Wienerinnen im „digitalen Zeitalter“? Chancen versus Herausforderungen im Bereich Erwerbsarbeit, Aus- und Weiterbildung

12. Juli 2021

Egal ob bei Arbeit, Bildung oder in der Kommunikation – die Digitalisierung hat in vielen Lebensbereichen Einzug gefunden. Im vergangenen Jahr haben digitale Anwendungen durch die Corona-Krise zusätzlichen Aufwind bekommen. Deswegen wurde der Fokus des Frauenbarometers, einer repräsentativen Befragung von Wienerinnen, auf die Digitalisierung gerichtet. Die Ergebnisse zeigen Gestaltungspotenziale von Wienerinnen auf und welche Schritte im Sinne einer „gleichstellungsorientierten Digitalisierungshauptstadt“ gesetzt werden können.

Digitalisierung als Frage der Gleichstellung

Digitalisierung als allumfassende gesellschaftliche Entwicklung kann Fortschritte bewirken. Doch auch bestehende Ungleichheiten und Ausschlussmechanismen können verstärkt werden, wie auch die sehr umfassende Gleichstellungsexpertise der deutschen Bundesregierung „Digitalisierung gleichstellungsgerecht gestalten“ verdeutlicht (für Österreich gibt es keine hierzu vergleichbare Bearbeitung des Themas). Auch im Kontext von Arbeit und Weiterbildung – der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags – kann Digitalisierung als Bedrohung etablierter Standards oder als Chance für die Zukunft der Arbeit angesehen werden. Um zu erfahren, wie Wienerinnen diese Entwicklungen einschätzen und was ihre Wahrnehmungen und Bedarfe sind, wurde von L&R Sozialforschung im Auftrag des Frauenservice Wien das „Wiener Frauenbarometer 2020: Digitalisierung – Frauen – Gestaltungspotenziale“ erarbeitet.

Gestaltungspotenziale von Frauen im Fokus

Das Wiener Frauenbarometer ist eine repräsentative Befragung der Wienerinnen zu aktuellen Themen, deren Ergebnisse frauenpolitische Maßnahmen und Angebote der Stadt informieren.

Insgesamt wurden 1.055 in Wien lebende Frauen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren zu den Themen Erwerbsarbeit, Bildung, Geschlechterrollen und Kommunikation befragt. In welchen Lebensbereichen wird die digitale Transformation als Chance erlebt? Wo werden Risiken gesehen? Wo gestalten die Wienerinnen aktiv mit? Welche Bedarfe und Wünsche formulieren sie? Zusätzlich wurden Fragen zur digitalen Ausstattung und zu den digitalen Kompetenzen der Wienerinnen gestellt.

Auf Basis der Rückmeldungen lassen sich vier unterschiedliche Gruppen erkennen.

Digitale Vorreiterinnen und analoge Wienerinnen … eine kleine digitale Typologie

Die digitalen Vorreiterinnen (14 Prozent der Wienerinnen) verfügen über eine breite digitale Ausstattung und hohe digitale Kompetenzen; sie sind gehäuft in einem Job mit technischen Tätigkeiten und/oder mit der Gestaltung von Social Media, Websites etc. betraut. Digitale Kommunikationskanäle sind aus dem Leben der Vorreiterinnen nicht wegzudenken, sie nutzen diese aktiv, etwa zum Aufbau einer eigenen Community.

Die umfassenden Nutzerinnen (41 Prozent der Wienerinnen) sind überdurchschnittlich gut digital ausgestattet, und auch ihre digitalen Kompetenzen gehen über das Basisniveau hinaus. Sie arbeiten zu einem hohen Anteil in akademischen Berufen, allerdings seltener in technischen Berufen. Digitalen Kommunikationsmedien kommt bei ihnen ein hoher Stellenwert zu.

Die selektiven Nutzerinnen (40 Prozent der Wienerinnen) verfügen über eine unterdurchschnittliche digitale Ausstattung, ihre digitalen Kompetenzen liegen auf Basisniveau. Sie haben öfter ein mittleres formales Bildungsniveau, üben verstärkt Hilfs- oder angelernte Tätigkeiten aus sowie Dienstleistungs- und Verkaufsberufe; häufiger sind auch arbeitssuchende Frauen in dieser Gruppe zu finden. Im Beruf stehen sie der Digitalisierung skeptisch gegenüber.

Die analogen Wienerinnen (5 Prozent der Wienerinnen) haben eine minimale digitale Ausstattung und keine bis geringe digitale Kompetenzen; sie sind zu einem hohen Anteil bereits in Pension und/oder weisen ein vergleichsweise geringes formales Bildungsniveau auf. Insgesamt sehen sie ihre digitale Ausstattung als nicht ausreichend an, um in der heutigen Welt mithalten zu können.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Erwerbsarbeit 4.0 in Abhängigkeit der digitalen Gestaltungsmöglichkeiten und vice versa

Die kurze Darstellung der Typologie macht bereits die enge Verwobenheit von Berufstätigkeit, Bildungshintergrund, Beruf und digitalen Kompetenzen sichtbar: Von der Erwerbsarbeit ausgeschlossene bzw. (partiell) zurückgezogene Frauen – etwa arbeitsuchende Frauen oder Frauen in Karenz sowie in Pension – geben überdurchschnittlich häufig an, über wenig digitale Kompetenzen bzw. Ausstattung zu verfügen. Auch der Beruf macht einen Unterschied: Erwerbstätige in frauendominierten Berufsfeldern im Dienstleistungsbereich, etwa im Handel, geben an, über wenige Kenntnisse zu verfügen, während sich Frauen in männerdominierten technischen Berufen auf einem hohen digitalen Niveau bewegen. Der Social-Media-Bereich als eher neues Beschäftigungsfeld stellt insofern eine Ausnahme dar, als dieses Feld relativ „gemischt“ bezüglich des Frauen- und Männeranteils an Beschäftigten ist und Frauen hier hohe Gestaltungsmöglichkeiten bietet.

