Virtuelle Welten und Sandkästen: Die EU-Strategie für das Web 4.0

29. August 2023

Die EU-Kommission rechnet bis zum Jahr 2030 mit einem Wachstum des weltweiten Marktes für virtuelle Welten von 800 Mrd. Euro und rund 860.000 neuen Arbeitsplätzen bis 2025. Angesichts dieser Prognose verwundert es nicht, dass sie Anfang Juli eine neue Strategie für das Web 4.0 und virtuelle Welten vorgelegt hat. Laut der EU-Kommission bieten die Entwicklung des „Metaverse“ und der längerfristige Übergang zur nächsten Webgeneration neue Möglichkeiten für die Mitgestaltung einer Reihe vielversprechender Anwendungsfelder. Mit der Strategie möchte sie vor allem europäischen Unternehmen und Bürger:innen die Möglichkeit zur Teilhabe geben. Was ist von der EU-Strategie zu virtuellen Welten zu halten?

European Union vs. Silicon Valley

Wer die Aussendung der EU-Kommission zur neuen Strategie für Web 4.0 und virtuelle Welten liest, stößt auf eine Vielzahl von blumigen Förderbekenntnissen. „Boosting the EU’s technological capabilities“, „Accelerating the uptake of new business models and solutions“ oder „Fostering supportive business environment by encouraging innovation“ versprechen großen Einsatz bei der Weichenstellung für Unternehmen und Gesellschaft, um beim nächsten technologischen Umbruch mitzuspielen.

Auch wenn eine breite technische Durchführbarkeit von virtuellen Welten aufgrund des immensen Rechenleistungsbedarfs aktuell noch angezweifelt werden darf, ist eine gemeinschaftliche europäische Vorgehensweise dazu durchaus sinnvoll. Das Web 4.0 bietet mit dem IoT (Internet der Dinge), Blockchain-Transaktionen und virtuellen Welten tatsächlich ein riesiges Betätigungsfeld. Hier zeichnen sich üblicherweise US-amerikanische Tech-Giganten durch erfinderische Exzellenz, aber auch Marktmacht bis hin zu Monopolstellungen, Intransparenz und Datenschutzverletzungen aus. Um deren Innovationen, allen voran dem „Metaverse“ des ehemaligen Facebook-Konzerns (ursprünglich aus der Science-Fiction-Literatur, bedeutet „Paralleluniversum“), auch einen europäischen Regulierungsrahmen vorzulegen und europäische Akteure zu ermächtigen, die zukunftsweisende Technologie mitzugestalten, hat die EU-Kommission eine Strategie zur Förderung und Regulierung vorgelegt.

Zentrale Säulen der Strategie

Die Strategie steht im Einklang mit den Zielen des Politikprogramms für die digitale Dekade für 2030, insbesondere der EU-Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen, und baut auf vier Säulen auf:

  1. Kompetenzen: Die Kompetenzen und Mündigkeit der EU-Bürger:innen werden gestärkt und für das Thema sensibilisiert. Der Fokus liegt auf der Förderung von Mädchen und Frauen. Weiters soll ein Talentpool aus Spezialist:innen entstehen, um virtuelle Welten aufzubauen.
  2. Unternehmen: Europäische Unternehmen werden durch ein industrielles Ökosystem unterstützt, das verschiedene Akteure der Wertschöpfungskette zusammenbringt. Um Innovationen zu fördern, wird die EU-Kommission auch Kreativen und Medienunternehmen in der EU dabei helfen, neue Kreativwerkzeuge zu testen und Entwickler:innen und industrielle Anwender:innen an einen Tisch zu bringen.
  3. Behörden: Virtuelle öffentliche Dienste und digitale Zwillinge für intelligente Gemeinschaften und den Ozean werden weiter gefördert. Damit sollen Forschende die Wissenschaft voranbringen, die Industrie Präzisionsanwendungen entwickeln und Behörden fundierte politische Entscheidungen treffen können. Die EU-Kommission bringt zudem zwei neue öffentliche Leitinitiativen auf den Weg: „CitiVerse“, eine immersive, das heißt eine eigentlich virtuelle als reale städtische empfundene Umgebung, die für urbane Planung genutzt werden kann, und einen europäischen virtuellen Zwilling des Menschen, der den menschlichen Körper nachbildet, um die klinische Entscheidungsfindung und die personalisierte Behandlung zu unterstützen.
  4. Regulierung: Weltweite Standards für offene und interoperable virtuelle Welten und das Web 4.0 werden gestaltet, um sicherzustellen, dass sie nicht von einigen wenigen großen Akteuren dominiert werden. Die EU-Kommission wird mit Interessenträger:innen der Internet-Governance in der ganzen Welt zusammenarbeiten und Web-4.0-Standards im Einklang mit den Zielen und Werten der EU fördern.

