Bürgergeld. Paradigmen­wechsel oder Reförm­chen?

19. Juli 2024

Anfang 2023 richtete Deutschland mit dem Bürgergeld die Grundsicherung neu aus. Die Ampelkoalition hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, Hartz IV abzuschaffen und ein neues System zu etablieren, das zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen, den einfachen Zugang zu Leistungen ermöglichen soll und die Würde des Einzelnen achtet. Glauben wir der CDU/CSU, wurde so ein bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür eingeführt. Laut Arbeitslosenvertretungen ist die Reform nicht mehr als ein Namenswechsel. Eineinhalb Jahre nach Einführung ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Ist die Bürgergeldreform nun der versprochene Paradigmenwechsel oder doch nur ein Reförmchen?

Einführung des Bürgergelds    

Durch die Hartz-Reformen wurde die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zwischen 2003 und 2005 radikal umgebaut. Arbeitslose haben seither keinen Rechtsanspruch auf Zahlungen. Somit stellt Hartz IV einen Systemwandel von einem versicherungsbasierten System zu einer bedarfsgeprüften Fürsorgeleistung dar. Die Bedarfsprüfung bezieht das gesamte Haushaltseinkommen mit ein. Haushalte werden als Bedarfsgemeinschaften bewertet, weshalb auch Kinder und Jugendliche leistungsbeziehend sind (2023: 1,9 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren).

Im Gegensatz zu den frühen 2000er Jahren blickt Deutschland heute auf eine veränderte Arbeitsmarktlage. Die gute Konjunktur und das auf Exportüberschuss ausgerichtete Wirtschaftsmodell haben zu einer niedrigen Arbeitslosenquote beigetragen. Gleichzeitig hat die Hartz-IV-Reform Druck auf Löhne und den Arbeitsmarkt aufgebaut. So ist die Ausweitung des Niedriglohnsektors vorangeschritten und die Anzahl der trotz Arbeit in Armut lebenden Menschen gestiegen. Zudem hat sich die Debatte verschoben: Der steigende Fachkräftebedarf ist zentrales politisches Thema. Auch die Debatte um Ungleichheit, Chancengerechtigkeit, Vermögens- und Einkommensverteilung sowie (Kinder-)Armut ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus gerückt. Damit einhergehend wurde immer wieder die Frage der Aktualität des Hartz-IV-Systems gestellt.

Während der Corona-Pandemie hat sich die Anzahl der Haushalte, die Hartz-IV-Leistungen beziehen, vervielfacht. Mit mehreren Sozialschutzpaketen wurden von der Bundesregierung während der Coronakrise bürokratische und finanzielle Entlastungsmaßnahmen getroffen. Dabei wurden auch Entlastungen für Hartz-IV-Leistungsbeziehende und die zuständigen Behörden (Jobcenter) verabschiedet. Damit wurde eine zeitlich beschränkte Lockerung bezüglich Nachweis- und Meldepflichten für Leistungsbeziehende der Grundsicherung beschlossen. Es gab ein Sanktionsmoratorium und ein erleichtertes Antragsverfahren. Die kurze Zeit später einsetzende Energie- und Inflationskrise hat die Situation insbesondere für arme Haushalte und die unteren Einkommensschichten verschärft. Im Zuge dessen wurden die Wohn- und Heizkosten unabhängig ihrer Höhe, den tatsächlichen Kosten entsprechend, für Hartz-IV-Empfänger:innen übernommen. Die Doppelkrise aus Corona-Pandemie und Inflation fungierte als externer Schock und wurde zu einem Reformbeschleuniger. Diese Entwicklung ermöglichte, das einstige Prestige-Projekt zu reformieren und die krisenbedingten Lockerungen zu verstetigen. So nahm die Bundesregierung eine fundamentale Reform der Grundsicherung (Bürgergeld) in den Koalitionsvertrag als Regierungsvorhaben auf.

Im November 2023 setzte die Ampelkoalition das Vorhaben um. Sie beschloss das neue Bürgergeldgesetz. Die neuen Regelungen traten größtenteils Anfang 2023 in Kraft, weitere Änderungen folgten zum 1. Juli 2023.

Die drei größten Bausteine der Bürgergeldreform waren:

  1. Die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und die aktive Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen,
  2. monetäre Verbesserungen für Leistungsbeziehende und
  3. ein Kulturwandel hin zu Respekt und Augenhöhe.

Qualifizierung statt Vermittlungsvorrang

Die zentralen Änderungen umfassen einen Wechsel von einem Vermittlungsgebot hin zu einer Qualifizierungsoffensive. Hierdurch werden Aus- und Weiterbildungen aktiv gefördert, anstatt Menschen schnellstmöglich in Beschäftigungsverhältnisse zu vermitteln. Qualifizierungsmaßnahmen werden nicht nur ermöglicht, sondern ausdrücklich gefördert und finanzielle Anreize dafür geschaffen. Nach dem Motto „Gute Arbeit statt Aushilfsjobs“ soll der Drehtüreffekt, das ständige Pendeln zwischen kurzfristigen und instabilen Beschäftigungen und Arbeitslosigkeit, verringert werden. So sollen Perspektiven für Arbeitslose geschaffen und langfristig Wege aus der Armut gefördert werden. Zudem erhofft man sich einen Beitrag zur Bewältigung des Fachkräftebedarfs. Mit der Einführung eines Weiterbildungsgeldes und der Abschaffung des Vermittlungsvorrangs wurde das Recht auf Weiterbildungen, die zu einem Berufsabschluss führen, gestärkt und stellt eine wesentliche Änderung dar.