Diese enge Verwobenheit zwischen der Erwerbstätigkeit bzw. dem konkreten Berufsfeld verweist auf die strukturelle Dimension der Digitalisierung: Nicht nur individuelle Bestrebungen, digital „fit“ zu sein, geben den Ausschlag über die eigenen Kompetenzen, sondern der sozioökonomische und berufsbezogene Hintergrund sind wesentlich. Hier wird auch die Geschlechterfrage deutlich: In vielen sogenannten Frauenberufen spielt die Vermittlung und Anwendung digitaler Kompetenzen eine weniger bedeutsame Rolle.

Die Bewertung digitaler Veränderungen im beruflichen Bereich fällt mehrheitlich positiv aus; vor allem eine Vereinfachung und verbesserte Effizienz der Arbeitsabläufe werden genannt. Die Befragung macht aber auch deutlich, dass andere Gruppen, vor allem Hilfskräfte oder Frauen in Dienstleistungs- und Verkaufsberufen, durch die Digitalisierung kaum einen Zugewinn an beruflichen Gestaltungsspielräumen für sich sehen.

(Aus-)Bildung 4.0 als geschlechterdifferenzierender Startpunkt

Bei den Ausbildungen ist der strukturelle Aspekt der Digitalisierung besonders markant. Die Technikorientierung der Ausbildung hat einen hochsignifikanten Zusammenhang mit der Vermittlung digitaler Fertigkeiten. So sehen fast alle befragten Frauen, die eine technikorientierte Ausbildung absolvieren (eher männerdominierte Ausbildungen, etwa HTL), dass digitale Kompetenzen vermittelt werden. Demgegenüber hält die Mehrheit der Absolventinnen nicht technikorientierter Ausbildungen fest, dass in ihrer Ausbildung digitale Kompetenzen wenig oder gar nicht vermittelt werden.

Angesichts des Querschnittscharakters der digitalen Fertigkeiten wäre hier eine Forcierung in allen Ausbildungen wichtig, um allen Schüler*innen und damit auch allen jungen Frauen entsprechende Fertigkeiten zu vermitteln. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass Digitalisierung auch im Bildungsbereich eine Geschlechterfrage ist.

In diesem Zusammenhang ist es auch ein interessantes Ergebnis, dass sich zwei Drittel der Wienerinnen Bildungsangebote speziell für Frauen und Mädchen wünschen.

Wien als „Digitalisierungshauptstadt“

Das Frauenservice Wien geht von einem umfassenden Bild von Digitalisierung aus: Ausstattung, Kompetenzen, unterschiedliche Lebensbereiche als auch strukturelle Rahmenbedingungen spielen hier zusammen. Ziel ist eine „gleichstellungsorientierte Digitalisierungshauptstadt“. Hierfür müssen in allen breit gefassten und auch zielgruppenspezifischen Maßnahmen die Perspektiven von Frauen berücksichtigt werden.

Berufsorientierung und Einblick in vielfältige Berufsfelder können neue Perspektiven eröffnen. So legt der Wiener Töchtertag auch einen Fokus auf digitale Berufe. Digitale Kompetenzen als Chance für Weiterbildung und Erwerbsarbeit werden mithilfe der Programme des Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF) gefördert. Für einen niederschwelligen Zugang zu Digitalisierung setzt das Frauenservice Wien auf unterschiedliche digitale Formate. Zu frauenpolitischen Themen finden sich Erklärvideos, Diskussionen, Tipps und Lesungen auf dem YouTube-Kanal und der Website frauen.wien.gv.at. In Zusammenarbeit mit dem WAFF bietet die Workshop-Reihe „Frauen fragen Frauen“ einen ersten Anlaufpunkt zu Arbeit und Digitalisierung.

Auch Messenger-Dienste und soziale Medien sind für Frauen ein zentrales Thema der Digitalisierung, wie das Frauenbarometer zeigt. 96 Prozent verwenden zumindest einen Messenger-Dienst und 77 Prozent sind auf zumindest einer Social-Media-Plattform. Um den Schattenseiten Sexismus und Hass zu begegnen gibt es eine Broschüre und eine Workshop-Reihe zum Thema Sicherheit im Netz. Cyberstalking und ähnlichen Phänomenen wird durch die Kompetenzstelle Cybergewalt entgegengewirkt.

Digitale Kompetenz als Schlüsselkompetenz

Vor dem Hintergrund der strukturellen Verwobenheit beruflicher und sozioökonomischer Dimensionen mit der Frage der digitalen Gestaltungsmöglichkeit aus Gleichstellungssicht wird deutlich, dass es weiterer Ansätze bedarf um digitale Kompetenzen „zu den Wienerinnen“ zu bringen – etwa im Rahmen von nicht technischen Ausbildungen oder mit einem Fokus auf frauendominierte Berufsfelder, die bislang ein „digitales Schattendasein“ geführt haben und in denen die Auswirkungen der Digitalisierung überproportional negativ erlebt werden. Auch Frauen, die (derzeit) nicht in Erwerbstätigkeit stehen, sind als essenzielle Zielgruppe zu nennen.

Zu finden ist die Studie „Wiener Frauenbarometer 2020: Digitalisierung – Frauen – Gestaltungspotenziale“ als Langfassung, Kurzfassung und kurzes Erklärvideo (2:38 min) unter: https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/digitalisierung/index.html

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