Handlungs­felder eines ökologisch nach­haltigen Sozial­staates und trans­formative Ansatz­punkte

02. August 2024

Hitze und Extremwetterereignisse, aber auch soziale Ungleichheit sind zentrale Herausforderungen, die mit dem Klimawandel (und einem steigenden Ressourcenverbrauch) einhergehen und zu fundamentalen Veränderungen unserer Gesellschaft führen.

Um die Folgen des Klimawandels zu begrenzen, ist eine sozial-ökologische Transformation unabdingbar. Dazu gehört, ökologische Nachhaltigkeit als neue Zielorientierung in der Ausrichtung der institutionellen Sozialstaatsstrukturen zu verankern.

Rund 136 Mrd. Euro oder 30,5 Prozent des BIP – so hoch war das Volumen der Sozialschutzausgaben im Jahr 2022. Diese Zahl verdeutlicht, wie sehr der Sozialstaat unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen bereits jetzt beeinflusst. Angesichts der immer drängenderen globalen ökologischen Probleme und Herausforderungen ergeben sich für den Sozialstaat neue, zusätzliche Aufgaben. Standen bisher die kompensatorischen, präventiven und investiven Funktionen des Sozialstaats im Fokus, so kommt im „Ökosozialstaat“ die transformative Funktion noch hinzu.


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Soziale Notwendigkeit: Betroffenheit durch und Kosten des Klimawandels sind ungleich verteilt

Unsere Gesellschaft, aber auch Einzelpersonen sind vielfältig von den Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung betroffen.

Dabei sind die Kosten und Schäden des Klimawandels und der Umweltzerstörung ungleich zwischen Personengruppen verteilt. Zum Beispiel wohnen Personen mit niedrigem Einkommen häufiger in schlecht isolierten Gebäuden mit größerer Hitzebelastung oder Straßenzügen mit verkehrsbedingt hoher Feinstaubbelastung. Sie sind dadurch stärker direkt von den Klimawandelauswirkungen betroffen. Ebenso haben vulnerable, einkommensschwache Gruppen weniger finanzielle Mittel und Handlungsmöglichkeiten zur Anpassung an den Klimawandel und können von Klimaschutzmaßnahmen unverhältnismäßig stark betroffen sein, z. B. aufgrund steigender Preise durch Lenkungssteuern. Anhand von Vulnerabilitätsmerkmalen können sieben besonders gefährdete Gruppen identifiziert werden: Personen mit niedrigem Bildungsstand, Menschen mit starken gesundheitlichen Einschränkungen, Alleinerziehende, Personen mit Migrationshintergrund, Kinder, Personen über 65 Jahren sowie Frauen, auf welche fast allen Vulnerabilitätsmerkmale häufiger zutreffen als auf Männer. Gleichzeitig zeigen Schätzungen für Österreich wie auch auf globaler Ebene, dass die einkommensstarken und insbesondere vermögenden Personengruppen überdurchschnittlich zu Umweltbelastungen beitragen.

Vom Sozialstaat zum „Ökosozialstaat“

Zentrales Ziel einer sozial-ökologischen Transformation ist die Förderung eines ressourcen- und emissionsarmen und zugleich sozial inklusiven und auf Gleichstellung ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Dies bedingt eine fundamentale Änderung unserer Gesellschaft und Maßnahmen zur Begrenzung der Kosten und Risiken des Klimawandels und zur Gewährleistung des Wohlergehens sowie einer für Menschen lebensfreundlichen Umwelt. Für den Sozialstaat bedeutet dies, dass die neuen „sozialen Klimarisiken“ in eine zukunftsorientierte, ökologisch sensible Sozialstaatsarchitektur einzubauen sind, die die erforderliche sozial-ökologische Transformation unterstützt.

Konkret hat ein präventiver, transformativer Sozialstaat künftig neben Zielkonflikten zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital auch den Verbrauch natürlicher Ressourcen (Bodenschätze, Luft, Wasser) und den Zeitaufwand für unbezahlte Sorgearbeit zu berücksichtigen. Dies kann zu einer Veränderung der ressourcen- und klimaschädlichen Produktions- und Konsumtionsbedingungen führen. Gleichzeitig werden die traditionellen kompensatorischen und investiven Aufgaben durch die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Klimaveränderungen immer bedeutender. Die neu zu berücksichtigenden Herausforderungen erfordern ein Konzept der Politikintegration, also die Überwindung des Silodenkens zwischen Umwelt- und Sozialpolitik, hin zu einer politikübergreifenden gemeinsamen Zielformulierung, Koordination und Umsetzung. Einerseits müssen die klimapolitischen Ziele und Maßnahmen aus sozialpolitischer Perspektive abgewogen und die sozialen Auswirkungen des Klimawandels sowie der Klimapolitik abgefedert werden. Andererseits müssen die klimaschädlichen Auswirkungen der Sozialpolitik so gering wie möglich gehalten werden.

