Schneller, weiter, mehr: National­staatliche Beihilfen­politik in der Krise

04. Dezember 2024

Statt eine gemeinsame EU-Beihilfenstrategie zu entwickeln, fördern die Mitgliedstaaten rasch und direkt, ein „Bruderkampf der Beihilfen“, der krisenbedingt stark zunahm. Der Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs vom Herbst 2024 muss Anlass sein, die europäische Beihilfenpolitik neu aufzustellen.

Industriepolitik gegen globale Krisen

Durch die Aufeinanderfolge globaler Krisenfälle haben sich die Welt-Wirtschaftsräume neu aufgestellt: Die Förderung des sogenannten regionalen und europäischen Mehrwertes, also des nationalen Wertschöpfungsanteils an Produktion, steht im Mittelpunkt, um Kernindustrien und industrielle Champions zu erhalten und bei der Transformation in die neue Ära einer möglichst klima-unschädlichen Produktion zu unterstützen und Arbeitsplätze zu erhalten. Riesige staatliche Förderprogramme, wie der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) und der Infrastructure Investment and Jobs Act, die chinesische Belt and Road Initiative und nicht zuletzt NextGenerationEU der europäischen Union, wurden aufgesetzt. Parallel dazu verabschiedete die EU-Kommission drei Krisenrahmen für staatliche Beihilfen, wobei der letzte auf Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels zur Umsetzung der Ziele des grünen Industrieplans gerichtet war. Er läuft am 31. Dezember 2025 aus.

Basierend auf den EU-Krisenrahmen führten die 27 EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Beihilfenpolitiken in unterschiedlichster Form durch:

„Der Rechnungshof gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Kommission zwar rasch auf den Bedarf der Mitgliedstaaten an staatlichen Beihilfen reagierte, die Kontrolle der Beihilfen durch die Kommission und die Kohärenz der Vorschriften jedoch Mängel aufwiesen.“ (Europäischer Rechnungshof, Sonderbericht 21/2024)

EU-Beihilfenverbot und Ausnahmen

Die Beihilfenbeschlüsse vervierfachten sich 2020/21 von 250 auf 950 pro Jahr, selbst 2023 waren es noch rund 600 Beschlüsse.

Dies vor allem deshalb, weil die Mitgliedstaaten im Krisenmodus großen Druck auf die EU-Kommission ausübten, die geplanten Maßnahmen rasch und ohne tiefgehende Prüfung zu genehmigen. Der Großteil waren Betriebsbeihilfen, die nach der Logik des Art.-107-Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eigentlich die Ausnahme darstellen – denn der AEUV enthält grundsätzlich ein Beihilfenverbot. Dauersubventionen zur Aufrechterhaltung eines sonst defizitären Geschäftsmodells oder veralteter Technologien werden nämlich als besonders schädlich eingestuft.

Diese großzügige Subventionspolitik hat jedoch in einigen Mitgliedstaaten deutliche Spuren in den Staatsbudgets hinterlassen. Das Staatsdefizit 2024 ist u. a. in Frankreich, Italien, der Slowakei und Belgien beachtlich angestiegen. Für Österreich bedeutet das nach Einschätzung des Fiskalrates für 2024 und 2025 ein Budgetdefizit von rund 4 Prozent. Die Schuldenquote wird voraussichtlich bis 2025 kontinuierlich auf 81,6 Prozent des BIP ansteigen.

Insgesamt kommt der Europäische Rechnungshof (ERH) in Sachen formaler und inhaltlicher Kontrolle der Beihilfenmaßnahmen zu einem kritischen Ergebnis:

„Zudem prüfte die Kommission nicht, ob die Beihilfe mit weniger wettbewerbsverzerrenden Mitteln gewährt werden könnte oder ob die Mitgliedstaaten bereits andere allgemeine Maßnahmen oder staatliche Beihilfemaßnahmen zur Deckung des Liquiditätsbedarfs der Unternehmen erlassen hatten.“ (Ziffer 47, Sonderbericht 21/2024)

Die Kontrollen der mitgliedstaatlichen Behörden beruhen zudem bloß auf Eigenerklärungen der begünstigten Unternehmen.

