Der wirtschaftlichen Erholung in Europa eine Chance geben

26. November 2015

Der neue unabhängige Jahreswachstumsbericht verdeutlicht, dass die anhaltende wirtschaftliche Erholung in der Eurozone zu schwach ist um annähernd Vollbeschäftigung zu erreichen. Die Krise bleibt mit ihren Risiken für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung und den Sozialstaaten nach wie vor aktuell. Die Eurozone bleibt auch hinter der Entwicklung in anderen wohlhabenden Volkswirtschaften zurück. Ohne wirtschaftspolitischem Kurswechsel steht eine Phase der Stagnation geprägt von deflationären Tendenzen bevor. Was wir daher jetzt brauchen ist aktive Nachfragesteuerung, eine Eindämmung der finanziellen Fragmentierung, Politiken gegen die zunehmend ungleiche Verteilung und öffentliche Investitionen etwa zum ökologischen Umbau der Ökonomie.

Auch wenn sich die Wirtschaft der Eurozone „erholt“, die große Rezession ist noch nicht vorbei. Das Wort Erholung ist deshalb irreführend, weil es eine Rückkehr zu einem Normalzustand suggeriert. Dafür notwendig wäre jedoch ein starker und stetiger Aufschwung, der die – vor allem durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit – verursachten Schäden beseitigt und die Gefahr einer sogenannten sekularen Stagnation mit Deflationstendenz vermeidet. Selbst wenn die hohe Arbeitslosigkeit abgebaut würde, wäre sonst der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen weiter steigend. Ein soziales Desaster mit verstärkter unfreiwilliger Teilzeitarbeit und einem Anstieg der „working poor“ wäre die Folge.

Wie bereits im letztjährigen unabhängigen Jahreswachstumsbericht festgehalten braucht es zwar Fiskaldisziplin für das Vertrauen in die Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte, doch darf das nicht dazu führen, dass die notwendige Nachfragestimulierung unterlassen wird. Ein Beispiel für nachhaltig sinnvolle Maßnahmen sind Investitionen in den ökologischen Umbau der Ökonomie. Wenn neue Schulden für Sachvermögen mit langfristig allgemeinem Nutzen aufgenommen werden, steht das nicht im Widerspruch zur Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen. Aktuelle Instrumente wie der Juncker-Plan gehen in diese Richtung, bleiben aber unzureichend um einer möglichen Stagnation vorzubeugen und den ökologischen Umbau konsequent voranzutreiben.

Die aktuelle Erholung wird vor allem von der expansiven Geldpolitik, der Euro-Abwertung und einem Aussetzen der zuvor massiven Budgetkonsolidierung getragen. Externe Faktoren wie der sinkende Ölpreis wirken unterstützend. Dämpfend wirkt hingegen die aktuelle Wachstumsschwäche in den Schwellenländern, die unter anderem mit dem Rückgang der Rohstoffpreise zusammenhängt. Negative Finanzmarktereignisse und die Verschiebung von Investitionsprojekten (zB Juncker-Plan) stellen ebenso eine Gefahr für den positiveren Ausblick dar wie die geopolitischen Spannungen.

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Hauptproblem Arbeitslosigkeit

Nachdem der Aufschwung schwach bleibt, ist auch die Geschwindigkeit mit der sich die Arbeitslosigkeit reduziert besorgniserregend langsam. Ohne Beschleunigung wird es bis 2022 dauern, bis die Arbeitslosenquote wieder den Stand vor der Krise erreicht. Langzeitunterbeschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit steigen ebenso wie die unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung und die Zahl der Menschen, die zwar arbeiten wollen, aber mangels Erfolgshoffnung die aktive Suche nach einem Job bereits aufgegeben haben (und damit aus der EU-Arbeitslosenstatistik fallen).

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Quelle: iAGS 2016. *in Prozent aller Erwerbspersonen inkl. nicht mehr aktiv nach Arbeit suchende Arbeitswillige © A&W Blog
Quelle: iAGS 2016. *in Prozent aller Erwerbspersonen inkl. nicht mehr aktiv nach Arbeit suchende Arbeitswillige

Während die Arbeitslosigkeit wieder sinkt, blieb die Unterbeschäftigung konstant. Diese Entwicklung deutet auf eine Dualisierung des Arbeitsmarktes hin, wobei die Grenze zwischen Insidern und Outsidern nicht vom Arbeitsvertrag, sondern von Qualifikation, Alter und Geschlecht abhängen.

Die Armut steigt in der Eurozone weiter, auch die verfestigte Armut. In den Ländern mit dem stärksten Anstieg ist dieser in Familien mit Kindern besonders hoch, sodass die Jüngsten am stärksten betroffen sind. Eines von sechs Kindern von AlleinerzieherInnen ist mittlerweile von verfestigter Armut betroffen – dies entspricht einem doppelt so hohen Anteil gegenüber Kindern insgesamt. Diese Chancenungleichheit im Kindesalter bleibt nicht ohne Langzeitfolgen, sowohl für die Kinder selbst als auch für die Gesellschaft insgesamt.

