Eine notwendige Agenda für sozialen Fortschritt: Soziale Mindeststandards in der EU ausbauen

23. Februar 2024

Die EU hat eine Vielzahl allgemeiner sozialer Ziele und Prinzipien. Doch in der Praxis nahmen bislang marktliberale Ausrichtungen und restriktive Fiskalregeln oft einen höheren Stellenwert ein. Es gilt jetzt, sich für fortschrittliche soziale Mindeststandards in der EU einzusetzen. Seien es Mindeststandards bei den Systemen der Arbeitslosenversicherung, eine stärkere Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping oder Arbeitnehmer:innenrechte in den Gesundheitsberufen: Die Debatten im Vorfeld der EU-Parlamentswahl sind ein Zeitfenster, Druck in Richtung konkreter Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu machen.

Die Europäische Union: Für Soziales gar nicht zuständig?

Obwohl in den EU-Verträgen mehrere soziale Ziele verankert sind, wie etwa die Ausrichtung auf „soziale Gerechtigkeit“ und „sozialen Fortschritt“ (Art. 3 (3) EUV), nahmen in der Praxis bislang marktliberale Ausrichtungen und restriktive Fiskalregeln oftmals einen höheren Stellenwert ein. Die 2017 beschlossene europäische Säule sozialer Rechte gilt als zentraler Referenzpunkt in der Debatte um die soziale Dimension der EU. Sie enthält wichtige Grundsätze für sozialen Fortschritt, ihre Prinzipien sind aber sehr allgemein formuliert, nicht immer progressiv genug und rechtlich unverbindlich. In den letzten Jahren wurden mehrere neue sozialpolitische EU-Richtlinien beschlossen. Doch mit Blick auf tiefgreifende soziale Problemlagen ist klar: Es muss noch viel getan werden, um die EU effektiv auf Kurs in Richtung eines sozialen Europas zu bringen.

Häufig wird argumentiert, die EU hätte im Bereich der Sozialpolitik kaum Kompetenzen. Doch dieses Argument ist – insbesondere wenn es um Arbeitnehmer:innenrechte geht – deutlich zu kurz gegriffen. Das EU-Vertragswerk eröffnet in Art. 153 AEUV in mehreren Bereichen Handlungsspielräume, um rechtlich verbindliche soziale Mindeststandards in EU-Richtlinien zu verankern. Gut ausgestaltete soziale Mindeststandards können dazu beitragen, Dumping-Wettbewerb und Absenkungswettläufe bei Sozialstandards einzudämmen und EU-weite Ziele zu erreichen. Es gilt jetzt, neue soziale Mindeststandards in der EU mit hohen Schutzniveaus und Nicht-Rückschritts-Klauseln als Teil eines neuen sozialen Aktionsprogramms zu schaffen.

Soziale Mindeststandards in der EU ausbauen

Einer der zentralen Gründe, der für eine Ausweitung sozialer Mindeststandards in der EU spricht, ist es, Dumping-Wettbewerb und Wettläufe nach unten bei Sozialstandards zu verhindern. Sei es, dass sich Unternehmen durch das Umgehen von Arbeits- und Sozialrecht bei grenzüberschreitend eingesetzten Arbeitskräften Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen oder Regierungen glauben, durch das Absenken oder Niedrighalten von Sozialstandards Investoren anlocken zu können – all dem muss entgegengetreten werden. Einzelne Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten allein können hier nicht ausreichend effektiv sein.

Eine weitere zentrale Begründung für die Notwendigkeit ambitionierter sozialer Mindeststandards in der EU besteht darin, dass die Europäische Union derzeit in mehreren Bereichen (teils allgemeine, teils konkrete) soziale Ziele vereinbart hat – aber oftmals keine verbindlichen Maßnahmen, die darauf abzielen, diese Ziele zu erreichen. Gut ausgestaltete soziale Mindeststandards können dazu beitragen, dass einige der sozialen Zielsetzungen der EU nicht lediglich symbolische leere Worte bleiben.

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Im Folgenden stellen wir sieben Bereiche vor, in denen die EU und ihre Mitgliedstaaten von ambitionierten sozialen Mindeststandards – und damit zusammenhängenden sozialen Schutzregeln – profitieren würden.