Demgegenüber ist eine der politischen Handlungsempfehlungen im Letta- und Draghi-Bericht, die Beihilfengenehmigungsverfahren zu beschleunigen – als ein Instrument zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie. „Schneller, weiter, mehr“ also, um im globalen Förderwettbewerb mithalten zu können? Wie passt das mit den Ergebnissen des ERH zusammen?

Industriesubventionen: effizient und gerecht?

Durch die geopolitische Neuanordnung erweist sich der seit rund 25 Jahren gewählte horizontale Ansatz der EU-Beihilfenpolitik als ungenügend. Darunter verstand die EU-Kommission, dass bestimmte Subventionen über alle Sektoren hinweg als positiv und deshalb mit dem EU-Recht vereinbar angesehen werden, wie z. B. Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation, Beschäftigung benachteiligter Personen, Umwelt- und Energieinvestitionen u. v. m. Heute wird die Notwendigkeit der Unterstützung bestimmter Branchen gesehen, wie dies auch bis in die späten 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts der Fall war – beispielsweise für Kfz-, Textil- oder Stahlbranche.

So ermittelte die EU-Kommission für den Zeitraum 2023 bis 2030 einen kumulierten Investitionsbedarf von 92 Milliarden Euro zur Steigerung der Produktionskapazitäten der EU für bestimmte strategische Netto-Null-Technologien. Der Schwerpunkt liegt auf Windkraft, Solarpaneelen, Wärmepumpen, Batterien und Elektrolyseuren für Wasserstoff – also ein klarer sektoraler Ansatz, um die Versorgungssicherheit und wirtschaftliche Souveränität der EU zu stärken.

In dasselbe Horn stößt Frankreich: Es fordert nicht nur europäische abgestimmte Kaufprämien für Elektroautos, die die Förderung u. a. vom CO2-Ausstoß bei der Produktion abhängig machen und damit Fahrzeuge aus China faktisch von diesen Subventionen ausschließen. Der französische Industrieminister Marc Ferracci geht noch weiter und fordert eine europäische Initiative zur Elektrifizierung von gewerblichen Fuhrparks sowie eine industriepolitische Antwort Europas bei anderen unter Druck stehenden Branchen wie Stahl oder Chemie.

Gießkannenprinzip: Fehlende Bewertung der Beihilfenwirkungen

Der Europäische Rechnungshof hebt hervor, dass die Kommission aktuell keine wirtschaftliche Bewertung des Bedarfs an staatlichen Beihilfen vornimmt. Auf das Erfordernis einer Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Aus- und Verteilungswirkungen, um Ungleichheit in der EU nicht zu verstärken – geht er nicht ein. Ein wichtiger Aspekt, bei dem Abhilfe notwendig ist: Das Erfordernis der Anreizwirkung und auch eine Analyse der Verteilungswirkungen ist unverzichtbar. Denn es wäre Verschwendung von Steuergeld, wenn Beihilfen für Investitionen gewährt werden, die ohnehin getätigt worden wären. Oder noch schlimmer: Wenn Beihilfen für Investitionen ausgezahlt werden, die nicht getätigt werden – denn dann handelt es sich um Subventionen des laufenden Betriebs oder gar Gewinns.

„Es erscheint jedoch kontraproduktiv, wenn dies aufgrund fehlender Kongruenz kraft Eile dazu führt, dass … den Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten offenstehen, um Unternehmen mit staatlichen Beihilfen zu unterstützen, die das wirksame Funktionieren des Binnenmarkts gefährden, da Mitgliedstaaten mit mehr Haushaltmitteln andere übervorteilen, indem sie in bestimmten Branchen höhere staatliche Beihilfen gewähren.“ (Ziffer 99, Sonderbericht 21/2024)

Letztendlich untergräbt ein solches Verhalten auch die Integrität des Binnenmarktes. Der Europäische Rechnungshof empfiehlt der Kommission (und indirekt den Mitgliedstaaten) daher:

  • verstärkte Prüfung und Überwachung der staatlichen Beihilferegelungen;
  • Evaluierung der Auswirkungen der krisenbezogenen Beihilfen auf den Wettbewerb;
  • Erhöhung der Transparenz staatlicher Beihilfen und Verbesserung der Berichterstattung betreffend staatliche Beihilfen;
  • Verbesserung der Analyse des Bedarfs an staatlichen Beihilfen zur Unterstützung der industriepolitischen Ziele der EU und Straffung der Beihilfevorschriften.

