Und sie bewegen sich doch! „Industrielle Ökosysteme“ im Wandel gestalten

10. März 2023

In letzter Zeit liest man den Begriff der „industriellen Ökosysteme“ in offiziellen Dokumenten der Europäischen Union immer häufiger. Dahinter steckt weder eine naturromantische Verklärung ökonomischer Prozesse noch eine technokratisch-ökonomische Betrachtung der Natur. Im Gegenteil soll das Konzept der „industriellen Ökosysteme“ ein Analyseinstrument für eine multiperspektivische Gestaltung des sozialen, digitalen und ökologischen Umbaus der Gesellschaft darstellen. Die Frage, die im Raum steht: Kann das Instrument seinem Anspruch gerecht werden?

Systemisch denken will gelernt sein

Wir leben in komplexen Zusammenhängen, die sich wechselseitig verstärken, bremsen oder anstoßen können. Das wusste schon der „Club of Rome“ und argumentierte für eine neue Form des Denkens in Systemen und Netzwerken. Dabei ist uns das Denken in Systemen im Alltag fremd. Wir sehen die Wirklichkeit durch unsere Brille des subjektiven räumlichen und zeitlichen Standpunkts. Es braucht daher einiges an Anstrengung, um die oftmals sehr komplexen Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte in einem System zu erkennen, zu analysieren und schlussendlich zu verstehen. Gelingt es, einen solchen Blick auf Entwicklungen und Phänomene einzunehmen, eröffnen sich gänzlich neue Perspektiven, Strategien und Handlungsmöglichkeiten, um das System zu gestalten.

Wirtschaft als System

Immer wieder sprechen wir von „der Wirtschaft“, meinen aber verkürzt oft nur einzelne Unternehmen. „Die Wirtschaft braucht …“, „die Wirtschaft wünscht sich …“, sind nur einige der Phrasen, die wir aus Politik und Medien kennen und die eigentlich nichts anderes meinen als Einzelinteressen von Unternehmen. Die Wirtschaft ist aber mehr als eine Ansammlung von Unternehmensinteressen. Arbeitnehmer:innen, Konsument:innen, Staat, Verbände und Vereine, Non-Profit-Organisationen: sie alle sind „die Wirtschaft“ und bilden mit ihren wirtschaftlichen Verflechtungen ein System, welches in die Gesellschaft als Ganzes eingebettet ist. Das wusste schon Karl Polanyi.

Nun haben dynamische Systeme aber die Eigenschaft, dass sie sich über den Verlauf der Zeit auch verändern. Interne oder externe Dynamiken erzeugen Druck, Veränderung und Anpassung. Systemisch wirkt der sogenannte Seneca-Effekt. Ein Effekt, der beschreibt, wie ganze Systeme rasch in sich zusammenfallen, wenn bestimmte Kipppunkte erst einmal überschritten werden und es in der Folge zu einer fundamentalen Transformation des Bestehenden kommt. Und eines gilt als sicher: dass die Klimakrise und der Verlust natürlicher Systeme große strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft hervorrufen werden. Doch stehen wir dieser Veränderung nicht machtlos gegenüber, sondern können sie aktiv gestalten. Dazu müssen wir systemisch Denken und auch wirtschaftliche Zusammenhänge und Dynamiken entsprechend betrachten.

Sektor, Zweig & Branche oder doch Ökosystem?