Erhöhung der Regelsätze, Zuverdienstgrenze und Schonvermögen

Ein weiterer Reformbaustein ist die einmalige Erhöhung der Regelsätze, die fortan jährlich dynamisch angepasst werden. Dafür wurde die Berechnungsgrundlage geändert. Sie bezieht nun auch Inflation, Preis- und Lohnentwicklung mit ein. Zudem gibt es höhere Freibeträge bei der Zuverdienstgrenze. Diese Neuregelung ermöglicht insbesondere Schüler:innen, sich durch einen Nebenjob ein Zusatzeinkommen zu verschaffen, ohne dass dieses auf das Bürgergeld angerechnet wird. Die Vermögensschongrenze wurde ebenfalls angehoben, private Rentenvorsorgen werden nicht mehr angerechnet und kleine Erbschaften werden nun als Vermögen und nicht als Einkommen gewertet, was dazu führt, dass sie nicht gänzlich angerechnet werden. Insgesamt bleibt es eine bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistung, was eine Schwächung des Sozialversicherungssystems bedeutet.

Kulturwandel – von Bittsteller:innen zu Bürger:innen

Eine wichtige Komponente der Neuausrichtung ist der Kulturwandel. Die SPD formuliert es so: „Das Bürgergeld sorgt für mehr Respekt im Sozialstaat – es wird auf partnerschaftliche Augenhöhe zwischen Staat und Bürger:innen gesetzt.“ Hierzu löst der Kooperationsplan die Eingliederungsvereinbarung ab. Die Eingliederungsvereinbarung (EGV) ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag, der zwischen dem Jobcenter und den Leistungsempfänger:innen geschlossen wird. Die EGV ist eine individuelle Abmachung beider Parteien, die Ziele festlegt, um die Arbeitslosigkeit zu beenden. Eine gängige Vereinbarung ist beispielsweise eine bestimmte Anzahl von im Monat zu schreibenden Bewerbungen. Der Kooperationsplan hingegen steht symbolisch für die neue Vertrauenskultur des Bürgergelds. Auf Basis einer Potenzialanalyse sollen in der Beratung „zusammen mit jeder erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person die für die Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit erforderlichen persönlichen Merkmale, die beruflichen Fähigkeiten und die Eignung“ (SGB II, §15 [1]) festgestellt werden.

Aber auch der Kooperationsplan bleibt die rechtliche Grundlage für Leistungskürzungen. Es können ab dem ersten Tag des Leistungsbezugs leistungsmindernde Sanktionen ausgesprochen werden. Geändert hat sich die Form des Kooperationsplans, die einfacher verständlich ist und einen kooperativen Ansatz verfolgt. Das heißt, es wird auf Kooperation statt Autorität zwischen Kund:in und Berater:in gesetzt. Zudem wurde eine Schlichtungsstelle eingerichtet zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten, die in Konfliktfällen moderiert. Während einer Schlichtung dürfen keine Leistungsminderungen verhängt werden. Die Schlichtungsstelle, der Kooperationsplan, der Wegfall des Vermittlungsvorrangs und die Qualifizierungsoffensive vereinfachen es, Maßnahmen abzuwenden, die als Schikane empfunden werden, und sich gegen die Vermittlung in Arbeitsverhältnisse mit schlechter Bezahlung und Bedingungen zu wehren.

Im Sinne des Kulturwandels wurden zudem Änderungen im Sanktionsregime beschlossen. Zwar wurde das während Corona angewendete Sanktionsmoratorium nicht fortgeführt und Sanktionen grundsätzlich wieder eingeführt. Bei Verletzung der Mitwirkungs- oder Meldepflicht werden weiterhin leistungsmindernde Sanktionen ausgesprochen. Dennoch: Im Vergleich zu Hartz IV sind die Sanktionsmöglichkeiten beim Bürgergeld moderater gestaltet. Sie erfolgen gestaffelt und sind zwischen 10 bis maximal 30 Prozent leistungsmindernd. Damit setzt der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um. Der hatte 2019 geurteilt, dass Sanktionen in der Grundsicherung gegen das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum verstoßen. So urteilte das Gericht, dass eine Kürzung von maximal 30 Prozent der Leistungen zulässig ist. Der Aufforderung des Gerichts, das Gesetz entsprechend nachzubessern, ist die Bundesregierung nun mit der Reform des Bürgergeldes nachgekommen.

