Sehr schnell nach der Angelobung der Regierung Kurz erfüllte diese ein Wahlkampfversprechen und legte im Jänner den Gesetzesentwurf über die Indexierung der Familienbeihilfe vor – die Begutachtungsfrist endet Mitte Februar. Die Familienbeihilfe (inklusive Kinderabsetzbetrag) soll, so der Plan, für Kinder, die im EU-Ausland leben und deren Eltern in Österreich arbeiten, auf das Kaufkraftniveau des Wohnstaats angepasst werden. Man hofft, so zu jährlichen Einsparungen von über 100 Millionen Euro zu kommen. Tatsächlich geht es aber vor allem um national-populistische Signale an die Wähler/innen.
Dieses erste Leuchtturmprojekt der Regierung Kurz war schon vor dem Wahlkampf und der Angelobung von Türkisblau ein viel beachtetes und stark diskutiertes politisches Thema, das den populistisch-unionsskeptischen Kurs der neuen Regierung ankündigte. Bundeskanzler Kurz hatte bereits in seiner Amtszeit als Außen- und Europaminister auf Unionsebene das Projekt forciert, Familienleistungen für Kinder, die nicht im Beschäftigungsstaat der Eltern wohnen, nicht mehr in der vollen Höhe auszuzahlen. Die Höhe der Familienleistungen sollte stattdessen die Unterschiede in der Kaufkraft zwischen den nationalen Ökonomien abbilden. Bereits diese ersten politischen Pläne riefen heftige Kritik hervor – und nicht nur wegen der geplante Ungleichbehandlung von Kindern, deren Eltern zur österreichischen Wertschöpfung beitragen. Der Plan, den Betrag von Familienleistungen nach dem Wohnort der Kinder zu differenzieren, wurde von Anfang an auch unionsrechtlich heftig kritisiert. Ein zentrales Prinzip des Primärrechts (der vertraglichen Verfassungsgrundlage der Union) ist die Gleichbehandlung aller Unionsbürger. Das Diskriminierungsverbot steht prominent im Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Als Familienleistung unterliegt die Familienbeihilfe nicht nur dem Primärrecht, sondern auch den Unions-Bestimmungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der Verordnung 883/2004, wo in Art. 4 und Art. 5 das Diskriminierungsverbot und das Gebot zur Gleichstellung von Sachverhalten zu den grundlegenden Regelungen gehören. Sobald ein Sachverhalt in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt – wie bei Familien, in denen der Arbeitsort der Eltern und der Wohnort der Kinder in verschiedenen Mitgliedstaaten liegen –, haben das Primärrecht und die Regelungen von Unionsverordnungen Anwendungsvorrang vor nationalen Gesetzen, deren Inhalt den Unionsregeln widerspricht.
Kurz hatte in seiner Amtszeit als Außenminister zunächst versucht, auf Unionsebene politische Allianzen zu finden, um eine Änderung der europäischen Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu erreichen. Durch den Anwendungsvorrang der Verordnung hätten sich jene Mitgliedstaaten, die Sympathien für diesen Vorstoß zeigten (allen voran die Regierung Cameron in Pre-Brexit-Großbritannien), den Versuch erspart, eine rein innerstaatliche Umsetzung zu versuchen.
Die Ausnützung der Sozialsysteme reicherer Unionsstaaten durch Zuwanderer aus ärmeren Staaten war bereits seit mehreren Jahren zu einem Lieblingsthema populistisch-nationalistischer Politikrhetorik geworden. Unabhängig von tatsächlichen Umständen (siehe die Einschätzung der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik) wurde das Bild des Sozialstaats beschworen, der unter der Last einer von der Union in verantwortungsloser Weise begünstigten opportunistischen Wirtschaftsmigration zusammenbricht; und es ist bis heute ein Teil der politischen Debatten.
In der heißen Phase des Brexit-Wahlkampfs 2016 erreichte die britische Regierung ein politisches Zugeständnis der Union, den Zugang von Unionsbürgern, die als „Sozialtouristen“ oder „Armutsmigranten“ galten, zu britischen Familienleistungen zu begrenzen. Durch die knappe Mehrheitsentscheidung des britischen Wahlvolkes pro Brexit wurden allerdings weitere entsprechende politische Initiativen auf Unionsebene hinfällig.
Die Kommission legte kurz nach der Brexit-Abstimmung – wie schon länger geplant und angekündigt – einen Legislativentwurf für die Koordinierungsverordnung vor, der keine Änderungen bei den Familienleistungen enthielt. Obwohl Österreich, Dänemark, Irland und Deutschland – auch unter Berufung auf das Zugeständnis an UK – an der Initiative zur Indexierung der Familienleistungen festhielten und die Kommission aufforderten, entsprechende Legislativvorschläge vorzulegen, lehnte Sozialkommissarin Thyssen dies stets ab.
