die armen Arbeitslosen hungern? Es ist notwendig, einegesetzliche Unterlage zu schaffen, sodass nicht nur der Staat, sondern dreiFaktoren zur Arbeitslosenversicherung beitragen: der Staat, die Unternehmer unddie Arbeiter selbst.“
Arbeitslosenversicherung: die hart erkämpfte Dauerlösung
DieRegierungsvorlage zum Arbeitslosenversicherungsgesetz mit der Umstellung aufdas Versicherungssystem wurde am 11. Februar 1920 in die konstituierendeNationalversammlung eingebracht. Es handelte sich um einen Kompromiss, den dieGewerkschafterInnen im sozialdemokratischen Parlamentsklub erst nach etlichenKorrekturen zugunsten der Betroffenen mittragen wollten. Deshalb dauerten dieAusschussverhandlungen eineinhalb Monate, aber die harten Verhandlungen zahltensich aus.
Im Gegensatz zurRegierungsvorlage galt ab 9. Mai, als das Gesetz in Kraft trat, derFamilienzuschlag für alle, die für eine Familie zu sorgen hatten, nicht nur fürverheiratete Arbeitslose, sodass auch die zahlreichen Alleinerzieherinnen, inihrer Mehrheit Kriegswitwen, eine Chance bekamen. Die zweite große Verbesserung:Nach der vollständigen Umstellung auf das Versicherungssystem wurden ab 1. Juli1921 auch ArbeitnehmerInnen mit einer anderen als der österreichischenStaatsbürgerschaft anspruchsberechtigt, da sie ja wie alle anderen alsVersicherte ihren Beitrag zahlten. Die Regierungsvorlage hatte nur dann einenAnspruch vorgesehen, wenn eine Gegenseitigkeitsvereinbarung mit demHerkunftsland bestand.
Die AK erreichtMitbestimmung auf Bundesebene
RegionaleEntscheidungskompetenz, Kontrolle und Organisation lagen auch nach demArbeitslosenversicherungsgesetz bei den „Industriellen Bezirkskommissionen“ undihren „Arbeitslosenämtern“. Auf gesamtstaatlicher Ebene fehlte dagegen vorerstjede Mitbestimmung der Interessenvertretungen. Die beiden zuständigenMinisterien, das Sozial- und das Finanzministerium, verwalteten dieBeitragsmittel und auch die Gebarung des aus den Beitragsüberschüssengespeisten Arbeitslosenversicherungsfonds nach eigenem Ermessen.
Sobald dieArbeiterkammer nach den Wahlen 1921/22 handlungsfähig war, verlangte sieMitbestimmung im Rahmen eines neu zu schaffendenArbeitslosenversicherungsbeirats. Sie erreichte auch dessen Einberufung,allerdings nicht dessen gesetzliche Absicherung. Er setzte sich besonders für„produktive Arbeitslosenfürsorge“ ein, also für Arbeitsbeschaffungsprogrammefür schwer vermittelbare Arbeitslose. Die rechts-konservative Regierungveröffentlichte 1925 auch tatsächlich ein solches Programm, das 10.000 Arbeitsplätzebereitstellen sollte, umgesetzt wurde aber nur eine sehr begrenzte Aktion.
Die AK und die Einführung der Notstandshilfe
1925 waren dienegativen Folgen der „Genfer Sanierung“ am österreichischen Arbeitsmarkt schondeutlich zu spüren. Diese Budgetsanierung mit Hilfe internationaler Geldgeber warmit Sozialabbau und Schaden für die Volkswirtschaft verbunden – ganz ähnlichwie vor wenigen Jahren in Griechenland. Dadurch stieg die Arbeitslosigkeit schonab 1923 nach einer kurzen Erholungsphase wieder steil an. Vor diesemHintergrund machte die AK „unermüdlich“ Druck, bis Ende 1923 die „Notstandsunterstützung“für jene eingeführt wurde, die nach dem Ende der Frist für den Bezug desArbeitslosengeldes weiter ohne Job dastanden. Ihre Verlängerung mussteallerdings – im Gegensatz zur Zweiten Republik – fast jedes Jahr neubeschlossen werden.
Der Kampf um dieHöhe des Arbeitslosengeldes und die Einbeziehung einer möglichst großen Zahl anBetroffenen begleitete die Tätigkeit von Arbeiterkammer und Gewerkschaftwährend der ganzen Ersten Republik. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise,kombiniert mit der Politik des harten Schillings und der Entmachtung derArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen, ließen aber das System ab Beginn der1930er-Jahre fast zusammenbrechen. Immer mehr Menschen wurden „ausgesteuert“,erhielten weder Arbeitslosengeld noch Notstandshilfe und waren – wie zu KaisersZeiten – auf die Armenpflege ihrer Heimatgemeinde angewiesen.
Immer wieder infrage gestellt und verteidigt
Schon während derVorbereitung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes kam es zu Angriffen auf dassoziale Netz für Arbeitslose. Es wurde als „Arbeitslosenpension“heruntergemacht, eine gezielte Kampagne gegen Arbeitslose als Sozialschmarotzersetzte ein. Das Bild von der sozialen Hängematte wurde in der Ersten und auchin der Zweiten Republik immer dann hervorgeholt, wenn der Sozialstaatzurückgedrängt werden sollte. Es sei hier auf die breit angelegteSozialschmarotzer-Kampagne in den 1980er-Jahren verwiesen oder auf dasInfragestellen der Notstandshilfe, das noch in frischer Erinnerung ist.
Die rechts-konservativen Regierungen der Ersten Republik setzten immer wieder dazu an, den BezieherInnenkreis, die Dotierung des Arbeitslosengeldes einzuschränken und die Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen zu unterlaufen. Die Diktatur im austrofaschistischen „Bundesstaat Österreich“ führte diese Politik konsequent fort, jetzt ohne von der Opposition in einem demokratisch gewählten Parlament und einer autonomen Arbeiterkammer gebremst zu werden. Das „Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz“ (nicht zu verwechseln mit dem „Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz“ 1978, das bis heute in seiner aktuellen Fassung „die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Tätigen“ regelt) schaffte 1936 die „Industriellen Bezirkskommissionen“ ab und ersetzte sie durch vom Sozialminister bestellte Organe, aus „Arbeitslosenämtern“ wurden „Arbeitsämter“. Man schaffte den seit 1920 bestehenden Rechtsanspruch auf Unterstützung wieder ab und schränkte die ohnehin geringen Leistungen der Arbeitslosenversicherung weiter ein.
Während des ZweitenWeltkriegs herrschte in der Kriegsindustrie und in der Landwirtschaft Mangel anArbeitskräften, Arbeitslosigkeit war kein Thema. Das nationalsozialistische Regimebestellte einen „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, der für dieMobilisierung der Arbeitskräfte zu sorgen hatte. Frauen, aus dem AuslandAngeworbene, ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa, Kriegsgefangene undKZ-Häftlinge ersetzten die Soldaten. Mit der Heimkehr der Soldaten nachKriegsende und der Normalisierung des Arbeitsmarkts in einer kapitalistischenWirtschaft war wieder eine sozialstaatliche Lösung für den Fall derArbeitslosigkeit gefragt.
Selbstverwaltung als Gewerkschaftsziel
Während der Verhandlungen über ein Arbeitslosenversicherungsgesetz für die Zweite Republik setzte sich der neu gegründete Österreichische Gewerkschaftsbund nicht nur bessere Leistungen als in der Ersten Republik zum Ziel, sondern auch Selbstverwaltung nach dem Muster der Krankenversicherung. Der Kompromiss, der dann durch das 1949 in Kraft tretende Gesetz festgeschrieben wurde, brachte zwar mehr Mitbestimmung, aber die Selbstverwaltung der Arbeitsämter war nicht erreichbar gewesen. Auch das 1968 auf Gewerkschaftsinitiative beschlossene „Arbeitsmarktförderungsgesetz“, das eine bessere Grundlage für aktive Arbeitsmarktpolitik bieten sollte, brachte in dieser Hinsicht keinen Fortschritt. Im beginnenden Zeitalter des Neoliberalismus stand Selbstverwaltung unter gleichberechtigter Beteiligung der ArbeitnehmerInnen-Seite ohnehin nicht mehr zur Debatte. Bei der Umwandlung der Arbeitsmarktverwaltung in das AMS, das ausgegliederte „Arbeitsmarktservice“, war das Absichern der Mitbestimmungsrechte schon als Erfolg zu werten.