Arbeitslosenversicherung

Arbeitslosenversicherungssysteme zählen in allen Mitgliedstaaten zu den Kernbestandteilen der Sozialsysteme. Ihre Leistungen – sofern sie angemessen ausgestaltet sind – nutzen nicht nur arbeitslosen Menschen, indem sie das Absenken des Lebensstandards minimieren, sondern stabilisieren auch die Kaufkraft und damit die Gesamtnachfrage und erleichtern die Suche nach einer passenden Arbeitsstelle, was die Produktivität der Wirtschaft stärkt. In mehreren Mitgliedstaaten füllen Arbeitslosenversicherungssysteme diese Funktionen aber nur unzureichend aus – so auch in Österreich.

Der zuletzt in der innenpolitischen Debatte kommunizierte Vorstoß, die Nettoersatzrate in der Arbeitslosenversicherung für viele Erwerbslose zu kürzen, wäre ein völlig verfehlter Schritt in die falsche Richtung.

Eine Richtlinie zur sozialen Angemessenheit nationaler Arbeitslosenversicherungssysteme sollte jedenfalls folgende Bestimmungen enthalten: Sie sollte ambitionierte, gegebenenfalls schrittweise zu erreichende Mindestwerte in Bezug auf die Nettoersatzrate, die Abdeckungsrate und die Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes festlegen.

Mindestsicherung

2022 waren 95,3 Millionen Menschen in der EU (21,6 Prozent der Bevölkerung) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Beinahe ein Viertel der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre in der EU waren von einem Armuts- oder Ausgrenzungsrisiko betroffen. Die soziale Lage ist derzeit gerade vor dem Hintergrund der Teuerungskrise für viele verheerend.

Die Armutsbekämpfungsstrategie der EU hat bislang auf rechtlich unverbindliche Koordinierung gesetzt – mit begrenztem Erfolg: So wurde etwa das Armutsbekämpfungsziel der EU-2020-Strategie deutlich verfehlt. Damit die EU-Armutsbekämpfungsstrategie zu effektiven Resultaten führen kann, braucht es eine EU-Rahmenrichtlinie zu Mindestsicherungssystemen. Die Mindestvorgaben sollten sich jedenfalls auf die Höhe und die Abdeckung von Mindestsicherungsleistungen beziehen, das jeweilige nationale Wohlstandsniveau muss dabei berücksichtigt werden. Ein wichtiger Indikator, der bei der Ausarbeitung von Mindeststandards für Mindestsicherungssysteme einfließen sollte, ist die Höhe der Leistungen (ggf. in Kombination mit anderen relevanten Sozialleistungen) im Verhältnis zur jeweiligen nationalen Armutsgefährdungsschwelle.

Rechte auf Aus- und Weiterbildung

Um Menschen in der EU für die Erreichung ihrer beruflichen Ziele Perspektiven zu geben und den umfassenden Bedarf an Fachkräften für u. a. die Energiewende und die Herausforderungen durch die Digitalisierung zu decken, braucht es europäisch garantierte Bildungsrechte. Solange keine rechtlichen Ansprüche auf Aus- und Weiterbildung und Unterstützungsleistungen für Beschäftigte und Arbeitsuchende bestehen, können bestehende Angebote von vielen Menschen nicht effektiv genutzt werden.

In einer EU-Richtlinie sollten daher Rechtsansprüche auf bezahlte Bildungskarenz und Weiterbildung in der Arbeitszeit für Beschäftigte festgelegt werden. Ebenso gilt es, rechtliche Ansprüche auf Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitsuchende in Kombination mit einer existenzsichernden Lohnersatzleistung zu verankern.

Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping

Durch das in der EU bestehende sehr hohe Gefälle zwischen den Lohnniveaus der Mitgliedstaaten werden unterschiedliche Ausformungen von Lohn- und Sozialdumping begünstigt. Österreich ist aufgrund des hohen Lohngefälles zu seinen Nachbarstaaten von Lohn- und Sozialdumping besonders betroffen – etwa von der Unterschreitung der Mindestlöhne, Scheinentsendungen und Dumping durch die Bezahlung niedrigerer Sozialversicherungsbeiträge. Im grenzüberschreitenden Raum ist es zudem oft schwierig, die geltenden Vorschriften zu kontrollieren und bei Verstößen Sanktionen zu verhängen.

Um Lohn- und Sozialdumping effektiv zu bekämpfen, muss die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden bei Verwaltungsstrafverfahren sichergestellt bzw. verbessert werden. Auch müssen verbesserte Möglichkeiten geschaffen werden, zivilrechtliche Ansprüche grenzüberschreitend geltend zu machen, um besser gegen Unternehmen vorgehen zu können, die etwa Sozial- oder Steuerbetrug auf dem Rücken von grenzüberschreitend tätigen Arbeitnehmer:innen betreiben. Die EU-Kommission oder die Europäische Arbeitsbehörde muss zudem untersuchen, ob die Sanktionen in den Mitgliedstaaten tatsächlich – wie in entsprechenden Richtlinien vorgesehen – angemessen und abschreckend sind.

Einsatz von Künstlicher Intelligenz

Die Verwendung von Systemen der Künstlichen Intelligenz (KI) ist in den letzten Jahren in viele Lebensbereiche und auch in die Arbeitswelt vorgedrungen. Neben positiven Erwartungen in Richtung Innovation geben KI-Systeme auch Anlass zu Bedenken, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit und den Schutz der Grundrechte von Beschäftigten und Konsument:innen. Während das EU-KI-Gesetz für Verbraucher:innen einige, wenn auch nicht ausreichende Verbesserungen mit sich bringt, griff für den Bereich der Arbeitswelt das EU-KI-Gesetz von Beginn an zu kurz: Die Frage des Einsatzes von KI am Arbeitsplatz blieb im EU-KI-Gesetz weitgehend unberücksichtigt und es fehlten notwendige Schutzbestimmungen.

In einem nächsten Schritt erscheint es nun jedoch dringend notwendig, dass durch eine neue, eigene EU-Richtlinie auch europäische Mindestschutzbestimmungen für die Arbeitnehmer:innen beim Einsatz von KI am Arbeitsplatz geschaffen werden. Eine solche Richtlinie sollte insbesondere Informations-, Mitsprache- und Vetorechte für die Arbeitnehmer:innen sowie ihre betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungen umfassen.

Arbeitsbedingungen im Care-Bereich

Die Covid-19-Krise hat verdeutlicht, wie stark die Gesundheitssysteme EU-weit unter Druck stehen. Auch nach dieser Krise verschärfen die häufig viel zu geringe Personalausstattung und die alternde Gesellschaft die prekäre Situation für die Arbeitskräfte und Patient:innen weiter.

Mit zwei konkreten EU-Rechtsakten könnten EU-weit Fortschritte geschaffen werden: Durch eine neue EU-Richtlinie für Gesundheitsberufe könnten die Arbeitsbedingungen EU-weit attraktiver gemacht werden. Eine neue EU-(Rahmen-)Richtlinie könnte weiters im Bereich der Personenbetreuer:innen (live-in care workers) u. a. die Themen An- und Abreise der Betreuer:innen, Vertragsbeziehungen zwischen Agenturen und Betreuer:innen, Mindeststandards für die Qualitätssicherung sowie eine verpflichtende Registrierung von Agenturen als Voraussetzung für deren Tätigkeit regeln.

Arbeitszeitverkürzung

Die Erwerbsarbeit ist höchst ungleich verteilt: Einerseits gibt es viele, die lange Arbeitszeiten haben. Zu lange Arbeitszeiten gefährden jedoch die Gesundheit, erhöhen das Unfallrisiko und beeinträchtigen die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Andererseits haben viele Menschen in der EU keine Erwerbsarbeit oder haben weniger Arbeitsstunden, als sie gerne hätten. Eine fairere Verteilung der Arbeitszeit ist das Gebot der Stunde.

Bevor im Bereich der Arbeitszeitverkürzung auf EU-Ebene rechtlich verbindliche Maßnahmen gesetzt werden können, gilt es, das Thema auf die EU-Agenda zu bringen und die politischen Kräfteverhältnisse in Richtung der Ermöglichung verkürzter Arbeitszeiten zu beeinflussen. Im Zuge des Informationsaustauschs und der Koordinierung der Mitgliedstaaten können Akteur:innen auf EU-Ebene dazu beitragen, geeignete Modelle der Arbeitszeitverkürzung zu fördern – in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.

Schlussfolgerungen

Mit der Wahl zum Europäischen Parlament 2024 werden die Weichen für die europäische Politik in den nächsten Jahren neu gestellt. Die beginnenden Debatten um die politischen Positionen der Parteien ergeben nun ein wichtiges Zeitfenster: Die Diskussionen um die künftige politische Ausrichtung der EU sollten dazu genutzt werden, eine Ausweitung sozialer Mindeststandards in mehreren Bereichen als wesentlichen Teil der Umsetzung progressiver Prinzipien der europäischen Säule sozialer Rechte einzufordern.

Eine deutlich längere Version dieses Textes erscheint im Mai 2024 in einem Sammelband zur EU-Politik in der Reihe „Wiener Perspektiven“ im ÖGB Verlag. Eine etwas längere Version dieses Textes erschien (auf Deutsch und Englisch) als AK EUROPA Policy Brief.

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