Seit 2009 erlebt Europa eine Abfolge von Krisen, von der Finanzmarktkrise bis hin zu den aktuellen Kriegshandlungen in der Ukraine. Auf EU-Ebene wird mit verschiedenen Maßnahmen reagiert, um weitere wirtschaftliche Eskalationen zu verhindern. Die globalen architektonischen Verschiebungen, die Krise der Demokratie, das Auseinanderklaffen des gesellschaftlichen Wohlstands sowie der Klimawandel fordern jedoch eine grundsätzliche Neuaufstellung der europäischen Wirtschaftspolitik.
Wirtschaftliche Entwicklung geprägt von Krisen
Wenngleich die EU im weltweiten Vergleich relativ wohlhabend ist, sind die Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten und Regionen ein großes Problem. Auch die Gefahren aufgrund der drohenden Klimakatastrophe sind schon lange evident. Mit Anfang 2020 führte die Coronakrise dann zu einem deutlichen Wirtschaftseinbruch. Ende 2021 kam es zwar zu einer Erholung, doch der damals positive Ausblick wurde mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine und der folgenden geopolitischen Spannungen erneut getrübt. Vor allem energiepolitische Schwachstellen der EU, wie zum Beispiel der ungenügende Ausbau erneuerbarer Energieformen, rächten sich nun, sodass es zu einem dramatischen Anstieg der Energiepreise kam.
Dies trug wesentlich zu einer derartigen Inflationserhöhung bei, die Europa zuletzt in den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte. Im Euroraum hält die Inflation bei über zehn Prozent und in Österreich bei 11 Prozent. In den osteuropäischen Mitgliedstaaten ist die Lage noch dramatischer, Rumänien weist fast 16 Prozent, Bulgarien rund 18 Prozent auf. Jede Krise verschärft aber auch die großen wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten. Die aktuellen Preissprünge belasten nicht nur besonders vulnerable Gruppen, sondern auch immer mehr Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Auch weitere wichtige Ziele, die etwa in Artikel 3 EUV verankert sind, nämlich politische Stabilität, Aufwärtskonvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der EU – geraten unter Druck. Vor diesem Hintergrund wurde im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) eine ergänzende Stellungnahme zum Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 verfasst, welche die Grundlage für den vorliegenden Artikel darstellt.
Wirtschaftspolitik der EU in Krisenzeiten
Die aktuelle Wirtschaftspolitik der EU ist stark darauf ausgerichtet, weitere Eskalationen zu verhindern, während man versucht in Richtung des grünen und digitalen Übergangs zu steuern. Zum Beispiel hat die EU-Kommission einen Krisenfahrplan vorgelegt, um die Abhängigkeit Europas von fossiler Energie und strategisch wichtigen Produkten so rasch wie möglich zu vermindern und Lieferketten zurückzuholen: REPowerEU, die Dringlichkeitsverordnung sowie das Binnenmarkt-Notfallinstrument. Mit dem Herzstück von Next Generation EU, dem Finanzierungsinstrument „Aufbau- und Resilienzfazilität“, trat die EU in eine neue Phase der Wirtschaftspolitik ein: Es sieht zusätzlich zum mehrjährigen Finanzrahmen Finanzmittel von rund 800 Milliarden Euro vor, die über gemeinsame Schuldtitel der EU finanziert werden. Die 27 Mitgliedstaaten müssen in ihren Aufbauplänen darlegen, wie sie diese Mittel für die grüne und digitale Transformation einsetzen wollen. Insgesamt sollen in den nächsten zehn Jahren mindestens 1 Billion EUR über den EU-Haushalt und die damit verbundenen Instrumente aufgebracht werden. Eine zentrale Koordinierungsrolle kommt dabei dem Europäischen Semester zu.
Grüner Übergang im Zeichen geopolitischer Spannungen
Im REPowerEU-Plan ist vorgesehen, die im Green Deal festgehaltenen Ziele zu beschleunigen, und bis 2030 den Zielwert für erneuerbare Energien auf mindestens 45 % des Gesamtenergiemixes der EU anzuheben und zur Erreichung des Energieeffizienzziels den Energieverbrauch um 13 % zu senken. Um bis 2030 das Green Deal-Ziel einer Senkung der Emissionen um 55 % gegenüber 1990 zu erreichen, wird der jährliche zusätzliche Investitionsbedarf auf bis zu 520 Mrd. Euro geschätzt. 30 % des EU-Haushalts werden im Zeitraum 2021–2027 für den grünen Wandel ausgegeben. Die Kohäsionspolitik soll in diesem Jahrzehnt rund 100 Mrd. Euro, die Aufbau- und Resilienzfazilität 224,1 Mrd. Euro beisteuern. Dass hier eine erhebliche Lücke klafft, ist offensichtlich. Daher braucht es laut EWSA einen strukturierten Überblick, welche EU-Mittel verwendet und in welchem Umfang Investitionen durch EU-Programme, Mitgliedstaaten oder private oder gemischte Finanzierungsinstrumente abgedeckt werden sollten. Außerdem soll die Subventionierung von Investitionen, die ohnehin getätigt worden wären, vermieden werden. Staatliche Beihilfen sollen an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Wahrung der Arbeitnehmer:innenrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden. Ebenso fehlt bis dato eine Bestandsaufnahme und Analyse der Auswirkungen des Übergangs auf die Beschäftigung, sowohl auf europäischer als auch auf österreichischer Ebene.