Regulatory Sandboxes

Die europäischen Unternehmen und Entwickler:innen sollen von regulatorischen Sandkästen profitieren, die jüngst im Net-Zero Industry Act (NZIA) vorgeschlagen werden, um die Entwicklung von grünen und sauberen „Netto-Null-Technologien“ voranzutreiben. Auch zur Erprobung von Künstlicher Intelligenz (KI) wurde im Jahr 2022 erstmalig eine „regulatorische Sandkiste“ auf Basis der KI-Verordnung von Spanien gemeinsam mit der EU-Kommission vorgestellt. Diese dienen der Förderung von Marktfähigkeit und der Marktdurchdringung innovativer Technologien, speziell solcher, die für die Twin Transition (Digitalisierung und Dekarbonisierung) besonders bedeutsam sind.

Von „Regulatory Sandboxes“ oder Reallaboren wird in diesem Zusammenhang gesprochen, wenn Behörden oder Regierungen es ermöglichen, in zeitlich oder geografisch begrenzten Räumen neue Technologien frei von regulatorischen Bürden zu testen. Ein innovationspolitisch durchaus sinnvoller Ansatz, wenn die Anwendungsfälle klar determiniert werden, der Innovationsbegriff technische oder soziale Ideen und Entwicklungen inkludiert und Rechtsvorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer:innen, Gesundheit und Umwelt sowie des Arbeits- und Kollektivvertragsrechtes gewahrt bleiben. Aus innovationspolitischer Sicht wenig sinnvoll ist es hingegen, die durch regulatorische Sandkästen gewonnenen geistigen Eigentumsrechte weiteren technologischen und gesellschaftlichen Anwendungen zu entziehen. Aus diesem Grund ist es schon im Vorfeld der Einführung von „regulatorischen Sandkästen“ auch im Zusammenhang mit Web 4.0 und virtuellen Welten notwendig, Arbeitnehmer:innen- und Konsument:innen-Vertretungen einzubinden und eine umfassende und unabhängige Begleitevaluierung durchzuführen.

Fazit

Bald schon werden wir also in immersiven 3D-Umgebungen aktiv sein, die die physische und digitale Welt miteinander verbinden und in denen wir arbeiten, lernen, soziale Kontakte pflegen, Transaktionen abwickeln und uns unterhalten können. Die Möglichkeiten sind verheißungsvoll und schier grenzenlos. Doch es warten auch Schattenseiten: Wer sich im Sommer 2023 bereits von der eindrucksvollen internationalen Werbekampagne des Barbie-Movies überfordert fühlte, warte erst einmal Marketingaktionen in den virtuellen Welten ab.

Der strategische Katalog der EU stößt aktuell auch vielfach auf Kritik, zu unklar sollen die Maßnahmen und Empfehlungen sein. Es werde zu stark auf trendige oder neue Begrifflichkeiten gesetzt, die keine echte Relevanz haben. Vor allem Lobbyist:innen von Meta äußern lautstark Kritik. Nota bene: Die Beziehung zwischen Meta und EU ist bereits angeschlagen, denn als das „Metaverse“ im Jahr 2022 seine ersten Gehversuche machte, veranstaltete die EU-Kommission eine virtuelle Party, um insbesondere junge Menschen für die Idee zu begeistern. Die Veranstaltung kostete die EU damals laut „Politico“ fast 400.000 Euro, besucht wurde sie aber nur von einer Handvoll Avataren – die meisten davon Journalist:innen. Das sorgte für medialen Spott und ist vermutlich ein Grund dafür, dass in der nun veröffentlichten Strategie vor allem auf den Begriff „Web 4.0“ gesetzt wird.

Nichtsdestotrotz ist die Strategie zu den virtuellen Welten ein wichtiger Vorstoß zur Steuerung und Gestaltung digitaltechnologischer Entwicklungen. Diese gilt es demokratisch, sicher, vertrauenswürdig und inklusiv auszugestalten. Dafür wird es entscheidend sein, Arbeitnehmer:innen-Vertretungen sowie Konsument:innen- und Datenschutzorganisationen aktiv einzubinden und Digitalisierung als sozialen Prozess zu verstehen und zu steuern.

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