Österreich reagierte auf die Weigerung der Kommission mit der Ankündigung, dann eben innerstaatlich dafür zu sorgen, dass Kinder im Ausland von Österreich nur das erhalten, was der Wirtschaftsleistung ihres Wohnortes entspricht. Die damalige Familienministerin Karmasin ließ vom Leiter des österreichischen Instituts für Familienforschung (ÖIF) ein Rechtsgutachten anfertigen, das die ÖVP zur Grundlage ihrer weiteren politischen Arbeit in der Frage der Indexierung machte. Das Gutachten stellt einen Zusammenhang zwischen Familienbeihilfe und Unterhaltslasten her, obwohl auch darin steht, dass die Familienbeihilfe als Pauschalleistung nicht unmittelbar mit dem Unterhalt verknüpft ist. Der Gutachter zieht den Schluss, dass innerhalb der Union exportpflichtige Familienleistungen für Kinder mit Unterhaltsansprüchen an in Österreich arbeitende Eltern, die in Staaten mit geringerem Lebensstandard wohnen, geringer bemessen werden müssen. Er versucht dies mit einer aus den Bestimmungen der Koordinierungsverordnung (sehr indirekt) abgeleiteten materiellen Gleichstellungsverpflichtung der Mitgliedstaaten zu begründen. Nach Ansicht des Gutachters kann Österreich diese Maßnahme auch ohne Mitwirkung der Europäischen Union allein auf innerstaatlicher Ebene einführen.
Sehr bald nach der Veröffentlichung wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieses Gutachten ganz grundlegende unionsrechtliche Aspekte vollkommen außer Acht lässt und dass man daher Vorsicht walten lassen sollte, dieses als Grundlage für eine unionsrechtlich relevante Gesetzesinitiative heranzuziehen.
Österreich war nicht der erste Mitgliedstaat, der die Idee verfolgte, Wanderarbeitnehmer/innen für ihre zu Hause gebliebenen Kinder weniger Geld zu geben. Frankreich hatte bei der Einführung der Wanderarbeitnehmer-Verordnung 1408/71 (der unmittelbaren Vorgängerregelung zur geltenden Koordinierungsverordnung) erreicht, dass in die Regeln über die Koordinierung der Familienleistungen eine Ausnahmebestimmung eingefügt wurde. Kinder von Wanderarbeitnehmer/innen, die nicht in Frankreich lebten, wurde eine geringere Leistung gewährt. Der Europäische Gerichtshof, dem Mitte der Achtzigerjahre die Rechtsfrage nach der Zulässigkeit dieser Ausnahme gestellt wurde, prüfte diese anhand des Primärrechts und der Grundfreiheiten, vor allem der Freizügigkeit. Wenig überraschend kam der EuGH zum Ergebnis, dass die Ungleichbehandlung bei Leistungen allein abhängig vom Aufenthaltsort der Kinder von Wanderarbeitnehmer/innen mit dem Primärrecht unvereinbar ist. Weder Unionsrecht noch innerstaatliche Gesetze dürfen dazu führen, dass ungerechtfertigt zwischen Mitgliedstaaten differenziert wird. Der EuGH hat dies in seine ständige Rechtsprechung übernommen. Im ÖVP-Gutachten (auf das sich auch die erläuternden Bemerkungen des aktuellen Gesetzesentwurfs beziehen) fehlt ein Verweis auf dieses konkrete Urteil und auf die darauf zurückgehenden Rechtssatzketten des EuGH. Die offensichtlichen unionsrechtlichen und argumentativen Lücken des Gutachtens machen es zu einer eher wackligen Grundlage für ein Gesetz, das unionsrechtliche Voraussetzungen zu umschiffen versucht.
Nationales Recht ist nicht nur verfassungskonform, sondern dort, wo der Geltungsbereich von Unionsrecht betroffen ist, vor allem unionsrechtskonform auszulegen (was auch der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs entspricht). Durch das Außerachtlassen der klaren Diskriminierungsverbote im Primärrecht und in der (innerstaatlich unmittelbar anwendbaren) Koordinierungsverordnung und durch das Ignorieren der ständigen Rechtsprechung des EuGH begibt sich die Regierung juristisch gesehen auf dünnes Eis.
Was könnte geschehen? Betroffene Eltern könnten (und werden hoffentlich) die Gerichte anrufen und die Verletzung von Unionsrecht geltend machen. Der österreichische Verfassungsgerichtshof urteilt in ständiger Rechtsprechung, dass die Missachtung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht als Gesetzlosigkeit anzusehen ist – Bescheide auf der Grundlage des unionsrechtswidrigen Gesetzes verlieren ihre Rechtsgrundlage, die Rechtskraft sowie damit verbunden die Verbindlichkeit und müssen aufgehoben werden. Die Konsequenz wäre, dass Auszahlungen ins Ausland nachträglich wieder revidiert und an das einheimische Kaufkraftniveau angepasst werden müssen.
Die Regierung Kurz schafft mit Erfüllung eines zentralen Wahlkampfversprechens ein bürokratisches Monster, dem ein kurzes Leben und ein umständlicher Tod bevorstehen – Politik in populistischen Zeiten eben.