Strategische Autonomie
Kommissionspräsidentin von der Leyen verwies zu Recht darauf, dass der Strommarkt in seiner derzeitigen Form nicht mehr funktioniert und reformiert werden muss. Tatsächlich gibt es auch aus Arbeitnehmer:innensicht viele Ansatzpunkte für Verbesserungen, wie zum Beispiel den Merit-Order-Effekt, die EU-Energiebörse (EEX), den Missbrauch von Marktmacht und die Auswirkungen spekulativer Transaktionen und des Hochfrequenzhandels. Die Strompreise sollten von den Gaspreisen abgekoppelt und Preisobergrenzen berücksichtigt werden. Zufallsgewinne sollten durch Abgaben effektiv abgeschöpft werden. ÖGB und AK haben hierzu bereits ein Konzept vorgelegt. Die österreichische Bundesregierung bleibt bei der Umsetzung deutlich unter ihren Möglichkeiten.
Ein weiteres aktuelles Thema ist die Erlangung einer strategischen Autonomie der EU vor allem auch im Energiebereich. Aber auch die Herstellung wichtiger Erzeugnisse, wie Arzneimittel, soll in die EU zurückverlagert werden. Insgesamt ist bei der Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Gütern stets ein kritischer Blick auf die Bezugsquellen zu werfen, etwa was die Wahrung von Menschenrechten betrifft. Das heißt auch, den internationalen Handel auf faire Weise zu gestalten, ohne ökologische und soziale Ziele entlang der Lieferketten zu vernachlässigen.
Soziale Nachhaltigkeit zu wenig im Zentrum der Politik
Soziale Nachhaltigkeit ist kein Selbstzweck, sondern auch eine Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Stabilität. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Schaffung europäischer automatischer Stabilisatoren: Das Europäische Instrument zur vorübergehenden Unterstützung zur Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE) soll Beschäftigte im Arbeitsmarkt halten. Nach wie vor fehlen aber europäische Mindeststandards für die Ausstattung nationaler Arbeitslosenversicherungen sowie eine europäische Arbeitslosen(rück)versicherung, um ein unterstes Sicherheitsnetz für die EU-Bürger*innen zu schaffen, die in Notlage geraten sind. Ein weiteres Projekt muss die vollständige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte sein. Dies alles setzt voraus, dass der europäische Binnenmarkt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen Freiheiten und den Sozial- und Arbeitsrechten bietet. Nationale Arbeitnehmerschutzrechte sollten niemals als administrative Markthindernisse angesehen werden. Ein soziales Fortschrittsprotokoll ist deshalb nach wie vor auf der gewerkschaftlichen Agenda.
Modernisierung der wirtschaftspolitischen Steuerung längst überfällig
Die Verlängerung der allgemeinen Ausweichklausel bis 2023 war ein notwendiger Schritt, um die wirtschaftliche Stabilität angesichts der multiplen Krise aufrecht zu erhalten und eine Nachdenkpause für eine nachhaltige Modernisierung des haushaltspolitischen Rahmens vorzunehmen. Insgesamt werden die alten Paradigmen der EU-Fiskalpolitik immer mehr von der Realität gesprengt.
Für die Zukunft bedarf es der Festlegung realistischer und operativer Defizit- und Verschuldungsziele, der Aufnahme einer goldenen Haushaltsregel für Investitionen und die Ermöglichung von mehr Flexibilität und länderspezifischer Differenzierung. Aber auch im Zusammenhang mit den laufenden Ausgaben müssen die sozialen Auswirkungen berücksichtigt werden, insbesondere soll es zu keinen Kürzungen der Sozial-, Gesundheits- und Bildungsausgaben kommen. Die Debatte im Rat wird von Kontroversen begleitet, während das Europäische Parlament eine tiefgreifende Reform des fiskalpolitischen Rahmes fordert, vorzugsweise unter Deaktivierung der allgemeinen Ausweichklausel.
Kein “Weiter wie bisher“
Die Umgestaltung der europäischen Wirtschaft wird nur gelingen, wenn sie auf gerechte und inklusive Art erfolgt. Restriktive Fiskalregeln, der Vorrang der Marktfreiheiten vor sozialen Grundrechten und eine einseitige Wettbewerbsorientierung erweisen sich auch ohne Krisen als Sackgasse. Vielmehr tragen sie zum Entstehen von Krisen bei und können bei exogenen Schocks zu weiteren Eskalationen führen. Demgegenüber muss die soziale Dimension sowohl bei der grundlegenden Ausrichtung als auch bei einzelnen Maßnahmen eine deutlich prominentere Rolle einnahmen. Sozialer Dialog, Mitbestimmung der Beschäftigten und Teilhabe der Sozialpartner an der Politikgestaltung sind wichtiger Teil einer demokratischen Entscheidungsfindung und bilden die Grundlage für eine sozial nachhaltige Wirtschaftspolitik.