In den Diskussionen rund um unser Wirtschaftssystem verwenden wir eine Nomenklatur, welche die Strukturen der Wirtschaft statisch abbilden soll. Wir sprechen von den Wirtschaftssektoren (Primärsektor/Urproduktion, Sekundärsektor/industrielle Produktion und Tertiärsektor/Dienstleistungen). Fächert man feiner auf, erhält man eine Untergliederung der Sektoren nach Wirtschaftszweigen oder Branchen. Sie fassen alle Unternehmen nach dem Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zusammen. Statistisch erfassen wir so Unternehmen anhand von NACE-Codes. Im gängigen Sprachgebrauch sprechen wir auch oft von Branchen, also Unternehmen, welche ähnliche Produkte und Dienstleistungen herstellen, z. B. Automobil-, Pharma- oder Elektronikbranche. Beide Zuordnungsvarianten, sei es nach Sektoren oder Branchen, helfen die Komplexität zu reduzieren und erlauben eine übersichtliche Einordnung. So werden Kollektivvertragsverhandlungen nicht ohne Grund auf Branchenebene, also für die Beschäftigten in Unternehmen mit ähnlicher Produktion, durchgeführt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Ganz im Gegensatz dazu steht der Ansatz der „industriellen Ökosysteme“. Sie umfassen in ihrer Betrachtung alle Akteure, die in einer Wertschöpfungskette tätig sind und zur Erstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung einen Beitrag leisten. Die Betrachtung reicht dabei vom kleinsten Start-up über die größten Industrieunternehmen und den öffentlichen Sektor, Wissenschaft und Forschungsdienstleister bis hin zu den Zulieferbetrieben (siehe Grafik). Im Vordergrund der Betrachtung steht das Endprodukt und nicht die ökonomische oder statistische Zuordnung ähnlicher Tätigkeiten. Mit einem solchen Ansatz soll auch die Komplexität von Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Sektoren, Unternehmen und die internationale Dimension der Wertschöpfung besser abgebildet werden. Darüber hinaus soll der Ansatz industrieller Ökosysteme die Besonderheiten von Geschäftsmodellen, den Anteil „schwacher“ Akteure (z. B. Kleinstunternehmen, KMUs) an der Wertschöpfung sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten deutlicher machen.

Das Analyseinstrument der industriellen Ökosysteme in der Praxis

Durch den Betrachtungswechsel hin zur Perspektive des Produkts oder der Dienstleistung und die Einbeziehung der vielfältigen Verflechtungen zu ihrer Herstellung steigt zwangsläufig die Komplexität. Der Ökosystemansatz ist auch keine feste Nomenklatur oder gar eine rechtliche Definition. Dennoch nimmt die Relevanz dieser Perspektive zu. Gerade die Pandemie und die darauffolgende Energiekrise haben gezeigt, dass ein alternativer Blickwinkel in der Krise notwendig ist, welcher besser dazu geeignet ist (systemische) Risiken und Resilienz sowie unterschiedliche Dynamiken zu erfassen. Darüber hinaus muss auch die Vielfalt von Akteur:innen in die Betrachtung und Analyse einbezogen werden. Die Erfahrungen aus der Pandemie haben schließlich gezeigt, dass, wenn Teile eines industriellen Ökosystems in einer Region oder einem Land gestört sind, das gesamte Ökosystem rasch davon betroffen ist. Schlussendlich werden in der Wertschöpfung unterschiedlichste Forschungs-, Entwicklungs-, Produktions-, Montage- und Dienstleistungstätigkeiten, oft auch länderübergreifend, integriert und das Einzelne ist nur die Summe seiner Teile. Konzeptionell sind industrielle Ökosysteme daher durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  1. Sie werden als Produktions-(Netzwerke) und nicht nur als Wertschöpfungsketten verstanden und bilden die komplexen Verflechtungen zwischen Unternehmen, Sektoren und Institutionen in ihrem Zusammenspiel ab.
  2. Sie umfassen sowohl private als auch öffentliche Aktivitäten. Öffentliche Träger sowie Bildungs- und Forschungszentren sind Schlüsselakteure in ihrer Interaktion mit Unternehmen.
  3. Sie entwickeln sich ständig weiter. Druck, Anpassung, Innovation und Exnovation sowie sich verändernde Dynamiken verändern auch laufend die Verflechtungen und Beziehungen. Ökosysteme sind daher keine festen Beobachtungseinheiten, sondern sie bieten nur einen anderen Blickwinkel auf die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen.