Strategische Neuordnung ist gefragt

Es bedarf einer Neuaufstellung, wie und wo staatliche Mittel in der EU eingesetzt werden. Nationalen Alleingängen muss ein strategischer Beihilfenrahmen zur Unterstützung der europäischen Industrie bei der doppelten Transformation entgegengestellt werden. Allein schon deshalb, weil mit dem Klima nicht verhandelt werden kann.

Ansonsten besteht die Gefahr, dass Umweltaspekte vernachlässigt werden, wenn Länder in einem Bemühen um Wettbewerbsvorteile umweltfreundliche Praktiken hintanstellen. Die deutsche Bundesregierung beziffert beispielsweise die bis 2050 anfallenden Klimafolgekosten auf 280 Milliarden bis 900 Milliarden Euro, während die Europäische Kommission allein für die Umsetzung des Europäischen Grünen Deals mit rund 260 Milliarden Euro zusätzlichen Investitionen pro Jahr in den nächsten zehn Jahren rechnet.

Der Handlungsbedarf ist also enorm – eine voraussetzungsvolle Aufgabe, denn gleichzeitig müssen die Staatsausgaben so aufgesetzt werden, dass sie einen Konjunkturaufschwung ermöglichen und nicht abwürgen. Dabei müssen die Beschäftigten mitgenommen werden, indem Subventionen mit Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, Qualifikation und Weiterbildung, Vorgaben zur Reinvestition von Gewinnen und Beschränkung von Gewinnausschüttungen verknüpft werden.

Gerade Österreich als kleines Mitgliedsland mit einem großen Anteil an Zulieferindustrie muss den Wettbewerb der Subventionen zwischen den Mitgliedstaaten kritisch hinterfragen. Die Treffsicherheit der Subventionspolitik muss im Sinne der Effizienz und Gerechtigkeit verbessert werden durch:

  • eine Neuausrichtung und Schärfung der sogenannten Konditionalitäten, also der Bedingungen, unter denen die staatlichen Beihilfen gewährt werden – statt Gießkannenprinzip („Direktionalität“);
  • die Vermeidung bzw. Abschaffung klimaschädlicher oder sonstiger der Produktivität und wirtschaftlichen Entwicklung abträglicher Subventionen.

Zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts und Mehrwerts sollten die Überlegungen aus dem vorübergehenden Beihilfenrahmen für Krisenbewältigung und Wandel weiterentwickelt werden:

  • Eine Anti-Alleingang-Regel: Aufstellung eines Länderschlüssels, um die nationalen Subventionen entsprechend BIP nach oben zu begrenzen und eine gewisse Verhältnismäßigkeit der nationalen Subventionen sicherzustellen;
  • Subventions-Sharing: Verpflichtung, dass ab einer bestimmten Beihilfenhöhe Projekte nur gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten durchgeführt werden können;
  • Betriebsbeihilfen müssen die Ausnahme darstellen, der Schwerpunkt muss bei Anschubinvestitionen mit drei Schlüsselkonditionalitäten liegen:
  • Ein bestimmter Anteil (etwa 40 Prozent) der Wertschöpfung in Europa;
  • Herstellung von Energieeffizienz, Beschleunigung des Ausbaus von erneuerbaren Energien und Sicherstellung der Wiederverwertung;
  • der durch die Energiekrise entfachte Subventionswettlauf zur Deckelung des Industriestrompreises muss durch harmonisierte EU-Leitlinien für Beihilfen eingehegt werden, in denen die Rahmenbedingungen und zulässige Höchstgrenzen für Energiezuschüsse an energieintensive Unternehmen festgelegt werden.

Nicht nur Flexibilität, sondern Konditionalität zur Gewährleistung gesamtwirtschaftlicher und gesamteuropäischer Verantwortung müssen daher in den Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Debatte und beihilferechtlichen Praxis gestellt werden.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung