Die deutschen „Hartz-Reformen“ haben langfristig massiv schädliche Auswirkungen auf die soziale Absicherung und Beschäftigungsstandards gehabt. Vor diesem Hintergrund wird in Deutschland über eine Reform der Arbeitslosensicherung debattiert. Eine Erneuerung des Sozialstaats ist aber auch aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung, der Entstehung neuer, prekärer Beschäftigungsformen sowie der Notwendigkeit eines ökologischen Umbaus unseres Wirtschaftssystems angezeigt. Kernstück eines erneuerten Sozialstaats müssen eine zukunftsfeste Arbeitslosenversicherung und eine menschenwürdige Grundsicherung sein.
Die neue Hartz-IV-Debatte
Nachdem lange Zeit Kritik an Hartz IV vor allem von Erwerbsloseninitiativen, Sozialverbänden und der Partei DIE LINKE formuliert worden war, gewann die Debatte darüber, wie das weithin als bedrohlich, ärmlich und stigmatisierend angesehene System der Grundsicherung überwunden werden könne, zu Beginn des Jahres 2019 neuen Schwung.
Die SPD verabschiedete im Februar das Papier „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit. Teil 1: Arbeit“, in dem sie skizzierte, wie der Wert der Arbeit zu stärken sei, neue Erwerbsformen abgesichert und mehr Chancen in der Arbeitswelt geschaffen werden sollen. Als zentrale Maßnahmen wurden darin auch die Anerkennung von Lebensleistung in einer solidarischen Arbeitsversicherung und die Einführung eines neuen Bürgergelds benannt, das an die Stelle von Hartz IV treten und die repressive Logik des Forderns und Förderns durch eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ ersetzen soll.
Ungefähr zeitgleich veröffentlichte der Vorsitzende Robert Habeck einen Debattenbeitrag zum Grundsatzprogramm von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, in dem er noch deutlich weitreichendere Vorschläge machte: Ein „Garantiesystem“, das auf Anreiz statt Bestrafung setzt, Zuverdienste attraktiver macht und Leistungen ohne Arbeitspflichten und mit sehr hohen Freigrenzen für Vermögen auszahlt, soll demnach Hartz IV ersetzen.
Soziale Sicherheit statt Hartz IV
Der Deutsche Gewerkschaftsbund verabschiedete kurze Zeit später ebenfalls ein Papier mit Eckpunkten und konkreten Forderungen zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Absicherung bei Arbeitslosigkeit („Soziale Sicherheit statt Hartz IV“). Zentrales Ziel ist hier: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen im Fall von Arbeitslosigkeit vor einem Wechsel ins Grundsicherungssystem geschützt werden und in der Regel von der Arbeitslosenversicherung betreut werden – und zwar bis eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gelingt.“ Dies soll durch eine Kombination von verbesserten Fördermaßnahmen und einem verlängerten Anspruch auf eine Geldleistung erreicht werden.
Konkret soll dazu ein Rechtsanspruch auf eine Weiterbildungsmaßnahme, ein Recht auf eine verstärkte, intensivierte Vermittlung, Beratung und Betreuung oder einen öffentlich geförderten Arbeitsplatz im sozialen Arbeitsmarkt geschaffen, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds in Abhängigkeit von den im Laufe der Erwerbsbiografie angesammelten Beschäftigungszeiten verlängert und eine neue Sicherungslinie für diejenigen geschaffen werden, die mindestens 24 Monate lang eingezahlt haben.
Des Weiteren beinhaltet das Papier Vorschläge, wie verschiedene Personengruppen, wie Kinder, Studierende und Geringverdienende, durch verbesserte familienpolitische Leistungen und ein höheres Wohngeld aus dem Grundsicherungsbezug herausgeholt werden können, die Forderung nach einer Förder-Offensive für Langzeiterwerbslose sowie Anforderungen an eine neue Grundsicherung, die Hartz IV ersetzen soll: eine Neuermittlung der Regelsätze, die Erstattung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft, eine Verbesserung der Rechte der Leistungsbeziehenden, die Erhöhung des Schonvermögens und einen verbesserten Schutz von Wohneigentum.
Eine auf Kooperation und dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt setzende Arbeitsweise der Jobcenter soll an die Stelle des bisherigen Ansatzes des Forderns und Förderns und der möglichst schnellen Vermittlung in irgendeine Arbeit treten. Um diesen Paradigmenwechsel zu erreichen, sollen auch die Sanktionen und Zumutbarkeitsregelungen deutlich entschärft werden.
Eine zukunftsfeste Arbeitslosenversicherung und eine menschenwürdige Grundsicherung als Schnittmenge und politisches Projekt
Trotz vieler Unterschiede in den Details zeichnet sich damit im arbeitnehmerorientierten Spektrum von Parteien und Verbänden in Deutschland eine breite Schnittmenge von Positionen und Vorschlägen ab, die die Basis eines politischen Projekts zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Absicherung bei Arbeitslosigkeit bilden können.
Dessen zentrale Eckpunkte lassen sich wie folgt umreißen:
- Grundsicherungsbezug vermeiden:
Durch höhere (Mindest-)Löhne, eine Stärkung der Tarifbindung und die Zurückdrängung prekärer Beschäftigung sowie die Ausweitung spezifischer Leistungen für Kinder und Wohnen soll vermieden werden, dass Menschen zur Ergänzung ihres niedrigen Einkommens oder zu geringer Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen überhaupt auf eine wie auch immer geartete Grundsicherung angewiesen sind.
- Schutz der Arbeitslosenversicherung stärken:
Indem die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung durch einen erleichterten Zugang und eine längere Bezugsdauer gestärkt wird, soll verhindert werden, dass Erwerbslose im Fall von Arbeitslosigkeit umgehend oder nach kurzer Zeit in die Grundsicherung fallen. Langjährige Beitragszahlende sollten zudem durch eine zweite Sicherungslinie besser vor dem sozialen Abstieg geschützt werden. Auch wäre zu diskutieren, ob risikobasierte Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung, wie in Österreich andiskutiert, nicht ein geeignetes Mittel wären, um z. B. die Entlassung von Älteren zu erschweren.
- Nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit:
Ein zentraler Eckpfeiler einer zukunftsfesten Arbeitslosenversicherung und einer menschenwürdigen Grundsicherung ist die Orientierung der Arbeitsförderung auf echte partnerschaftliche Unterstützung, die Verbesserung von beruflichen Perspektiven durch Qualifizierung und auf nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit statt auf schnelle Integration in prekäre Beschäftigung. Um hier einen Paradigmenwechsel zu erreichen, ist die Veränderung von Zumutbarkeitsregelungen im Sinne eines besseren Status- und Qualifikationsschutzes sowie der Sanktionen elementar.
- Recht auf Weiterbildung – für Arbeitslose, aber auch für Beschäftigte:
Weiterbildung ist ein wichtiger Schlüssel, um den rasanten digitalen und ökologischen Strukturwandel, der Arbeitsplätze teilweise obsolet zu machen droht und viele Tätigkeitsfelder grundlegend verändern wird, so zu gestalten, dass möglichst alle ihren Platz in der Arbeitswelt von morgen finden. Wir brauchen daher ein Recht auf Weiterbildung für Erwerbslose wie für Beschäftigte, eine stärker präventiv agierende Arbeitsmarktpolitik sowie eine Förder-Offensive im Hartz IV-System. Damit auch diejenigen, die am ersten Arbeitsmarkt nur schwer Fuß fassen können, Teilhabemöglichkeiten erhalten, gilt es außerdem den sozialen Arbeitsmarkt auszuweiten. - Menschenwürdige Grundsicherung statt Hartz IV:
Ein erneuertes soziales Sicherungsversprechen bedarf jedoch nicht nur der Stärkung der vorgelagerten Systeme und Hilfen, sondern auch einer grundlegenden Veränderung der Grundsicherung selbst. Sie muss ein verlässliches und menschenwürdiges letztes soziales Netz bilden, das gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet und prekärer Beschäftigung keinen Vorschub leistet. Um dies zu gewährleisten, müssen die Regelsätze angehoben, die Bedürftigkeitsprüfung vereinfacht und die Sanktionen deutlich entschärft werden.