Der Ansatz der industriellen Ökosysteme und die Europäische Union

Die Europäische Kommission versucht im Nachgang der Pandemie und mit Vorausschau auf den großen Strukturwandel zur Erreichung der Klimaneutralität mittels des Ansatzes der industriellen Ökosysteme eine analytische Grundlage für die Stimulierung von Erholungsprozessen, die Identifikation von Risiken und die Gestaltung des Strukturwandels zu schaffen. In breit aufgesetzten partizipativen Prozessen („Transition Pathways“) und unter Einbindung aller relevanten Akteur:innen sollen für Europas wichtigste industrielle Ökosysteme Aktionspläne entwickelt werden. Sie sollen als Blaupausen für die Gestaltung des Strukturwandels dienen, die dafür notwendigen Maßnahmen dezentral anleiten und auch koordinierend wirken.

Insgesamt wurden von der Europäische Kommission 14 industrielle Ökosysteme mit einem ausgeprägten paneuropäischen Charakter ermittelt. Sie zeigen sich als sehr unterschiedlich in Bezug auf ihre sektorale Zusammensetzung, Größe und Reichweite. Gemeinsam ist ihnen eine große Bedeutung für die europäische Wirtschaft. Die Kommission will insbesondere in den Analysen den Fokus auf die Schnittstellen und Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Politikfeldern in der Gestaltung des Wandels legen und daraus konkrete Handlungsbedarfe ableiten. Ziel der Kommission ist darüber hinaus, die Interaktion zwischen den Akteur:innen zu fördern und die wichtigsten politischen Entscheidungsträger:innen und Investor:innen dabei zu unterstützen, nationale und regionale Übergangspfade zur Klimaneutralität zu entwickeln.

Beispiel: Industrielles Ökosystem „Tourismus“

Eines der ersten Empfehlungsdokumente der Europäischen Kommission zur Entwicklung von Übergangspfaden ist jener des industriellen Ökosystems „Tourismus“. Die Kommission beschreibt das industrielle Ökosystem Tourismus folgendermaßen:

„Das gesamte Ökosystem ,Tourismusʻ umfasst Unternehmen, die in verschiedenen Sektoren tätig sind, darunter Gastronomiebetriebe, Anbieter von Online-Informationen und -Dienstleistungen (Fremdenverkehrsbüros, digitale Plattformen, Anbieter von Reisetechnologien), Reisebüros und Reiseveranstalter, Anbieter von Unterkünften, Organisationen zur Verwaltung von Reisezielen, Attraktionen und Personenverkehr (z. B. Fluggesellschaften und Flughäfen, Züge und Kreuzfahrten).“

Anhand dieser Beschreibung wird deutlich, wie umfassend ein industrielles Ökosystem von der EU-Kommission gesehen wird. Darüber hinaus gibt die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GROW) im „Annual Single Market Report“ auch eine Definition des Ökosystems anhand der Zusammensetzung des Beitrages der unterschiedlichen Wirtschaftszweige an (NACE-Codes).

Definition des industriellen Ökosystems „Tourismus“

NACE-Code rev. 2WirtschaftszweigBeitrag zum Ökosystem
H49Landverkehr0.45
H50Schifffahrt0.22
H51Luftfahrt0.91
IGastgewerbe, Beherbergung und Gastronomie1
N79Reisebüros, Reiseveranstalter und Erbringung sonstiger Reservierungsdienstleistungen1
N82Erbringung wirtschaftlicher Dienstleistungen für Unternehmen oder Privatpersonen a.n.g.1
R90–R92Kreative, künstlerische und unterhaltende Tätigkeiten, Bibliotheken, Archive, Museen, botanische und zoologische Gärten, Spiel-, Wett- und Lotteriewesen0.66
R93Erbringung von Dienstleistungen des Sports, der Unterhaltung und der Erholung1
Quelle: DG GROW „Annual Single Market Report“