Budgetpolitik und Lohnerhöhungen als Schlüssel für geringere Arbeitslosigkeit

2015 und 2016 ist die budgetpolitische Ausrichtung der Eurozone insgesamt neutral bis minimal expansiv. Sollten die Mitgliedstaaten ihre im Frühjahr gemeldeten Budgetpfade wie geplant umsetzen, startet 2017 erneut eine Konsolidierungswelle. Ein etwas anderes Bild ergibt sich jedoch im kommenden Jahr, wenn man die Gesamtwirkung der Budgetpolitik nach Einnahmen- und Ausgabenseite getrennt betrachtet. Geht man von der in der Forschung kaum mehr bestrittenen stärkeren Auswirkung von Einsparungen im Vergleich zu steuerlichen Maßnahmen aus und betrachtet die regionale Verteilung, so ergibt sich eine minimal kontraktive Gesamtwirkung (0,1 % des BIP). Zurückzuführen ist sie auf anhaltende Ausgabenkürzungen bei gleichzeitiger Überkompensation durch Steuersenkungen vor allem in Italien und ferner Spanien.

Dieses Ergebnis führt zur Frage nach den Spielräumen der Budgetpolitik insbesondere vor dem Hintergrund der europäischen Fiskalregeln. Länder, die die Fiskalregeln bereits erfüllen, könnten und sollten aus gesamteuropäischer Perspektive einen Konjunkturimpuls setzen, gerade auch aufgrund der davon ausgehenden positiven Effekte auf andere Länder der Eurozone. Eine Analyse der Budgetlage in den einzelnen Mitgliedstaaten zeigt jedoch, dass im Wesentlichen nur Deutschland klaren Spielraum in Hinblick auf die europäischen Fiskalregeln aufweist.

Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit sowie der darüber hinaus gehenden Unterbeschäftigung ist die Budgetpolitik jedenfalls zu wenig expansiv. Eine koordinierte Erhöhung der öffentlichen Investitionen mit einer Ausrichtung auf die EU 2020 Ziele wäre ein angemessene Änderung in Richtung einer ausgewogeneren Wirtschaftspolitik. Mit der Einführung der goldenen Investitionsregel auf europäischer Ebene, wofür Achim Truger einen konkreten Vorschlag unterbreitet hat, kann eine solche Neuausrichtung in Einklang mit den europäischen Fiskalregeln gebracht werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin bestehen. Nur in jenen Staaten, die vor der Krise Leistungsbilanzdefizite aufwiesen, fand eine Anpassung statt, während die Länder mit hohen Überschüssen diese sogar noch weiter ausgebaut haben. Dieser Prozess belastet die Nachfrageentwicklung in der gesamten Eurozone. Um diese Ungleichgewichte abzubauen, muss die Anpassung prioritär in den Überschussländern erfolgen. Deutliche budgetpolitische Impulse bzw. Lohnsteigerungen in diesen Ländern würden helfen die notwendige Importsteigerungen zustande zu bringen um die Ungleichgewichte abzubauen, auch über die positiven Effekte auf die Exporte, Wachstum und Beschäftigung der (ehemaligen) Defizitländer.

Leistungsbilanzüberschüsse sind keine Entscheidungen, die autonom in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffen werden sollten. Im Gegenteil sollten sie angesichts der starken Vernetzung der Mitgliedstaaten der Eurozone als Frage von gemeinsamem Interesse begriffen werden. Eine Aufwertung des Euro als Folge eines weiterhin exzessiven Leistungsbilanzüberschusses der Eurozone insgesamt und einer Normalisierung der Geldpolitik würde – unabhängig von der einzelstaatlichen Leistungsbilanzposition – die Exportnachfrage aller Eurostaaten treffen. Damit würden aber auch die Leistungsbilanzdefizite innerhalb der Eurozone zurückkehren. Der Effekt dieses Wirkungskanals wäre stark, sodass die Verantwortung der Eurostaaten mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen für die Gesamtentwicklung – also insbesondere Deutschland – größer als jemals zuvor ist.

Schlussfolgerungen

Die Geldpolitik öffnete 2012 ein Zeitfenster, das bisher kaum genutzt wurde. Ein aktives Nachfragemanagement mit dem Ziel des Abbaus des Leistungsbilanzüberschusses kombiniert mit einem Abbau der internen Ungleichgewichte ist notwendig um einen problematischen neuen „Normalzustand“ geprägt von einer Stagnationstendenz zu verhindern. Der Juncker-Plan hat die angepeilten Investitionssteigerungen bislang nicht ausgelöst. Die internen Anpassungsprozesse in der Eurozone heizen den Deflationsdruck weiter an, sollten sie nicht von stärkeren Lohnsteigerungen in Überschussländern unterstützt werden. Ungenützte budgetpolitische Spielräume in manchen Volkswirtschaften wirken weiterhin dämpfend auf die Gesamtnachfrage.

In dieser Situation sollten wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Reduktion der Ungleichheit gesetzt werden. Die anhaltende Fragmentierung des Euro-Kapitalmarktes sollte eingedämmt werden, sodass die zwischenstaatlichen Zinsunterschiede weiter reduziert werden. Öffentliche Investitionen und die Nutzung weiterer Hebel zur Förderung des ökologischen Umbaus der Ökonomie sind für sich sinnvoll und können darüber hinaus die Nachfrage anregen ohne in Konflikt mit der Stabilität der öffentlichen Finanzen zu geraten.

Dieser Beitrag basiert auf der Zusammenfassung des unabhängigen Jahreswachstumsberichts, der eine Alternative zum – die wirtschaftspolitischen Prioritäten für das nächste Jahr enthaltendem – Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission darstellt. Übersetzt und überarbeitet wurde der Beitrag von Georg Feigl.