Handlungsfelder eines „Ökosozialstaats“

Sozial ausgewogene und nachhaltige Anpassungen an den Klimawandel sowie Klimaschutzmaßnahmen erfordern in zahlreichen sozialstaatsrelevanten (Politik-)Bereichen eine grundlegende strukturelle Neugestaltung.

Im Bereich der Erwerbsarbeit gilt es, Arbeitsplätze umweltfreundlicher zu gestalten und ein nachhaltiges Wirtschaftssystem voranzutreiben. Durch die Vermittlung grüner Kompetenzen im Bereich der Aus- und Weiterbildung eröffnen sich neue Chancen in neu entstehenden oder wachsenden grünen Wirtschaftsbereichen, die eine durch den Wegfall von emissionsintensiven Berufen punktuell steigende Arbeitslosigkeit abmildern. Ebenso wichtig ist es, Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmer:innen zu treffen, die negativen Klimawandelauswirkungen ausgesetzt sind. Da Familien für die gesellschaftliche Reproduktion zentral sind, muss der Familienpolitik in der sozial-ökologischen Transformation ein höherer Stellenwert beigemessen werden. Ansatzpunkte sind eine gleichmäßigere Verteilung der Haus- und Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen sowie die Bereitstellung leistbarer universeller Dienstleistungen (universal basic services) in Form von sozial-ökologischer Infrastruktur (beispielsweise in Form von leistbarem öffentlichem Verkehr). Bei Kinderbetreuungseinrichtungen ist zudem auf eine klimafitte Ausgestaltung zu achten, zum Beispiel ausreichend Schattenplätze in Außenbereichen und die Abschirmung der Innenräume gegen große Hitze. Im Bereich der Gesundheit und Pflege beziehen sich Hitzeschutzmaßnahmen auf die Festlegung von Maximaltemperaturen und Installation mikrobiologisch unbedenklicher, klimafreundlicher Lüftungs- und Kühlsysteme in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Ein klimafittes Gesundheitssystem setzt zudem auf Prävention und allgemeine Gesundheitskompetenz sowie einen klimaschonenden Betrieb von Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, etwa bei der Verpflegung, Energiebereitstellung, Mobilität und Beschaffung. Für leistbares und klimagerechtes Wohnen reichen erforderliche Maßnahmen von der Raumplanung über Bauordnungen bis zur treffsicheren Gestaltung von Förderungen, etwa um einkommensschwachen Gruppen die Sanierung von Gebäuden und den Umstieg auf erneuerbare Energiesysteme zu ermöglichen. Weitere Handlungsebenen betreffen die Bereitstellung grüner Infrastruktur, insbesondere in urbanen, durch Hitzeinseln gefährdeten Regionen, und Schutzbauten gegen Naturgefahren. Wohnstrukturen und Raumnutzung beeinflussen zudem direkt den Mobilitätsbedarf und das Mobilitätsverhalten. Neben der großen Ausgabenbelastung für (einkommensschwache) Haushalte benachteiligt das aktuell auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtete Mobilitätssystem insbesondere vulnerable Gruppen hinsichtlich der Teilhabe an der Gesellschaft. Ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem sollte den Fokus auf Mobilitätsdienstleistungen im Sinne des Zugangs zu Personen, Gütern und Orten legen. Dies bedarf eines Angebots an differenzierten Mobilitätsformen mit einem Fokus auf öffentliche Verkehrsmittel und aktive Mobilität. Zur Vermeidung möglicher Zielkonflikte gilt es zudem, die Budget- und Steuerpolitik mit den Zielen eines ökologisch nachhaltigen Sozialstaats zu koordinieren.

Insgesamt ist der ökologisch nachhaltige Sozialstaat als übergeordnetes Leitprinzip zu verstehen und zu konzipieren, welches über Einzelmaßnahmen hinausgeht und an dem sich das Handeln sämtlicher politischer Akteur:innen eines zukunftssicheren politischen Systems orientieren muss.

Der Beitrag basiert auf der Studie „Ökosozialstaat – Handlungsfelder eines ökologisch nachhaltigen Sozialstaats“ des WIFO für den Sozialbericht 2024 des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK).

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