Fazit

Zur Eingangsfrage: Ist das Bürgergeldgesetz ein Paradigmenwechsel oder nur ein Reförmchen? Sehen wir uns die drei größten Reformblöcke an, um sie zu beantworten:

1. Das Ende des Vermittlungsvorrangs

Die größte Änderung für die Leistungsbeziehenden stellt der Wegfall des Vermittlungsvorrangs dar. Die Priorisierung und Förderung von Weiterbildung und Qualifizierung ist der einzige Bestandteil der Reform, in dem ein Paradigmenwechsel zu beobachten ist. Ebenso positiv hervorzuheben ist die Verstetigung des dritten Arbeitsmarkts der zusätzlich durch das Teilhabechancengesetz gestärkt wurde. Hierdurch wird Langzeitarbeitslosen die Teilnahme am Arbeitsmarkt erleichtert.

2. Die Erhöhung des Bürgergelds

Die Bürgergelderhöhung, die Anfang 2024 im Zuge der Reform erfolgte, war eine Inflationsanpassung. Der Anstieg der Regelsätze auf 563 Euro konnte die Kaufkraftverluste der Jahre 2022 und 2023 nicht annähernd ausgleichen. Mit der Bürgergeldreform wurde die Berechnungsgrundlage der Regelbedarfe neu aufgestellt. Zur Ermittlung des Existenzminimums wird die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) herangezogen, die alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt erhoben wird. Daneben werden Preis-, Lohn- und Inflationsentwicklung stärker miteinbezogen. Die Regelbedarfe werden jährlich dynamisiert angepasst. Sozialverbände und gewerkschaftsnahe Forschungsinstitute kritisieren die neue Berechnungsgrundlage für den Regelsatz. Sie weisen auf die Intransparenz der Berechnung hin. Auch würde das Bürgergeld dem Existenzminimum näherkommen, wäre es am allgemeinen Warenkorb oder Preisindex orientiert. Im Zuge dessen wird auch die Definition des Existenzminimums, das gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, kritisiert. Die Armutsgrenze für einen Einpersonenhaushalt in Deutschland lag 2022 bei 1.189 Euro. So gelten weiterhin zahlreiche Bedarfsgemeinschaften als arm. Auch nach der Bürgergeldreform kann festgestellt werden: Die Regelhöchstsätze sichern weder vor Armut ab noch die gesellschaftliche Teilhabe zu. Das Bürgergeld ist nach wie vor ein institutionalisierter Abstieg.

3. Der Kulturwandel

Der Kulturwandel zu mehr Respekt und gerechter Teilhabe findet sich in der öffentlichen Debatte kaum wieder. Vielmehr wurde das Bürgergeld von liberal-konservativen Medien und Politiker:innen genutzt, um Arbeitslose und Bürgergeldbeziehende abzuwerten. Was bleibt von einem Kulturwandel, der sich weder in der Gesellschaft noch bei den Berater:innen widerspiegelt? Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von April 2024 zeigt, dass der Paradigmenwechsel bei den Berater:innen nicht angekommen ist. Diese zeigt, dass die Jobcenterbeschäftigten dem Bürgergeld mehrheitlich skeptisch gegenüberstehen. Die Studie deutet darauf hin, dass der Kulturwandel in den Jobcentern auf Widerstand stößt und von den Berater:innen nicht mitgetragen wird. Hier stellt sich die Frage: Wie die Begegnung auf Augenhöhe ermöglichen, wenn strukturell und personell nichts verändert wird.

Insgesamt zeigt sich, dass viele Kernelemente von Hartz IV nicht angetastet wurden. Ein Systemwechsel hin zu einem bürger:innenfreundlichen System auf Augenhöhe kann eineinhalb Jahre nach der Einführung des Bürgergelds nicht festgestellt werden. Hinzu kommt eine aufgeheizte gesellschaftlich-mediale Debatte, getrieben durch konservativ-liberale Kräfte. Die CDU/CSU und Teile der FDP mobilisieren öffentlichkeitswirksam gegen die Reform. Mit dem Haushaltsentwurf 2025, der von den Ampelspitzen am 8. Juli 2024 vorgestellt wurde, zeichnet sich ein Einknicken der Ampel vor dem öffentlichen Druck ab. Dieser sieht weitere Verschärfungen im Bürgergeldbezug vor. Unter anderem soll es zu Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien kommen und das Sanktionsregime verschärft werden. Darüber hinaus sind Kürzungen vorgesehen, die insbesondere die Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen unterfinanzieren und schwächen werden. Welche konkreten Auswirkungen der Haushalt 2025 auf das Bürgergeld haben wird, bleibt bis zum Ende der parlamentarischen Haushaltsverhandlungen im Herbst/Winter 2024 abzuwarten. Die Einigung der Ampel-Spitzen für den Bundeshaushalt verheißt nichts Gutes für alle Bürgergeldbeziehenden und diejenigen, die sich für eine integrative Gesellschaft einsetzen. Der Weg zur Reform des Bürgergelds hin zu mehr Respekt, Augenhöhe und Würde wird damit ein weiteres Stück in die Ferne gerückt. Von dem angekündigten Systemwechsel bleibt maximal ein Reförmchen.

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