Im Vereinigten Königreich und auf dem europäischen Kontinent wird oft argumentiert, dass der Brexit-Prozess schon so weit fortgeschritten ist, dass er unumkehrbar sei. Diese Rechtsmeinung beruft sich auf Art. 50 EUV (Vertrag über die Europäische Union) und Art. 318 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU). Es ist allerdings durchaus berechtigt, diese Interpretation zu hinterfragen:
Benötigt die britische Regierung tatsächlich die einstimmige Zustimmung des Europäischen Rates, um den Antrag auf Austritt aus der EU zurückzuziehen?
Was bisher geschah
Einer der Autoren dieses Artikels (John Weeks) unterstützte noch vor knapp einem Monat diese Auslegung. Hingegen bietet die Stellungnahme des DGB eine alternative Rechtsauffassung für eine mögliche Umkehr des Brexit-Prozesses.
Die Vorstellung der Unumkehrbarkeit eines Brexits begründet sich in den historisch beispiellosen Ereignissen der letzten zwei Jahre. Regierungen und/oder Wähler/-innen in verschiedenen Mitgliedstaaten haben die Reform der EU-Verträge, Initiativen für eine stärkere Kooperation und/oder den Beitritt zur Eurozone abgelehnt. Allerdings ist die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft im Rahmen eines Referendums und der Antrag auf Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 50 EUV einzigartig in der Geschichte der EU.
Seit Anfang 2016 hat die konservative britische Regierung drei anscheinend definitive Schritte unternommen, um den Austritt vorzubereiten: erstens die Planung eines Referendums, bei dem sich die Wähler/-innen knapp gegen eine weitere EU-Mitgliedschaft entschieden; zweitens die Bestätigung des Austrittsantrages durch das britische Parlament; drittens der Abschluss eines Übereinkommens in der ersten Verhandlungsphase zwischen dem Chefverhandler der EU-Kommission, Michel Barnier, und der britischen Regierung.
Auf Basis dieser Fakten wird die Meinung vertreten, dass seitens der Europäischen Union wenig Verständnis für eine Rückkehr zum Status quo vor dem Referendum zu erwarten wäre. Auch die Labour-Oppositionspartei geht davon aus. Mit ein Grund dafür ist, dass britische Regierungen in der Vergangenheit immer wieder Sonderregelungen gegenüber der EU ausverhandelten („Opt-outs“), die andere Mitgliedstaaten nicht in Anspruch nehmen konnten.
Umkehr, wenn sie gewollt wird …
Jedoch: Vertreter/-innen der EU-Kommission und Regierungen der Mitgliedstaaten könnten möglicherweise eine Kehrtwende im Brexit-Verfahren akzeptieren. Darauf deuten die Äußerungen von Ratspräsident Tusk vom 16. Jänner 2018 vor dem EU-Parlament in Straßburg hin: „Unsere Herzen sind immer noch offen für sie.“ Bestärkt wurde er durch EU-Kommissionspräsident Juncker: „Ich hätte nicht gerne, wenn dies in London überhört wird.“
Allerdings bleibt die Frage, zu welchen Bedingungen die Offenheit gegeben ist – mit oder ohne Sondervereinbarungen (Britenrabatt, keine Mitgliedschaft in der Eurozone). Anders gesagt: Ob der Rückzug des Austrittsantrages einen Neueintritt erforderlich macht oder die Mitgliedschaft mit den bisherigen Konditionen wieder auflebt bzw. beibehalten bleibt. Könnte der Status quo nicht erhalten bleiben, wäre eine Trendwende voraussichtlich weder für die regierenden Tories noch für die Labour Partei akzeptabel.
Die Annahme einer Unumkehrbarkeit des Austrittsantrages beruht zwar auf einer vertretbaren Interpretation von Art. 50 AEUV, greift aber zu kurz. Denn Großbritannien und die EU sind nicht nur Vertragsparteien betreffend die Europäische Union, sondern auch anderer völkerrechtlicher Verträge. Dies spielte im Brexit-Verfahren bereits bezüglich der Einhaltung der ILO-Standards und Grundsätze der Einhaltung von Menschenrechten, die nicht originär auf EU-Gesetzgebung zurückzuführen sind, eine Rolle.
Solidargemeinschaft nicht Zwangsgemeinschaft
Der DGB ist sich bewusst, dass es zur Frage, ob eine einseitige Zurückziehung eines Austrittsantrages rechtlich möglich ist oder, ob es dazu vielmehr der Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten bedarf, unterschiedliche Rechtsansichten gibt. Aus Sicht des DGB sprechen allerdings viele überzeugende Argumente dafür, dass eine einseitige Erklärung zulässig ist.
