Im Verborgenen: digitale Kompetenzen bei systemrelevanten Berufsfeldern

03. Juli 2020

Die hartnäckige Einteilung in „weibliche“ und „männliche“ Kompetenzen und deren ungebrochen hierarchische Bewertung ist ein jahrzehntealtes Gleichstellungsthema. Dieses findet auch in den „modernen“ digitalen Zeiten seine Fortführung. Könnte es helfen, in den „weiblich dominierten“ Berufsfeldern „männlich konnotierte“ Kompetenzen sichtbar zu machen? Dieser Frage wird in einem laufenden Forschungsprojekt nachgegangen, gefördert durch den Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der AK Wien.

„Weibliche Systemrelevanz“: die Corona-Krise als Chance zur Aufwertung?

Im Zuge der Corona-Krise hat eine im medialen Diskurs bislang wenig gebräuchliche Klassifizierung von Berufsfeldern rasant an Aufmerksamkeit gewonnen: die sogenannte Systemrelevanz. Berufsfelder, die bislang ein (mediales) Schattendasein fristeten, erfuhren plötzlich eine – zumindest kurzzeitige – symbolische Aufwertung in der breiten Öffentlichkeit. ArbeitnehmervertreterInnen, frauen- bzw. gleichstellungspolitisch engagierte AkteurInnen, die sich schon seit Langem für eine Aufwertung der jetzt als systemrelevant diskutierten Berufsgruppen einsetzen, nehmen angesichts der unerwarteten Aufmerksamkeit für diese Berufsfelder einen weiteren Anlauf: Neben der symbolischen Anerkennung geht es um eine langfristige, insbesondere finanzielle Aufwertung der systemrelevanten Berufe. Eine solche Aufwertung ist aus gleichstellungsorientierter Perspektive auch dringend notwendig, denn die als systemrelevant klassifizierten Berufe sind oft frauendominiert und schlecht bezahlt. Dies trifft beispielsweise auf Pflegekräfte oder Einzelhandelsangestellte zu, deren Arbeitssituation durch unterdurchschnittliche Bezahlung und überdurchschnittliche Belastung geprägt ist, wie eine aktuelle SORA-Studie vom Mai 2020 einmal mehr bestätigte.

Doch reicht der Hinweis auf die Systemrelevanz, um einen Gegentrend einzuläuten? Es scheint, als würde mit der schrittweisen Rückkehr zur sogenannten Normalität die kurzzeitige Begeisterung wieder abflauen und das alte Bewertungsmuster Oberhand gewinnen: Gerade Berufe im Einzelhandel (die viel zitierte Supermarktkassiererin) sowie nicht diplomierte Pflegetätigkeiten, etwa die mobile Heimhilfe, Pflegeassistenz oder die 24-Stunden-Betreuung, werden in der Hierarchie klassischer Arbeitsbewertungsmuster als „einfache Tätigkeiten“ eingestuft. Diese Art der Arbeitsbewertung ist in diesen und anderen Berufsfeldern mit ein Grund für das niedrige Entgelt.

„Männliche Standortrelevanz“: die unerschütterliche Hintergrundfolie?

Demgegenüber stehen Menschen in (unter anderem) technischen oder IKT-Berufen, deren Präsenz im Digitalisierungsdiskurs als unerlässliche, gut ausgebildete Fachkräfte nicht nur die bereits zuvor hohe Arbeitsbewertung reproduziert(e), sondern auch die hohe Relevanz dieser Berufsgruppe für den Wirtschaftsstandort diskursiv weiter fest verankerte. Andere Berufsgruppen, denen solche Standortrelevanz nicht zugeschrieben wurde, fanden im aktuell dominierenden Digitalisierungsdiskurs lange keinen Platz. Das brachte aus gleichstellungsorientierter Perspektive problematische Folgen mit sich. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2017 , wie die Fokussierung des Digitalisierungsdiskurses unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ auf den männerdominierten Produktionssektor zu einem „Blind Spot Gender“ bezüglich der Auswirkungen der Digitalisierung auf weibliche Beschäftigte in der Dienstleistungsbranche führte – so zum Beispiel auf jene, die jetzt als systemrelevante Berufsfelder beklatscht werden. Digitalisierung wird – etwas pointiert formuliert – als standortrelevante „Männersache“ verstanden, technische bzw. digitale Kompetenzen gelten als Garant für eine hohe Arbeitsbewertung. Kaum mehr bekannt ist hingegen, dass Programmieren in den 1960er-Jahren ein typischer Frauenberuf war.

Beides im Vergleich: digitales Einkommensgefälle

Aktuelle Studien zeigen, dass für die nahe Zukunft vor allem digitale Kompetenzen einen immer wichtigeren Einfluss auf die Einkommensentwicklung haben und sich in höheren Löhnen niederschlagen. Da digitale Kompetenzen aber ungleich zwischen weiblichen und männlichen Beschäftigten verteilt sind, werden Männer hier stärker profitieren. Der Vergleich zwischen Verdiensten in Branchen mit intensiverer- und niedriger Nutzung digitaler Technologien zeigt, dass letztere in einen immer größeren Nachteil geraten, eine Schieflage, von der aufgrund der geschlechtsbezogenen Segregation der Arbeitswelt vor allem Frauen betroffen sind. In Branchenstudien über den Einzelhandel wird zudem keine Bewegung in Richtung Aufwertung prognostiziert. Im Pflegebereich werden mittelfristig bessere Chancen gesehen, sobald eine Erweiterung von Aufgaben und Kompetenzen der Beschäftigten stattfindet. Diese Chancen werden aber vor allem für diplomierte Pflegekräfte, nicht für Pflegeassistenz oder Heimhilfen gesehen.

Ist die Suche nach „versteckten“ technologischen Kompetenzen ein möglicher Beitrag zur Aufwertung frauendominierter Berufe?

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, welches L&R Sozialforschung gemeinsam mit der TU Wien/Abteilung Human Computer Interaction und Urbanity seit Jänner dieses Jahres umsetzt, gefördert vom Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der AK Wien. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass auch Beschäftigte in frauendominierten Berufen im Zuge der zunehmenden Digitalisierung ihres Arbeitsumfeldes technologische beziehungsweise digitale Kompetenzen in ihrem täglichen Arbeitsalltag anwenden. Dabei ist diese Technikanwendung hinter der diskursiv stabilisierten Vorstellung von Frauenberufen als nicht-technologischen Tätigkeiten „versteckt“ und fließt folglich nicht in die Arbeitsbewertung ein. Konkret nehmen wir den Arbeitsalltag der Beschäftigten im stationären Einzelhandel und der mobilen Pflege unter die Lupe und untersuchen, ob und welche versteckte technologische Arbeit von den vielen Frauen in den genannten Branchen geleistet wird und welche versteckten technologischen Kompetenzen hierbei zum Einsatz kommen. Dazu werden drei Blickwinkel gebündelt: die feministische Arbeitssoziologie mit feministischem Technologiedesign und feministischer Raumsoziologie.

Hierarchisierung digitaler Kompetenzen: Anwendungskompetenzen versus Gestaltungskompetenzen

Im Zuge des geplanten Forschungsvorhabens sollen dabei sowohl das Personal der „gestaltenden“ IT-Abteilungen als auch das „anwendende“ Personal in den Einzelhandelsfilialen und den Pflegebetrieben beforscht werden. Mehrheitlich sind es weibliche Beschäftigte, die dieser zweiten Gruppe angehören. Je weiblicher die Beschäftigungsfelder sind, desto anwendungsorientierter und „versteckter“ sind die dafür notwendigen IT-Kompetenzen und desto schlechter bewertet ist das Arbeitsfeld – so die Ausgangsthese.

Im Überblick: Datenproduktion und Anwendung am Beispiel der mobilen Pflege und des Einzelhandels: Technologien, Arbeitsorte, Aus- und Weiterbildung

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Quelle: L&R Sozialforschung, TU Wien, Urbanity

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Die Sichtbarmachung der digitalen Kompetenzen – der gestaltenden wie anwendenden – leistet einen Beitrag zur Aufwertung der systemrelevanten Berufsfelder. Dem Aufwertungsargument der überaus großen Relevanz der Berufsfelder soll jenes der vielfältigen (digitalen) Kompetenzen, die in diesen Feldern eingebracht werden, zur Seite gestellt werden.

Fazit

Wir bewegen uns damit in einem relativ komplexen Feld: Digitale Kompetenzen werden allgemein für den Wirtschaftsstandort als überaus relevant und wichtig eingeschätzt, jedoch eher männerdominierten Berufsfeldern zugeordnet. Digitale Kompetenzen sind in sich wiederum hierarchisiert, nicht unbedingt zum Vorteil von Frauen beziehungsweise weiblich konnotierter Berufe. Trotzdem scheint es einen Versuch wert, in relativ niedrig eingestuften (systemrelevanten) Berufen – Einzelhandel und mobile Pflege – die (versteckten) digitalen Kompetenzen sichtbar zu machen, zu benennen und Überzeugungsarbeit zu leisten, dass diese in ein System der Arbeitsbewertung einfließen müssen.

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