Der Ökosystemansatz in Aktion: „Übergangspfad Tourismus“

Durch den Perspektivenwechsel hin zu einer Ökosystembetrachtung wird die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der handelnden Akteure innerhalb eines industriellen Ökosystems deutlich. Durch die Teilnahme an partizipativen Prozessen wird eine stärkere Identifikation der handelnden Akteure erreicht. Ziel eines solchen Prozesses ist es, gemeinsam Handlungsempfehlungen für die Gestaltung des Ökosystems zu erarbeiten. Sie werden anschließend konsolidiert und in Blaupausen für Aktionspläne gegossen. Diese Blaupausen wiederum sollen den nationalen und regionalen Akteuren Hilfestellung und Anleitung in der Maßnahmenumsetzung insbesondere für die Schnittstellen zwischen Politikfeldern geben.

Für den Übergangspfad des Tourismus hin zur Klimaneutralität wurden Handlungsfelder identifiziert, welche durch konkrete Maßnahmen adressiert werden müssen, zum Beispiel Maßnahmen zur Stärkung des Verkehrsverbunds, zum Lückenschluss der letzten Meile durch Ausbau von Verkehrsangeboten, zur Entwicklung betrieblicher THG-Reduktionspläne durch Mobilitätsdienstleister, zur Attraktivierung des Zugnetzes und des Zugangebots sowie Maßnahmen zur Stärkung der regionalen Kreislaufwirtschaft und des Abfallmanagements, Reduktion von Food Waste, Erhöhung der Sanierungsrate, Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Tourismus, Ausbau der Maßnahmen zur Qualifizierung und Weiterbildung, z. B. über Skills-Partnerships, die Verbesserung der Konsument:inneninformation sowie die Förderung von FTI-Pilotprojekten mit Fokus auf den ländlichen Raum.

Ein neuer Blick auf wirtschaftspolitisches Handeln im sozial-ökologischen Umbau

Bereits aus diesem Auszug der Handlungsempfehlungen wird die Breite der sich daraus ergebenden Maßnahmen deutlich. Es geht nicht mehr rein um eine einseitige monetär getriebene Förderung von Geschäftsmodellen, Technologien oder Ansiedelungen, sondern ganz im Gegenteil um die Weiterentwicklung des Zusammenspiels der unterschiedlichen Akteure in der Erstellung von Produkten und Dienstleistungen, eingebettet in ein Geflecht an ökonomischen Beziehungen.

Das Funktionieren und die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) industrieller Ökosysteme hängt maßgeblich von der Qualität der ökonomischen Beziehungen und der infrastrukturellen Rahmenbedingungen ab. Der öffentliche Sektor und private Unternehmen gehen in einer solchen Betrachtungsweise eine symbiotische Beziehung in der Herstellung von Wertschöpfung und Beschäftigung ein. Regionales Wissen der unterschiedlichen Akteure spielt darüber hinaus eine maßgebliche Rolle in der Entwicklung von Maßnahmen, um mit dem sich bereits abzeichnenden umfassenden Strukturwandel umzugehen. Der Ökosystemansatz argumentiert für eine systemische Perspektive, welche die unterschiedlichen Blickwinkel der Akteure aus den unterschiedlichen beteiligten Branchen berücksichtigt, die Rolle des öffentlichen Sektors ernst nimmt und die Schnittstellen zwischen den Politikfeldern stärker betont.

Es ist klar, dass der Ökosystemansatz aufgrund seiner Flexibilität und Vielfältigkeit die bisherigen statistischen Analysekonzepte nicht ersetzen kann und soll. Jedoch leistet er etwas gänzlich anderes, was gerade in den Zeiten des Umbruchs und des Wandels von großer Bedeutung ist. Er liefert einen Blickwinkel, der zur politischen Beteiligung und zur Diskussion von Maßnahmen einlädt. Ein Rahmengerüst und eine konzeptionelle Vorgehensweise, die breite Beteiligungsprozesse zur Gestaltung des Übergangs zur Klimaneutralität fördert und durch das Zusammenführen der unterschiedlichen Perspektiven Potenzial für die Entwicklung von innovativen Lösungen hat.

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