In Bezug auf die Frage der Widerrufsmöglichkeit eines Austrittsantrages spielt die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 eine wichtige Rolle. Sie wurde von 115 Staaten, inklusive aller EU-Mitgliedstaaten, ratifiziert.
Die Wiener Vertragsrechtskonvention (Art. 65–68) bestimmt dazu, dass eine Notifikation der Austrittsabsicht aus einem Vertrag jederzeit widerrufen werden darf, bevor sie rechtskräftig wird. Auch wenn Art. 50 EUV als „lex specialis“ (ein spezielles Gesetz, das dem allgemeinen Gesetz vorgeht) dieser Bestimmung vorgeht, so dient die Wiener Vertragsrechtskonvention doch als Interpretationshilfe, da Art. 50 EUV zu den Bedingungen und Rechtsfolgen eines Widerrufs schweigt. Zudem sieht er auch einen Wiedereintritt vor. Auch das Grundprinzip des Völkergewohnheitsrechts „pacta sunt servanda“ spricht für diese Interpretation.
Als Gegenargument wird vorgebracht, dass der einmal ausgelöste Fristenlauf für die Austrittsverhandlungen nicht willkürlich dadurch aufgehalten werden kann, dass der Austrittsantrag beliebig wieder zurückgezogen und neu eingebracht wird. Als denkbares Beispiel dafür sei Polen genannt: Die Regierung ist derzeit wegen ihrer Änderungen des Gerichtssystems mit einem Vertragsverletzungsverfahren und möglichen EU-Sanktionen konfrontiert. Sie könnte auf die Idee kommen, unter Berufung auf Art. 50 EUV einen Austrittsantrag zu stellen und diesen nach Verhandlungen mit der EU-Kommission wieder zurückziehen. Gegen einen solchen Rechtsmissbrauch stehen allerdings gelindere juristische Mittel zur Verfügung. Der dafür zuständige Europäische Gerichtshof könnte eine wiederholte Anwendung von Art. 50 EUV als einen einzigen Vorgang definieren. Auf diesen wäre dann wieder die zweijährige Periode für den Austritt anzuwenden.
Ansonsten käme man zu dem Ergebnis, dass eine neu gewählte, pro EU-Regierung eines Mitgliedstaates keinerlei Möglichkeit hätte, den Austrittsprozess rückgängig zu machen, selbst wenn sie sich auf einen Parlaments- oder Referendumsentschluss stützt. Diese Situation ist gerade im Hinblick auf das britische Wahlergebnis vom Juni 2017 nicht unwahrscheinlich. Der Mitgliedstaat würde somit aus der EU hinausgezwungen. Er müsste dann ein Jahr bis zum Inkrafttreten des Austritts warten, um dann wieder ein Aufnahmeersuchen stellen zu können. Die Europäische Union sollte jedoch weiterhin eine Solidargemeinschaft bleiben und keine Zwangsgemeinschaft werden.
Ausblick
Aus dem Stillschweigen von Art. 50 EUV zur Frage des einseitigen Rückrufs einer Austrittsnotifikation sollte vielmehr der Schluss gezogen werden, dass im Sinne der allgemeinen Vertragsziele die EU-Bürger/-innen unterstützt werden, die im EU-Raum verbleiben wollen. Wenn die Bürger/-innen eines Noch-Mitgliedstaates also ihre Meinung vor Inkrafttreten des Austritts ändern, sollte ihnen auch schon aus Zweckmäßigkeitserwägungen ein solcher Widerruf gewährt werden. Ein derartiges „Nachdenkrecht“ entspricht auch dem Grundsatz, „favor contractus“, der sich in Art. 68 der Wiener Vertragsrechtskonvention widerspiegelt.
Bei dieser Interpretation ergibt sich, dass für den einseitigen Widerruf kein zweites britisches Referendum erforderlich ist, wiewohl es politisch opportun erscheinen könnte. Der einseitige Widerruf bedeutet aber auch, dass Großbritannien nicht neu beitritt, sondern ein EU-Mitgliedstaat bleibt. Für britische Bürger/-innen ist die Aufgabe klar: Wenn sie eine Regierung wählen, die sich der EU-Mitgliedschaft verpflichtet fühlt, könnte der Brexit wieder rückgängig gemacht werden.